Eduard von Keyserling
Fräulein Rosa Herz
Eduard von Keyserling

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Viertes Kapitel

Auf die Taufe folgten böse Tage für Ernst und seine Mutter. Die Krämpfe wiederholten sich. Das Kind magerte ab und befand sich in einem besorglichen Zustand der Schwäche. Der Arzt vom Schloß ward herbeigerufen, denn in Tiglau selbst wohnte keiner.

»Wäre das Schloß nicht«, meinte Frau Böhk, »wir Tiglauer könnten alle sterben und noch dazu ohne Gotteswort begraben werden, denn einen eignen Pfarrer und Arzt haben wir nicht.«

Doktor Bartauer war ein junger Mann mit kohlschwarzen krausen Haaren, einem spitzen schwarzen Schnurrbart, roten Wangen und Augen wie brauner Samt; dabei trug er sich nach der neuesten Mode, und seine Finger staken voll goldener Ringe. Mit Frau Böhk stand er auf Neckfuß und nannte sie »Madamchen«, Rosa behandelte er mit süßlicher Höflichkeit: »Für einen so jungen Organismus ist die Zumutung solcher Krämpfe ein wenig zu stark«, sagte er, nachdem er das Kind untersucht hatte und, sich anmutig an der Rücklehne eines Stuhles hin- und herwiegend, Rosa das Resultat dieser Untersuchung mitteilte. »O ja, viel zu stark«, wiederholte Rosa und heftete ihre gespannt flehenden Blicke auf den Arzt. »Ich meine«, fuhr Dr. Bartauer fort und lächelte, wobei die Spitzen seines Schnurrbartes zitterten: »Ich meine, solche Krämpfe müssen einen so jungen Organismus notwendigerweise arg mitnehmen, daher die Schwächeerscheinungen. Vor allem müßten die Krämpfe beseitigt werden. Ich habe da einiges verordnet...«

»Dann werden die Krämpfe nicht mehr wiederkommen?« fragte Rosa und atmete tief auf.

Der Doktor lächelte wieder und zog seine Manschette unter dem Rockärmel hervor. »Ja – das zu wissen«, versetzte er und suchte einen Augenblick nach einer passenden Anrede, dann sagte er entschlossen: »Liebe Dame! Das zu wissen, liebe Dame, vermögen wir Ärzte nicht; das geht über unsere Kunst. Wenn die Natur nicht will, dann sind wir ohnmächtig. Übrigens schaue ich morgen nach. Sie selbst sollten sich auch schonen. Ich empfehle mich bestens.« Er verbeugte sich und ging.

Mutlos fiel Rosa auf einen Stuhl nieder. »Wenn die Natur nicht will! Wie soll ich es denn wissen, ob die Natur will? Was hilft mir die Natur? Er ist ja der Arzt, er muß es doch wissen, der dumme, dumme Mensch!« Sie hatte Tränen in den Augen und machte ein sehr zorniges Gesicht. Zum Klagen jedoch war keine Zeit; das Kind weinte, sie mußte zu ihm.

Rosa ließ die große Sorge gar nicht aufkommen, sondern diente nur unablässig ihrem Kinde, machte sich stets etwas zu schaffen, floh jeden leeren Augenblick. Wenn die Hebamme sie einmal überredete, sich Ruhe zu gönnen, dann brach eine unnennbare Furcht, ein tiefes Mitleid über sie herein, und Mitleid, mit großer Liebe vereint, ist das herzbrechend peinvollste Gefühl. Rosa sah wieder den gequälten Körper des Kindes, das arme entstellte Gesicht vor sich und fuhr bebend auf. Kaum vermochte sie sich in der Dämmerung der Sommernacht zurechtzufinden; dort glomm das bleiche Fünkchen der Nachtlampe, dort stand die Wiege, dort hörte man des Kindes leisen, schnellen Atem, und die schwere Traurigkeit, die Rosas fieberhaften Schlummer bedrückt hatte, hing auch über dem Gemach und war Wirklichkeit. – Rosa mußte sich wieder mit ihren Beschäftigungen betäuben. Nur nicht stillehalten, dennoch – zuweilen versagte ihr Körper ihr den Dienst. Sie wunderte sich über ihre Hände, die so zitterten, daß sie nichts zu halten vermochten, über ihre Beine, die nicht stehen wollten. Sie hätte diese ungehorsamen Glieder schlagen mögen. –

»Heute scheint es besser zu gehen«, sagte die Hebamme eines Abends. »Heute morgen waren die Krämpfe zwar heftig, jetzt aber schläft das Kind ja ganz ruhig. Ich geh zu Bett. Tun Sie das auch. Sollte etwas passieren, so rufen Sie; Grethe schläft nebenan.«

Das Kind war rot im Gesicht, fühlte sich heiß an, schien aber fest zu schlafen, die Wange in das Kissen gedrückt, die winzigen Hände geballt und in das Bettuch gewickelt.

Gut! Rosa beschloß, sich auf ihr Bett zu legen, ohne zu schlafen. Ehe sie sich jedoch dessen versah, entschwand ihr das Bewußtsein, und sie verfiel in einen öden Schlummer, aus dem sie betäubt und gebrochen auffuhr, als hätte sie eine schlechte Tat begangen.

Es mochte ein Uhr morgens sein. Durch die Fensterscheiben sahen das kühle Blau des nächtlichen Himmels und einige blasser werdende Sterne herein, am Wiesenrande dämmerte es weiß. Still und schwül war es im Gemach, die Nachtlampe warf einen engen, trübgelben Lichtkreis um sich herum.

Rosa, die Ellenbogen in die Kissen gestützt, saß auf. Es fröstelte sie, und schwere Müdigkeit lähmte ihr die Glieder. Sie dachte nach; es war ihr, als hätte ihr etwas Böses geträumt, dessen sie sich nicht mehr entsinnen konnte.

Plötzlich drang ein leiser Ton zu ihr; ein Schlucken; es klang, als gösse man Wasser aus einer Flasche mit zu engem Hals in ein Glas. Da war es wieder! Von der Wiege kam der Ton. Hastig sprang Rosa auf. Das Kind lag regungslos da und hielt die Augen offen, so weit offen, wie Rosa es bei ihm bisher nie gesehen hatte. – »Mein Gott!« stöhnte Rosa. Sie ging zur Türe, rief nach Frau Böhk, nahm dann das Kind auf ihre Knie, als sie es anfaßte, wand es sich jedoch hin und her. Die roten Puppenhändchen fuhren hilflos empor, und in der kleinen Brust kochte es. Mit den Füßen stemmte sich das Kind gegen Rosas Arm, und der ganze Körper arbeitete, als wollte er sich aufrichten. Rosa beugte sich tief auf ihr Kind nieder und sah es an. Vor dieser stummen Qual wurde sie mutlos und gedankenlos. Alle Energie ihrer Liebe verließ sie. Sie wartete. Von irgendwoher mußte doch Hilfe kommen! »Gott, es stirbt ja!« sagte jemand neben ihr. Sie schlug die Augen auf, deren Blau ganz dunkel vor Entrüstung und Erregung wurde. Frau Böhk und Grethe standen in der Türe: »Wer sagt es Ihnen, daß es stirbt?« fragte Rosa mit zitternder tiefer Stimme. »Das wird es nicht!« Wie um ihr Kind zu schützen, beugte sie sich wieder auf dasselbe nieder und bedeckte es mit ihren blonden Haaren. »Nein! Niemand soll sagen, daß es stirbt!«

Frau Böhk zuckte verlegen die Achseln: »Ein Bad könnte man versuchen«, meinte sie, »obgleich wohl kaum noch zu helfen sein wird.« Als sie aber das Kind nehmen wollte, keuchte dieses und zuckte zusammen, als fürchte es sich. »Lassen Sie es nur!« rief Rosa heftig und ließ den Vorhang ihrer Haare dichter auf das Kind niederfallen. »Sie glauben ja, daß es stirbt. Gehen Sie, ich will es allein pflegen.« Frau Böhk wich zurück und blieb mit Grethe stumm auf der Türschwelle stehen. Rosa achtete nicht darauf, ganz hingenommen von dem verzweifelten Kampf, den der hilflose Kinderkörper auf ihren Knien kämpfte.

Die Hände des Kindes bewegten sich unsicher und matt, als wollten sie etwas fortschieben, abwehren. An den Mundwinkeln war weißer Schaum, und die Augen flehten angstvoll zu Rosa empor. Was konnte sie tun? Das war die entsetzliche Pein, die ihr das Herz abdrückte, daß sie ohnmächtig vor der bittern Not ihres Kindes stand. Das arme kleine Wesen, das noch keinen Schmerz kannte, wurde ganz allein einem dunkeln, grausamen Etwas gegenübergestellt, mit ihm zu ringen. Das Kleine, das sich vor seinen eigenen Händen fürchtete, sollte einsam den dunkelsten, unheimlichsten Weg gehen, und seine Mutter mußte müßig zusehen, mußte es dem Tode überlassen. Dazu mischte sich in das übermächtige Erbarmen der menschliche egoistische Abscheu vor dem Tode. Rosa hatte es nie gesehen, wie ein Mensch stirbt, und jetzt machte sich eine schmerzliche Neugier geltend. Rosa verfolgte genau jede Bewegung des Kindes, als lese sie in den krampfhaft zuckenden Zügen etwas von dem Geheimnis des Todes, das sie mit schauderndem Erstaunen erfüllte.

Sehr stille war es im Zimmer geworden; nur ein ganz leises Geräusch war hörbar, wie das Prasseln einer Nachtlampe, die verlöschen will. Das war das Röcheln des Kindes. Endlich verstummte auch dieses. Das Kind bewegte seinen Kopf hin und her, wie taumelnd, zuckte mit den Händen, streckte sich und lag bewegungslos da.

Frau Böhk winkte Grethe mit den Wimpern zu, und beide entfernten sich auf den Fußspitzen. Rosa blickte unverwandt den Körper an, der jetzt steif in ihren Armen lag. Was sich eben vollzogen hatte, dachte sie nicht klar; nur die eine Empfindung war in ihr wach: »Das Kind ist nicht mehr da, es ist fort – ist irgendwo verlassen und allein im Finstern, und ich kann nicht zu ihm.« Die Spannung ihres Geistes ließ nach, ihre Glieder wurden lose und weich. Es war ihr, als sänke sie unaufhaltsam in einen Abgrund nieder; sie durfte nicht nachgeben – sie verließ etwas – sie gab etwas auf; und doch – wie konnte sie widerstehen? Es tat ihr wohl. Immer tiefer – finstrer – stiller. Ihr totes Kind in den Armen haltend, den Kopf an die Wand gelehnt, versank Rosa in einen ohnmächtigen Schlummer.


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