Eduard von Keyserling
Fräulein Rosa Herz
Eduard von Keyserling

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Zweites Buch
Leid

Erstes Kapitel

Für die Familie Lanin war es ein schlimmer, niederdrückender Augenblick, als die schönen lederüberzogenen Koffer auf den Postwagen gepackt wurden und Ambrosius, in seinen neumodischen Mantel gehüllt, Abschied nahm. Der Tante küßte er sehr obenhin die Hand und erwiderte ihr sanfternstes »Gott behüte dich« nur mit einem grimmigen »Hm!« Fräulein Sally reichte er kühl zwei Finger und stieg in den Wagen, in dem Herr Lanin mit feierlicher Trauermiene schon seiner harrte.

Sally brannten die Tränen in den Augen. Sie schaute dem Wagen nach, bis er um die Ecke bog, und auch dann noch blieb sie am Fenster stehen und starrte betrübt hinaus. Was half es ihr nun, daß sie keine so gemeine Person war wie Rosa Herz? Was hatte sie davon? Der Cousin, auf den sie sich so gefreut, mit dem sie die besten Absichten gehabt hatte, war ihr vor der Nase weggeschnappt worden, und zwar auf die schändlichste Weise. Ihr blieb nur gesittete Langeweile. Die andern – die Schlechten hatten ihre Liebes- und Entführungsgeschichten. Sally konnte an Rosa nicht ohne ein beklemmendes Neidgefühl denken. Ihr Vater hatte ja vielleicht recht, wenn er sagte, man müsse sich die Achtung vor sich selbst, das Gefühl des eigenen Wertes bewahren. Sally kannte ihren eigenen Wert ganz genau, daß die andern ihn aber nicht erkannten, das war bitter. Sie wollte auch so etwas wie die andern Mädchen haben, um jeden Preis! Sie hätte es auf die Straße hinausrufen mögen. Die Stirn gegen die Fensterscheiben gedrückt, dachte sie nach. Conrad Lurch war entlassen worden, der Vater suchte einen Neuen. Aber – weiß es Gott, wann der kommen würde, und Sally hatte Eile.

Gestern bei Klappekahl war getanzt worden, weil sich, wie der Apotheker sagte, zufällig doch einige junge Leute zusammengefunden hatten, und mit Sally hatte Toddels auffallend häufig getanzt. Gewiß, es war auffallend gewesen, das gab selbst Ernestine zu, und die fand doch sonst nicht so leicht, daß jemand anderer als sie ausgezeichnet wurde. Und dann während der Quadrille hatte Toddels die Augen so seltsam innig verdreht. Er verdrehte zwar immer die Augen, aber doch nicht so stark. Sich verneigend, hatte Toddels gesagt: »Fräulein Sally, Sie kommen nie mehr zu uns ins Geschäft. Sie kaufen nie mehr bei uns.« Worauf Sally, den Kopf auf die Schulter neigend, wie sie das so hübsch verstand, geantwortet hatte: »Nein! Es macht sich nicht so. Ich weiß selbst nicht warum.« – Das war doch keine gewöhnliche Quadrille-Unterhaltung! Dahinter steckte mehr, steckte etwas, das Sally gerade jetzt herbeisehnte.

»Ich gehe zu Toddels ins Geschäft«, beschloß sie.

Sorgsam setzte sie sich vor dem Spiegel den Hut auf, fuhr mit der Hand durch die drallen Löckchen, damit sie ihr freier, lebhafter um die Ohren flatterten, und ihr Gesicht ganz nah an das Spiegelglas heransteckend, musterte sie ihre Haut, ob nicht über Nacht eines der boshaft roten Pünktchen geboren wäre, die sie so sehr haßte. Natürlich, oben an der Nasenwurzel saßen ihrer zwei. »Das ist ein Ekel!« meinte Sally, wandte ihrem Spiegelbilde ärgerlich den Rücken zu und ging hinaus.

Es wehte eine kühle, scharfe Luft. Der Wind jagte gelbe Herbstblätter durch die Gassen. Die strenge Klarheit des Himmels, das harte Licht der Sonnenstrahlen, die heute nicht wärmen wollten, stimmten Sally traurig. Die Welt erschien ihr leerer und ihr eigenes Leben öder als sonst. Ja, ja! Sie mußte etwas für sich tun, oh, der Winter kam mit seinen langen, finstern Nachmittagen voll unerträglicher Langeweile. Der Sekretär ging vorüber und grüßte. Sally dankte, neigte den Kopf, machte einige kleine Bachstelzenschritte. Das tat ihr wohl. Der Gruß, dieses mädchenhafte Verneigen, das gewandte Trippeln gaben ihr ein angenehmes Gefühl ihrer jungfräulichen Reinheit. So schüchtern-zierlich konnte Rosa Herz sicherlich nicht mehr grüßen! Sally fing wieder an, ihrer Tugend froh zu werden.

Das Geschäftslokal des Herrn Paltow lag im tiefsten Frieden da; ein langer, schmaler Raum voller Sonnenschein. Die großen Stücke blauer, grüner, roter Stoffe füllten die Leisten bis zur Decke hinauf wie mit einer Stufenfolge sanftgefärbter Schatten, aus denen hier und da der helle Streif eines Musselins oder Leinenstückes hervorleuchtete. Toddels schlief, den Kopf auf den Ladentisch gestützt.

Verlegen blieb Sally an der Türe stehen. Auch hier, wo sie das schöne Ereignis ihres Lebens suchte, fand sie dieselbe öde, alltägliche Stille, der sie im Laninschen Wohnzimmer entflohen war. Enttäuscht wollte sie umkehren, als Toddels erwachte, sich hastig aufrichtete und ihr, vom Schlaf ein wenig entstellt, zulächelte.

»Oh, Fräulein Lanin! Welch seltene Ehre! Womit kann ich dienen?«

Und die Hand zart an die Lippen legend, gähnte er diskret.

»Ich störe«, sagte Sally und machte einige unschlüssige Schritte zum Ladentisch hin. »Ich wollte nur um einen halben Meter grünes Band bitten.«

»Sie, Fräulein Sally, können nie stören«, erwiderte der Kommis galant und langte eine weiße Schachtel unter dem Ladentisch hervor, öffnete sie jedoch nicht, sondern streichelte sanft den Deckel. »Sie sind recht grausam, Fräulein!« sagte er gefühlvoll.

»Ich? Wieso?« Sally war wieder im rechten Fahrwasser der kurzen, bedeutungsvollen Redensarten, bei denen man den Kopf zur Seite neigt und unter den halb niedergeschlagenen Augenlidern hervorschielt. Das war ihr Fach.

»Ja – grausam«, fuhr Toddels fort und schob sich seine Locken zurecht, die er im Schlaf zerdrückt hatte. »Denn Sie haben es mich gleich empfinden lassen, daß Sie mich schlafend angetroffen.« Sally spielte nachdenklich mit ihrem Portemonnaie; Toddels aber seufzte, sah zur Decke empor – er glaubte, entschuldbar zu sein. Fräulein Lanin verstand ihn vielleicht. Sein Los war nicht glücklich! O nein! Das ewige Einerlei seiner Beschäftigungen ertötete seinen Geist. Er liebte Literatur und Kunst; er schwärmte dafür.

»Besonders Literatur!« schaltete Sally ein und versuchte den Deckel der Schachtel aufzuheben. Toddels' Hand aber lag fest auf ihm, während er selbst auseinandersetzte, wie eng und beschränkt sein Prinzipal sei – voll kleinlicher Schikanen. Wenn Toddels um einige Minuten zu spät ins Geschäft kam, mein Gott – er las die Nächte hindurch –, gleich gab es eine Nase. Der gefühlvolle Märtyrerton, in dem er bisher gesprochen hatte, ging allmählich in das leise, hastige Flüstern eines Untergebenen über, der schlecht von seinem Herrn spricht. Sally nickte mitleidig. Ging es ihr denn besser? Ward sie vielleicht verstanden? Ach, sie begriff es mit jedem Tage mehr, daß das Leben nur ein Possenspiel sei! Ja, Toddels gab ihr recht. Er war auch Pessimist. Er glaubte ans Nirvana. »Und ich glaube an die Liebe«, versetzte Sally und öffnete ihr Portemonnaie. An die Liebe? Oh, an die glaubte er auch; natürlich! Er kniff die Augenlider zusammen und lächelte bei dem süßen Worte. »Ja – ja«, sagte er nach einer kleinen Pause und öffnete müde die Schachtel. »Grünes Band wünschen Sie, Fräulein?«

»Ja, grün ist meine Lieblingsfarbe, die Farbe der Hoffnung«, versetzte Sally und prüfte mit dem Finger das Band in der Schachtel.

»Hoffnung – natürlich!« entgegnete Toddels und befühlte auch seinerseits das Band. So standen sie über die Schachtel gebeugt und wußten nichts rechtes mehr zu sagen.

Endlich ließ Toddels das Band fahren, und er faßte behutsam mit dem dritten und Zeigefinger Sallys kühle, spitze Finger, als nähme er mit einer Zange ein Stück Zucker. Sally überließ steif ihre Finger dieser Zange. Jetzt kam auch für sie die Poesie des Lebens, das fühlte sie wohl. Die Stille des Ladens hatte, ihrem Gefühl nach, etwas köstlich Lüsternes – der Geruch von Wollenstoffen und frischer Pappe stieg ihr angenehm zu Kopf. Sie hätte gewünscht, lange – lange so stehen zu dürfen – über den gelben Ladentisch gebeugt – im Strahl der untergehenden Sonne – ihre Finger gehalten von Toddels' Fingern. Es kam jedoch zu nichts. Toddels ließ Sallys Hand plötzlich fallen und fragte: »Paßt die Breite?«

»Ja, ich denke.«

»Wieviel doch?«

»Einen halben Meter.«

Die Eingangstüre knarrte, und Fräulein Katter trat in den Laden, gefolgt von ihrem Dachs. Toddels war entrüstet – er stützte die geballten Fäuste auf den Tisch, schlug mit den Füßen aus und fragte, so rauh, als es seine Stellung ihm erlaubte: »Sie wünschen?«

Fräulein Katter ging auf diese Frage nicht sogleich ein; freundlich sagte sie: »Guten Abend, Herr Toddels. Sehen Sie doch, wie der Max bei Ihnen herumsucht. Er glaubt, hier muß irgendwo Zucker versteckt sein. Hier ist kein Zucker, Maxchen – mein kleiner, kleiner Hund. Was, Sie hier, Sallychen? Einkaufen – wie?« Sally grüßte in ihrer mädchenhaft zurückhaltenden Weise; Fräulein Katter aber trat nahe zu ihr, legte ihre Hände in den grauen Halbhandschuhen auf Sallys Arm und fragte leise: »Also mit Rosa Herz – ist's wahr?«

»Ja –« Sally zog die Augenbrauen empor, zum Zeichen, daß die ganze Geschichte sie nichts anging. »Wenigstens wurde es gestern auf der Soirée bei Klappekahl erzählt.«

»Schrecklich!« meinte die alte Dame. »Also fortlaufen wollte sie mit ihm. So weit waren sie schon miteinander? Ist so etwas erhört!« Das weiche, gebogene Kinn wackelte zwischen den violetten Hutbändern vor Erregung. »Aber sagen Sie doch, Sallychen – Sie haben ja die Geschichte entdeckt – hör ich?«

»Ja«, sagte Sally kühl. Sie machte sich nichts aus diesem Ruhm.

»So – so. Nun was sahen Sie«, fuhr Fräulein Katter fort. »Geküßt haben sie sich – natürlich, das hab ich schon gehört. Aber hat er sie auch so – angepackt, wissen Sie?«

Sally wußte es nicht. »Ich kümmere mich um diese Dinge nicht.«

»Selbstverständlich! Ein so gut erzogenes junges Mädchen! Aber entsetzlich ist doch die ganze Geschichte. Was wird nun aus der Armen?«

»Wer kann das wissen!« Sally zuckte die Achseln – es war ihr gleichgültig. Sie schielte nach ihrer Nase, um zu sehen, ob diese nicht rot sei – das war ihr wichtiger.

»Der Schank«, meinte die alte Dame, »wird die Geschichte zu Herzen gehen. Ich bin auf dem Weg zu ihr.«

Da Sally sich ostentativ dem grünen Band zuwandte, mußte Fräulein Katter sich zu Toddels bemühen, um von ihm einen Meter Madapolam zu begehren. Sie war sehr genau. Toddels mußte immer wieder die Leiter hinansteigen und neue Stücke herabholen. Er war bleich vor Zorn, schlug mit dem Meterstock klatschend auf die Stoffe und bemerkte streng: »Sehr feine Ware. Einen besseren Stoff wird die Dame schwerlich finden.« Die Dame jedoch konnte sich nicht entscheiden; sie wollte wiederkommen. »Sehr wohl«, rief Toddels erleichtert, bog gewandt und gelenkig um die Ecke des Ladentisches und öffnete Fräulein Katter die Türe.

»Komm, Maxchen, mein kleines Tier. Grüßen Sie Ihre liebe Mutter – Sallychen. Guten Abend, Herr Toddels. Das eine Stück hat mir nicht ganz mißfallen.« Damit war das alte Fräulein fort. Sally schaute sich nicht um. Sie hörte, wie Toddels mit den Füßen scharrte, die Türe schloß – jetzt knarrten seine Stiefel ganz leise. Er stand neben ihr, das fühlte sie. Nun mußte es doch zu etwas kommen. Richtig! Etwas Heißes, Feuchtes berührte ihren Nacken. Das war also ein Kuß – gut! Toddels legte seinen Arm um Sallys schlanke Taille und drückte sie so fest, daß das Mieder krachte. »Ich habe schon oft an die Ehe gedacht. Sie nicht auch?« flüsterte er mit vor Aufregung rauher Stimme.

»An so etwas!« erwiderte Sally, das Gesicht tiefer in die Schachtel steckend.

»Warum nicht?« fuhr Toddels fort, leidenschaftlich in Sallys Halskragen hineinsprechend. »Eine Heirat aus Neigung war immer mein Traum. Was – Fräulein Sally?«

»Ich glaube eben an die Liebe«, sagte Sally fest. Sie hatte es sich längst vorgenommen, im großen Moment ihres Lebens diesen Satz recht häufig anzubringen. Toddels faßte ihn als Ermutigung auf, er berührte mit dem Mittelfinger zart Sallys Hals und hauchte: »Mein holdes Weibchen.«

»Noch nicht!« wandte Sally schelmisch ein. Sie lehnte ihr erhitztes Gesicht an die Brust des Geliebten und blickte ernst zu den Wollenstoffen auf.

»Ha – ha? Noch nicht!« lachte Toddels gepreßt, denn Sally drückte ihm mit ihrem Kopf einen Hemdknopf tief ins Fleisch. »Allerdings! Aber bald. Nicht wahr, mein – mein?«

»Sprechen Sie mit meinem Papa«, die feuchten Blicke aufwärts gerichtet, den Kopf fest an Toddels' Hemdknopf gedrückt, sprach Sally diese Worte langsam und feierlich. Ach, wie hatte sie sich gesehnt, sie sprechen zu dürfen.

»Ja, Fräulein Sally«, meinte Toddels zögernd. »Ich fürchte nur, Herr Lanin wird böse werden. Er ist zuweilen ein wenig kurz mit mir. Vielleicht könnten Sie...«

»Wir werden alle Hindernisse überwinden. Ich glaube, wie gesagt, an die Liebe.«

»Gewiß – gewiß! Ich auch, mein Herzchen. Gut also! Du wirst es deiner Mutter sagen. Wir bleiben uns jedenfalls treu. Schön – abgemacht.« Und nun empfingen Sallys dünne, jungfräuliche Lippen den ersten Liebeskuß, einen sehr lauten Kuß, der süß nach Rosenpomade duftete. »Lebe wohl, meine Braut«, sagte Toddels. »Die Leute gehen schon in den Stadtgarten. Heute ist dort zum letzten Mal im Jahre Musik«, mit diesen Worten schlüpfte er hinter den Ladentisch.

Sally stand mit klopfendem Herzen da und konnte sich nicht entschließen, ihre erste Liebesstunde für geschlossen zu erklären. Sie glaubte noch etwas Schönes, Tiefempfundenes sagen zu müssen, es fiel ihr jedoch nur immer wieder ein, daß sie an die Liebe glaube. Das mochte sie nicht mehr wiederholen,

Toddels hatte unterdessen ein Stück des grünen Bandes abgeschnitten und reichte es seiner Geliebten. »Das Band, das uns verbindet«, fügte er hinzu.

»Und kostet?« fragte Sally lächelnd.

»Einen Kuß«, erwiderte der Kommis mit gespitzten Lippen. Da ward Sally wieder der kleine, neckische Brausewind.

»Setzen Sie den auf die Rechnung«, rief sie und lief mit ganz kleinen Schritten zur Türe.

»Behalte nur das Band, ich zahl es schon«, meinte Toddels. »Grün ist ja die Farbe der Hoffnung.«

»Da haben Sie recht«, erwiderte Sally ernst. Sie fand dieses Abschiedswort wirklich tief. Dann noch eine Kußhand – und sie war fort.

Die Scharen, die zum Stadtgarten strömten, belebten die Straßen. Die scharfe Luft machte alle Mädchenwangen rot und beschleunigte die Schritte. In den geöffneten Ladentüren lehnten Kommis, damit auch etwas von dem heiteren Leben draußen zu ihnen in den dumpfen Ladenraum dringe. Die Fleischerburschen – dort an der Ecke – wickelten ihre nackten Arme in die blutigen Schürzen, pfiffen und stießen sich mit den Schultern.

Sally ging schnell und leichtfüßig dahin. Sie brauchte niemanden mehr zu beneiden und fühlte sich gehoben und glücklich. Hatte sie nicht Liebe und Poesie gesucht? Nun – sie war zu Paltow ins Geschäft gegangen und hatte sie sich geholt. Befriedigt wie nach einem gelungenen Einkauf, wollte sie jetzt ein wenig Musik genießen.

Die lustig plaudernden Spaziergänger nahmen alle ihren Weg über den Marktplatz, am Laninschen Hause vorüber zum Stadtgarten, und alle sprachen von Rosa Herz. Die Schankschen Schülerinnen flüsterten miteinander über den Fall, die Augen verwundert aufgerissen, heimlich kichernd. Die furchtbare Liebes- und Entführungsgeschichte gehörte ja ihnen, hatte sich fast in der Schulstube abgespielt. Die Herren vom Gerstensaft-Strauß stellten sich mitten auf den Marktplatz – die Hände in den Hosentaschen, die Zigaretten im Mundwinkel – und scherzten über den Vorgang. Der Tellerat war ihr Bekannter, ein fixer Kerl, der Tellerat! Sie lachten mit aufgeblasenen Backen und wandten sich nach den Vorübergehenden um, stolz auf ihre eigene Munterkeit.

Frau Lanin stand vor ihrer Haustüre und sprach mit der Gewürzkrämerin von nebenan, einer kleinen hageren Frau mit rotgeränderten Augen, die immer Trauer und nie einen Halskragen trug. Nur durch die halbgeöffnete Türe verkehrte Frau Lanin mit der Witwe Tanke, denn diese gehörte nicht zur guten Gesellschaft. Sie wußte aber alles, was vorging, und besaß eine so klare, unumwundene Art, sich auszudrücken, einem jeden jedes zuzutrauen, daß Frau Lanin oft solch ein Plauderstündchen an der Haustüre veranlaßte. Heute konnte Frau Tanke genaue Nachrichten über die jüngsten Ereignisse geben. Sie hatte den Juden, Ida, die Jüdin ausgefragt. Sie wußte, daß die Trödlerwohnung für Rosa geschmückt worden war, wußte, wann Rosa zu kommen, wann sie zu gehen pflegte.

Klappekahl und Dr. Holte unterhielten sich auch über Rosa, während sie langsam nebeneinander hergingen. Der Doktor hatte alles vorhergesehen, alles, »vermittelst einer physischen Diagnose – verstehen Sie«. Klappekahl hatte hundert ähnliche Fälle erlebt – in der Großstadt natürlich. »Aber sie sieht brillant aus, die Rosette«, wiederholte er immer wieder und leckte sich die Lippen.

Wenn die Leute an der Herzschen Wohnung vorübergingen, blieben sie einen Augenblick stehen, schauten zu dem geöffneten Fenster des zweiten Stockes empor – und dort oben, zwischen den weißen Vorhängen, zwischen den Geraniumstauden, schimmerte es wie das Stück eines blonden Zopfes hervor. Einer zeigte es dem anderen. »Das ist sie.« – »Sie irren, das ist nur der Widerschein der Sonne.« – »Nein doch! Ich seh es zu genau. Es bewegt sich ja. Sie ist es, wenn ich's Ihnen sage.«

Sally aber konnte jetzt zu dem blonden Gegenstande zwischen den Geraniumblättern mit ungemischter Verachtung hinaufblicken.


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