Eduard von Keyserling
Fräulein Rosa Herz
Eduard von Keyserling

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Achtes Kapitel

Beim nächsten Zusammentreffen in der Schule schenkte Fräulein Sally ihrer Freundin keine Beachtung. Sie hatte für Rosa nur flüchtige Mitleidsblicke. Sie tat ihr leid, das arme Geschöpf, das keinen Vetter hatte, mit dem sie sich geistreich necken konnte. Noch wollte sie ihr aber nichts von diesem Vetter erzählen, der Verrat an der Freundschaft mußte bestraft werden. Fräulein Sally ließ sich nur herbei, gegen Marianne Schulz leichthin zu bemerken: »Gott, ich bin müde! Ich habe mich gestern bis spät in die Nacht hinein mit meinem Cousin unterhalten.«

Marianne riß die Augen auf und fragte: »Haben Sie denn einen Cousin?«

Fräulein Sally lachte und stieß ihre Nachbarin mit dem Ellenbogen: »Hören Sie doch! Marianne weiß nicht einmal, daß gestern mein Cousin angekommen ist.«

»Aber Marianne!« meinte die Nachbarin verächtlich.

Allzulange vermochte Fräulein Sally jedoch nicht zu zürnen.

Als Rosa am Nachmittage über den Marktplatz ging, winkte Fräulein Sally ihr freundlich zu und rief: »Rosa, mein Herz! Wohin?«

Rosa trat an das Fenster und berichtete: Zu Hause sei es zu schwül gewesen, darum sei sie spazierengegangen.

Fräulein Sally saß am Fenster und hielt einen Roman in der Hand. Es war noch jemand im Gemach und rauchte. Rosa vermochte ihn nicht deutlich zu sehen, da er seitab vom Fenster stand, sie zweifelte jedoch nicht daran, daß es der Neue sei.

»Kommst du nicht herein, liebe Rosa? Es sitzt sich hier ganz allerliebst.«

Rosa fand ihre Freundin heute ungewöhnlich sanft; auch bemerkte sie an ihr einige feine Handbewegungen, die sie noch nicht kannte. Sie wunderte sich nicht darüber, denn die Zigarette, die im Hintergrunde des Gemaches leuchtete, übte auch auf Rosa ihren Einfluß aus und machte, daß sie manches tat und sagte., was ihr nicht ganz natürlich war.

Rosa wollte der Einladung ihrer Freundin nicht Folge leisten, sie hatte sich vorgenommen, spazierenzugehen, und Sally wußte ja, wenn sie sich etwas vornahm...

»Oh, der kleine Eigensinn!« rief Fräulein Sally. »Aber ich begleite dich, mein Herz.« Leiser fügte sie hinzu: »Vielleicht kommt er mit. Cousin«, sprach sie dann in das Zimmer hinein, »Sie machen wohl auch eine Promenade?«

»Unmöglich«, verlautete die Stimme aus dem Hintergrunde. »Unmöglich – bei dieser Hitze! Sie scherzen, Cousine!«

»Durchaus nicht«, erwiderte Fräulein Sally. »Gott, was die Herren verwöhnt sind!«

»Nicht doch«, rief Ambrosius und trat an das Fenster. »Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, es geht nicht; ich muß ins Geschäft. Sonst – oh!«

Fräulein Sally erhob sich mit einem so ernsten Gesicht als wollte sie ein Vaterunser sprechen, und sagte: »Mein Cousin Tellerat – meine Freundin Rosa Herz.«

»Ah – es freut mich.« Ambrosius verbeugte sich. »Es tut mir leid, die Damen nicht begleiten zu können – in der Tat. Oh, meine Damen, Sie wissen nicht, was das heißt: Geschäfte im August.«

Fräulein Sally drohte neckisch mit dem Finger und hielt es für Trägheit, er aber legte die Hand auf das Herz und beteuerte das Gegenteil.

»Gut, wir gehen also allein. Ich hole meinen Hut.« Mit diesen Worten hüpfte Fräulein Sally davon.

Während ihrer Abwesenheit entspann sich eine höfliche Unterhaltung zwischen Rosa und Ambrosius; sie mit aufmerksam ernstem Gesicht und stetem Erröten, er, die Schulter leicht gegen den Fensterrahmen gelehnt – sehr gerade, mit ausgebogener Taille und beständigem Räuspern, wobei er den Rauch der Zigarette durch die Nasenlöcher trieb, denn, weiß es Gott warum, dieser junge Mann hielt einen beständigen Katarrh für weltmännisch und vornehm.

Sie sprachen über das Städtchen. Ambrosius meinte, es gefalle ihm, es sei nett; nett sei das rechte Wort dafür, worauf Rosa erwiderte, es sei recht freundlich. Ja, er gab das zu, zog jedoch den Ausdruck nett vor. Ein wenig still, wandte Rosa ein, sie fand es sogar zuweilen langweilig. Ein wenig kleinstädtisch, Gott, ja – Ambrosius hatte es nicht anders erwartet. Eine ruhige, gemütliche Geselligkeit war ihm gerade recht. Das bunte Treiben einer großen Stadt wird man auch müde, nicht wahr? Ah gewiß! Zur Erholung war es der rechte Ort. – Rosa verstand das wohl.

Dann kam Fräulein Sally zurück und rief ihrem Vetter scherzhafte Abschiedsworte zu, die dunkel genug waren. Beide lachten jedoch, zum Zeichen, daß sie sich verstanden.

Arm in Arm wanderten die beiden Mädchen dem Stadtgarten zu. Von dem gestrigen Streit war keine Rede mehr, sondern Fräulein Sally begann sogleich den Charakter ihres Vetters zu besprechen. Sie hatte einiges über die Kunstreiterin – denn eine Kunstreiterin war sie, das stand jetzt fest – in Erfahrung gebracht. Sie war der Ansicht, es sei nur eine momentane Verirrung gewesen, die von keinen Folgen sein dürfte.

»Er tut mir leid!« seufzte das gute Mädchen. »Siehst du, er hat ein gutes, sozusagen ein goldenes Herz. Heute morgen versuchte ich den zarten Punkt zu berühren. Du verstehst? Ich wollte andeuten, daß ich um die Sache weiß und ihn verstehe. Er wurde ganz ernst und sagte: ›Das ist vorüber, Cousine Sally.‹ Das klang im höchsten Grade beweglich. Dabei fuhr er sich mit der Hand über die Stirn: Das ist vorüber, Cousine Sally! Ist's nicht rührend?«

»Sehr rührend«, bestätigte Rosa sachverständig.

»Nun«, fuhr Fräulein Sally fort, »da sah ich ihn – so – an.« Fräulein Sally riß die Augen weit auf und sagte ernst: »Weißt du – ganz ernst: ›Ist es auch vorüber?‹«

»Sehr gut!« schaltete Rosa ein.

»Also ist es auch vorüber? Da lächelte er – weißt du – so tief melancholisch und sagte: ›Ja nun, wie eben so etwas vorüber sein kann.‹ Auch sehr gut, nicht wahr?«

»Ja, ja«, meinte Rosa, »er glaubt, solche Wunden heilen nie ganz.«

»Natürlich! – Nun – ich nickte und fragte kurz und sanft: ›Der Name?‹ – Da seufzte er tief und sagte: – ›Rosina.‹ Aber wie er das Wort ›Rosina‹ sagte – das kannst du dir nicht denken.«

»Ich kann es mir denken«, versetzte Rosa gerührt.

»Nein – nein! Das kannst du dir nicht denken! – Rosina – Rosina.« Fräulein Sally legte in diesen Namen alle Andacht, über die sie gebot, daß er wie ein Gebet klang; es war aber doch nicht das Rechte: »Ich kann es dir eben nicht wiedergeben. ›Sprechen wir von etwas anderem‹, sagte er dann. Oh, er ist so sanguinisch, fast leichtfertig. So brach ich denn ab.«

Rosa ward nachdenklich. Dieser Ambrosius mit der Liebe zur schlechten Rosina erschien ihr anziehend. Das hübsche Gesicht, die schwungvollen Bewegungen; gewiß! Er hatte viel Einnehmendes. »Ich wüßte gern mehr hierüber«, sagte sie sinnend.

»Ja!« erwiderte Fräulein Sally und zuckte die Achseln: »Es läßt sich auch nicht alles weitersagen, was er seinen Verwandten anvertraut.« Dabei machte sie eine geheimnisvolle Miene und kniff die Lippen zusammen, um ostentativ zu schweigen.

Ambrosius hatte sich, wie er es den Damen gesagt hatte, in das Geschäft begeben. Dieses war jedoch so unerträglich heiß und voll starker, dumpfer Gerüche, daß es ihn im höchsten Grade verstimmte. Er setzte sich mitten auf den Ladentisch, trommelte mit den Absätzen auf die morschen Bretter und schaukelte träumerisch mit seinem Stöckchen eine Wurst, die über ihm an der Decke hing. Hinter ihm stand Conrad Lurch, maßloses Staunen in den Mienen. Er hatte es nie versucht, sich auf den Ladentisch zu setzen; nie war ihm der Gedanke gekommen, man könne das tun. Sein Kollege beachtete ihn jedoch gar nicht, schaukelte die Wurst, gähnte und starrte auf die trüben Fensterscheiben. Eine große, unklare Mißstimmung hatte sich seiner bemächtigt. Noch war es kein ganzer Tag, daß er sich in der Stellung eines ersten Kommis der Firma Lanin befand, und doch war ihm diese Stellung schon gänzlich zuwider. Er langweilte sich, und Langeweile hielt er für ein Unglück. Ein unüberwindlicher Durst nach lauten, ungeordneten Vergnügungen erfüllte diesen jungen Mann. Von jeher hatte er ohne zu zaudern nach allem gegriffen, was ihn reizte, was nur im Entferntesten einen Genuß versprach. Als sechsjähriger Bube bemächtigte er sich jedes Kuchens, dessen er habhaft werden konnte, war es auch noch so streng verboten. War der Kuchen verzehrt, dann erst gedachte der kleine Ambrosius der Strafe und weinte. Als zwanzigähriger Junge war er ebenso achtlos und gedankenlos seinen Eltern davongelaufen, um einer Kunstreitertruppe zu folgen, nur weil ihm diese Welt der Tressen und Flitter in die Augen stach und weil eine alternde Kunstreiterin für vieles Geld sich herabließ, ihn zu lieben. Um einen Wunsch zu erfüllen konnte er Entschlossenheit und Tatkraft zeigen, wuchsen aber aus seinem Leichtsinne Schwierigkeiten und Mühsal, dann war er ohnmächtig.

Sein weiches, nervöses Gemüt ließ sich von dem geringsten Unfall, von der kleinsten Widerwärtigkeit niederdrücken. Ja, fehlte es seiner Umgebung auch nur an besonderer Heiterkeit, umgab ihn ein gewöhnliches ruhiges Leben, so fühlte er sich schon melancholisch und klagte über Weltschmerz. Der enge Laden, die schwere Luft und die trüben Fensterscheiben waren denn auch nicht geeignet, gegen diesen Weltschmerz anzukämpfen. So versank Ambrosius immer tiefer in sein übellauniges Brüten. Plötzlich ließ sich Lurchs sanfte Stimme vernehmen: »Dieses ist eine Pariser Wurst.«

»Wie?« fuhr Ambrosius auf, der vergessen hatte, daß er nicht allein sei.

»Ich meinte, Herr Tellerat...« wiederholte Lurch. –

»Von Tellerat«, unterbrach ihn Ambrosius. »Von – es ist italienischer Adel; di – heißt es – eigentlich di Tellarda, daraus Tellerardo, und so...«

»So hat sich das herausgebildet«, ergänzte Lurch aufmerksam.

»Natürlich«, entgegnete Ambrosius und begann leise vor sich hin zu pfeifen, bis Lurch wieder das Wort nahm: »Ich meinte vorhin, Herr von Tellerat, daß diese Wurst eine sogenannte Pariser Wurst sei.«

»He, diese?« Ambrosius schlug mit dem Stöckchen auf die Wurst und bemerkte dann: »Hart.«

Lurch folgte mit besorgtem Blick den Schwingungen der Wurst: »Glauben Sie nicht«, fragte er und errötete, »daß es ihr schaden kann, wenn man sie schlägt und schaukelt?«

»Die da?« Ambrosius holte wieder mit dem Stöckchen aus, aber Lurch rief angstvoll: »Schlagen Sie sie nicht! Es kann ihr nicht gut sein.« Er blickte innig zur Wurst auf; er hatte um sie gelitten; die alte, ehrwürdige Wurst, die ganze Familie liebte sie. War sie nicht schon lange im Geschäft? Natürlich kaufte sie niemand; sie war zu gut für das Städtchen. Aber ein großes Geschäft muß eine echte Pariser Wurst haben. Sie repräsentierte die Firma und war fast ein Glied der Familie. Nein, es war Sünde, sie zu schlagen.

Endlich brach Ambrosius sein düsteres Schweigen und bemerkte, daß er noch keinen Kunden im Laden gesehen habe.

»Am Nachmittag kommen sie nicht«, erklärte Lurch. »Am Abend pflegen die Herrschaften die Dienstmägde herzuschicken, um Kerzen, Käse, Petroleum...«

»Hübsche?« unterbrach ihn Ambrosius.

»Je nun, mein Gott! Hübsch sind sie nicht besonders. Eine vielleicht. Ja, die Käthe – die ist hübsch. Oh, ja! Die hat eine hübsche Nase, eine hübsche große Nase.«

»Ah! Aber womit vertreibt man sich hier denn die Zeit? An so etwas denkt hier niemand.«

»Doch«, erwiderte Lurch verlegen, obgleich er es nicht scheinen wollte. »Man unterhält sich hier recht gut. Ich – ja sehen Sie – an den Wochentagen bin ich hier beschäftigt. Aber Samstagabend – dann geh ich aus.«

»Wohin denn?«

»Wir haben nämlich«, Lurch dämpfte seine Stimme, »wir haben nämlich ein Kränzchen.«

»Kränzchen? Was für ein Kränzchen? Es gibt vielerlei Kränzchen!« rief Ambrosius.

»O bitte, sprechen Sie nicht so laut!« flehte Lurch. »Es ist eigentlich ein Geheimnis, obgleich nichts Böses daran ist.«

»Gut, gut! Ich sag's nicht weiter.«

»Also bei Steining, dem Konditor.« Lurch sprach dieses Wort sehr gepflegt und die Anfangssilbe ganz französisch aus. »Dort versammeln wir uns im hintern Zimmer. Kennen Sie dieses Zimmer? Nicht? – Oh, ein wunderbares, einziges Zimmer! So traulich! Grüne Tapeten hat es und einen Kronleuchter. Recht elegant ist es. Alle möglichen Bequemlichkeiten finden Sie dort – drei Spucknäpfe, massiv von Messing.«

»Wer versammelt sich dort?«

»Wir sind unserer sechs. Da ist der Tomascher vom Advokaten Krug, dann Silt, Apfelbaum...«

»Was trinken Sie?«

»Bier, sehr feines Bier.«

»Hm –« warf Ambrosius vornehm und kühl hin, »Sie führen mich dort einmal ein.« – Lurch floß über von Dankbarkeit und Begeisterung: »Sie werden sich gut unterhalten. Gewiß! Es wird Ihnen gefallen. Es geht dort sehr heiter zu. Silt ist ein gar zu witziger Mensch. Sie können sich so etwas gar nicht vorstellen.« Lurch mußte lachen, wenn er nur an Silt dachte: »Auch Apfelbaum wird Ihnen zusagen. Er ist ein wenig wüst, aber er erzählt sehr gut seine Raufereien mit den Metzgerburschen. Oh, und dann Waumer! Ein prächtiger Mensch. Was für Arme der hat! Den Armbrechen zu sehen, ist der höchste Genuß.«

»Gut, gut! Sie führen mich hin. Gott, was fängt man sonst an!« Ambrosius gähnte laut und streckte sich.

»Wir haben auch einen Namen für unser Kränzchen«, fuhr Lurch eifrig fort.

»Nun?«

»Gersten-Saft-Strauß. Ist das nicht einzig? Ein Strauß aus Gerstensaft. Wir sind die Blumen. Das hat sich Silt erdacht; wer wäre sonst darauf gekommen! Köstlich!«

»Allerdings!« meinte Ambrosius. »Originell – hm – allerdings.«

Eine Pause trat ein, die nur zuweilen von einem gewaltsam aufprasselnden Lachen unterbrochen ward, gegen das Lurch vergebens ankämpfte. Rötliche, schräge Sonnenstrahlen drangen durch die Fensterscheiben und fielen auf ein großes Behältnis voll gedörrter Fische, ließen dieselben wie bräunliche Goldbarren erglänzen und legten um die kleinen toten Köpfe winzige Heiligenscheine. Ambrosius fand das poetisch und bemerkte: »Sehen Sie, Lurch, ganz allerliebst –«

»Ja! Strömlinge«, erwiderte Lurch.

Ambrosius zuckte die Achseln. Er fand, daß es seinem Kollegen an Schönheitssinn gebrach, dann sagte er plötzlich: »Und Sally, was halten Sie von Sally?«

Lurch ward verwirrt und murmelte: »Sehr hübsch – gewiß – sehr hübsch –«

»Sie schielt?«

»Nein, o nein!« rief Lurch in großer Aufregung. »Ich habe das nicht bemerkt. Nein, ich glaube es nicht, daß sie schielt. –«

»Hm«, meinte Ambrosius. »Aber die Freundin?«

»Fräulein Rosa?« Bei diesem Namen ward Lurchs armes gelbes Gesicht ganz rot. »Fräulein Rosa ist sehr hübsch – sehr.«

Ambrosius blickte ihn spöttisch an. »Kommt sie zuweilen zu Ihnen?«

»Zuweilen, doch nicht zu mir. Sie besucht Fräulein Sally – dann ist Fräulein Sally zuweilen nicht hier – dann wartet Fräulein Rosa zuweilen im Laden.«

»Verliebt?«

»Nein, Herr von Tellerat! Gott, nein! Sie nimmt wohl hin und wieder einige Korinthen, aber das ist doch nicht Liebe.«

»Ich meinte auch nicht, daß sie Sie liebt –«

Lurch lachte gezwungen. »Das konnten sie natürlich nicht meinen. Nein! Einige Korinthen – weiter ist's nichts.«

Ambrosius dachte nach, und zwar sehr tief, denn er legte sich mit dem Bauch über den Ladentisch und stützte den Kopf in die Hände. Was war es denn mit diesem Mädchen? Es war hübsch, es war blond – und blond mußte nach seiner Ansicht ein Mädchen sein. Sollte er sich verlieben? Wäre Rosa Herz der geeignete Gegenstand? Es wollte ihm so scheinen, und er beschloß, Rosa Herz zu lieben. Er seufzte; das war der Anfang der Liebe; dann richtete er sich auf, schaute Lurch mitleidig an und sagte gefühlvoll: »Ja, hm – ein allerliebstes aschblondes Engelköpfchen.«

Der laute Ton von Kirchenglocken erscholl.

»Was gibt es?« fragte Ambrosius.

»Abendgottesdienst«, erwiderte Lurch. »Heute ist Mittwoch!«

»Ah! Sally wollte hingehen.«

»Ja, Fräulein Sally ist fromm. Überhaupt die ganze Familie ist fromm«, bemerkte Lurch und lächelte.

»Ich gehe auch hin«, beschloß Ambrosius und eilte fort. In der Türe wandte er sich noch einmal um und sagte: »Zum Scherz – wissen Sie.«

Die Kirchenglocken riefen laut und ungeduldig durch die Gassen. Aus allen Häusern strömten Leute hervor – hastig – als fürchteten sie, gescholten zu werden, wenn sie säumten. Sie knüpften ihre Hutbänder oder zogen ihre Handschuhe erst auf der Straße an und eilten der Kirche zu. Nur einige Kommis und Schüler blieben sorglos stehen, rückten ihre Mützen schief, steckten ihre Hände in die Hosentaschen und pfiffen, als wollten sie zeigen, daß sie vom Kirchengehen nichts hielten.

Die Räume der kleinen Kirche waren ganz von Gläubigen erfüllt. Als Ambrosius hineintrat, stimmte die Orgel ein Lied an. Ein Chor dünner Frauenstimmen fiel ein und sandte langgezogene andächtige Noten zur Wölbung auf. Der Altar war mit einer reinlichen weißen Musselindecke und zwei Asternsträußen geschmückt. Über ihm erhob sich ein hohes Ölgemälde, Christus am Kreuz darstellend. Da das Kreuz und der Hintergrund dieselbe Farbe hatten, so machte der dürre gelbe Leib des Erlösers, einsam und tot im Leeren hängend, einen seltsam düsteren Eindruck. Vor dem Altar stand der Pfarrer, eine regungslose schwarze Gestalt.

Ambrosius lehnte an einem Kirchenstuhl und blickte forschend um sich. Neben ihm saß eine alte Dame in einem glänzenden Atlasmantel und mit einem großen Hut, überdeckt von roten Stachelbeeren. Sie sah Ambrosius streng und mißbilligend an, legte ihr Taschentuch auf das Pult des Kirchenstuhls, die Füße auf die Fußbank, rückte an ihrem Sonnenschirm, der an einem Nagel unterhalb des Pultes hing, als wollte sie beweisen, daß sie all diese Vorkehrungen kenne und sich hier sicher und wie zu Hause fühle. – Rosa und Sally saßen nicht weit von Ambrosius nebeneinander. Beide hatten ihn bemerkt. Sally sandte ihm einen langen, ernsten Blick zu, dann warf sie sich in plötzlicher Zerknirschung auf die Knie, barg ihr Gesicht in ihre Hände, verharrte eine Weile in dieser Stellung und richtete sich mit schmerzvoller Miene auf, als habe sie einen argen Seelenkampf bestanden. Rosa benahm sich leichtfertiger. Sie blickte oft zu Ambrosius hinüber, lächelte einmal ganz unverhohlen, strich sich die Löckchen aus der Stirn, beugte sich an das Ohr ihrer Freundin und flüsterte ihr etwas zu, erhielt jedoch nur einen strafenden Blick.

Der Gesang verstummte.

Aller Augen richteten sich auf den Pfarrer, der ruhig dastand und emporblickte. Als er jedoch mit einem lauten »O Herr!« begann, schien es unerwartet zu sein, denn die alte Dame zuckte erschrocken mit den Schultern. Jetzt waren die tiefe Stimme des Geistlichen und ein beständiges Hüsteln, das die Runde durch die Gestühle machte, die einzigen Laute im Raum. Blätterschatten fuhren über den Estrich. Sonnenstrahlen spielten an den Wänden und übergoldeten zuweilen jäh das andächtige, faltige Gesicht einer alten Frau. Ambrosius gab sich willig der ruhigen, behaglichen Stimmung hin, in der all diese Menschen einträchtig beieinandersaßen, wie eine große Familie in einem alten Familienzimmer. Bei seiner Vorliebe für abgegriffene Worte nannte er das »idyllisch«. Eine flüchtige Aufmerksamkeit schenkte er auch der Predigt, die den Gang der zwei Jünger nach Emmaus erörterte. Vielleicht empfand er etwas von der Poesie dieser schönen Erzählung. Das Einhergehen von Zweien auf der nächtlichen Landstraße, das Besprechen der wundersamen Ereignisse, die Begegnung mit dem Erlöser, bei dessen Worten ihre Herzen brennen, das gemeinschaftliche Mahl, endlich – das Fortschaffen einer so betrübenden Tatsache, wie der Tod eines großen und geliebten Freundes ist. All das fand Ambrosius heute »idyllisch«.

Endlich der blonde Mädchenkopf, der leichtfertig in das große Gesangbuch hineinlächelte – der war gewiß »idyllisch«.


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