Eduard von Keyserling
Abendliche Häuser
Eduard von Keyserling

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Sechzehntes Kapitel

Fastrade konnte nicht schlafen, sie lag in ihrem Bette und horchte hinaus auf die Töne, die in der nächtlichen Stille durch das Haus irrten, das leise Knacken der Parkette, das Schlagen der Uhren. In einem Neste am Fenstersims zwitscherten die Schwalben leise im Traume. Und die Gedanken wurden eigensinnig bohrend, wie sie es in schlaflosen Nächten zu werden pflegen. Alles, an das sie sich hängten, bekam ein drohendes und feindseliges Gesicht, das Leben schien sehr gefährlich und tückisch, und mitten in ihm stand Dietz Egloff mit seinem leichtsinnigen und hochmütigen Lächeln, und doch lauerten gerade alle Gefahr und alle Feindseligkeit auf ihn. Eine große Angst ergriff Fastrade, eine Angst, wie sie nur in dunkler Nacht und im Traume uns beschleicht und uns atemlos in unseren Kissen auffahren läßt. Gegen Morgen schlief sie ein, allein bald erwachte sie wieder von einem Ton an ihren Fensterscheiben. Sie lauschte, da war er wieder, es war ihr, als würfe jemand etwas gegen ihr Fenster. Sie sprang aus dem Bette, eilte zum Fenster und öffnete es. Es war noch vor Sonnenaufgang, der Garten jedoch war schon ganz hell, und dort vor einem Beete roter Tulpen stand eine Gestalt im grauen Mantel und grauen Schleier, Lydia Dachhausen. Fastrade verstand nicht, aber da winkte Lydia mit ihrem Sonnenschirm und begann zu sprechen. »Ja, ich bin es, o bitte, kommen Sie zu mir herunter, ich muß Sie sprechen, es ist seinetwegen.«

»Gut, ich komme«, rief Fastrade hinunter. Nach den Ängsten der Nacht erschien es ihr wie selbstverständlich, daß sie Dietz Egloff meinte und daß er in Gefahr sei. Schnell hüllte sie sich in ihren elfenbeinfarbenen Morgenrock, warf einen Schal um, ging leise durch das schlafende Haus auf die Veranda hinaus und stieg in den Garten hinunter.

Lydia hatte sich auf eine Bank gesetzt, die Hände im Schoße gefaltet, den Oberkörper ein wenig vorgebeugt, starrte sie mit den Augen, die wie feuchte Edelsteine glänzten, Fastrade angstvoll entgegen. Fastrade blieb vor der Bank stehen. »Was ist geschehen?« fragte sie leise. Lydia begann zu weinen: »Ach Gott, es ist so viel Schreckliches geschehen«, erwiderte sie, »aber das ist ja gleich, deshalb wäre ich nicht zu Ihnen gekommen, aber ihm soll nichts geschehen. Mein Mann wird ihn sicher töten, und das will ich nicht, nur das nicht! Und Sie können ihn retten, Ihnen gehorcht er, Ihnen glaubt er, Sie kennen ja auch die schrecklichen Gesetze der Herren hier. Ich, was kann ich tun?«

Fastrade war sehr bleich geworden, und sie stützte sich mit einer Hand auf die Rücklehne der Bank: »Ihr Mann will Dietz Egloff töten, warum?« fragte sie.

Lydia rang ihre kleinen sorgsam in lichtgraue Handschuhe geknöpften Hände ineinander und sah flehend zu Fastrade auf: »Wie soll ich Ihnen all die entsetzlichen Dinge erzählen«, rief sie, »aber Fritz wird ihn sicherlich töten. Ich fahre zu meiner Mutter, mein Wagen steht dort vor dem Tore, Fritz – ja, Fritz hat mich aus dem Hause gewiesen, aber was liegt an mir. Sie werden ihm verzeihen, Sie werden ihn retten, ich will nicht, daß er um meinetwillen stirbt. Mein Gott, verstehen Sie doch!«

Fastrade hatte verstanden; sie errötete, ihre Augen waren weit offen, eine große Qual und zugleich etwas Hartes und Gewaltsames sprach aus ihnen, die Hand auf der Rücklehne der Bank zitterte, am liebsten hätte sie dieses kleine, bleiche Puppengesicht, das zu ihr aufschaute, geschlagen. »Jetzt sind Sie böse«, klagte Lydia, »und auf mich können Sie böse sein, aber ihn müssen Sie retten, ich kann ja nichts tun. Ich glaubte, wenn ich tot wäre, dann brauchte Fritz ihn nicht zu töten. Ich habe auch ein Fläschchen Opium, aber ich kann nicht, ich kann nicht sterben, ich habe so furchtbare Angst.« Sie bedeckte ihr Gesicht mit den Händen, wiegte sich hin und her und jammerte leise vor sich hin. Fastrade war wieder ruhig geworden, sie schaute auf Lydia mit einer seltsamen Mischung von Mitleid und Ekel nieder wie auf ein kleines wimmerndes Tier, dann setzte sie sich zu ihr auf die Bank, legte ihre Hand auf Lydias ruhelose Hände und sprach zu ihr wie zu einem Kinde. »Sie brauchen nicht zu sterben, das verlangt keiner von Ihnen, Sie müssen sich jetzt beruhigen, ich kann da nicht helfen, die Männer haben ihre Gesetze, das muß getragen werden. Aber, es muß ja nicht immer das Schrecklichste geschehen, und dann wird er Ihnen ja beistehen, Sie schützen, er hat ja Ihr Leben zerstört, er kann Sie nicht verlassen.« Fastradens Stimme begann zu zittern und dann zu versagen.

»Glauben Sie das?« fragte Lydia, und das bleiche Gesicht begann sich zu beleben, und es war fast ein Lächeln, das um ihre Lippen zuckte. Fastrade zog ihre Hand von Lydias Hand zurück und rückte auf der Bank ein wenig von ihr ab. Es lag so viel Widerwillen in dieser Bewegung, daß Lydia gleich wieder ein erschrockenes Gesicht machte und zu weinen begann.

»Sie müssen jetzt fahren«, sagte Fastrade, »wenn Sie zu Ihrem Zuge zurechtkommen wollen.« Gehorsam stand Lydia auf, »ja, ich will fahren«, meinte sie, »wie gut Sie sind«; und sie beugte sich über Fastradens Hand, um sie zu küssen, Fastrade jedoch entzog sie ihr so heftig, daß Lydia befangen und eingeschüchtert einen Augenblick dastand: »Ja, dann adieu«, sagte sie leise und ging, ging mit den kleinen, leichten Rebhuhnschritten an den Blumenbeeten entlang dem Parktore zu.

Fastrade hatte sich auch von der Bank erhoben und machte einige Schritte, vor dem Tulpenbeete aber blieb sie stehen, ließ die Arme schlaff niederhängen, als fehlte ihr der Mut zu jeder Bewegung. Die Sonne ging auf, der Tau, der grau auf Rasen und Blumen gelegen hatte, sprühte Funken. In der dunklen Fassade des Schlosses leuchteten die Fenster rosenfarben auf, als beginne es hinter ihren Scheiben zu blühen, und rosenfarbenes Licht lag jetzt über dem ganzen Garten; es beschien die weiße Gestalt am roten Tulpenbeete, das bleiche Gesicht, die lang niederhängenden, blonden Zöpfe. Mit weit offenen, tränenlosen Augen sah Fastrade in die aufgehende Sonne; weinen konnte sie nicht, aber sie hätte schreien mögen, einen jener Schreie, wie ihn ein wild oder ein Vogel in der Waldesstille erhebt und der das ganze Land zum Zeugen seines Schmerzes aufruft.

Dieser Tag erschien Fastrade sehr lang, ein Padurenscher Sommertag mit seinen kleinen Beschäftigungen, dem Sitzen neben dem Lehnsessel des Vaters, den Mahlzeiten, mit gelbem Sonnenschein in der stillen Zimmerflucht, den Gesprächen mit Tante Arabella und den Gängen durch den Garten, von dem sie, die Hände voll weißer Narzissen, heimkehrte, die in die Vasen geordnet werden sollten. Fastrade war bleich und ruhig, ein Entschluß drängte alle Gedanken und Gefühle in den Hintergrund, wo sie still darauf lauerten, daß die Bahn für sie wieder frei werde.

Gegen Abend ließ sie den Braunen satteln und ritt in Begleitung des Stallknechts in den Wald. Es war kurz vor Sonnenuntergang, überall wurde das Vieh heimgetrieben, die Hüter sangen laut, aus den Schornsteinen der Katen stieg der Rauch der Abendsuppe auf und wurde rotgolden im Abendscheine. Eine behagliche Heiterkeit klang durch diese letzte Abendstunde. Fastrade trieb ihr Pferd an, sie hatte Eile, ans Ziel zu kommen. Im Walde vor der Auerhahnhütte stieg sie ab, übergab ihr Pferd dem Stallknecht und ging in die Hütte. Durch das geöffnete Fenster fiel der Abendschein voll in den kleinen Raum und vergoldete ihn über und über. In den letzten Sonnenstrahlen tanzten die Mücken wie blonder Staub, auf die kleine Waldwiese vor der Hütte waren schon Rehe ausgetreten und ästen knietief im rotgoldenen Grase. Es war sehr ruhevoll, allein Fastrade ließ diesen Frieden, ließ auch die Erinnerungen, die hier wohnten, nicht an sich heran. Schmal und aufrecht in ihrem blauen Reitkleide stand sie mitten in dem Zimmer und dachte an ihre Aufgabe. Sie hatte Dietz Egloff hierherbestellt, um ihm zu sagen, daß sie voneinandergehen mußten, und sie wollte, daß er auch verstehe, warum. Jetzt hörte sie draußen Schritte, und gleich darauf trat Egloff ein. »Guten Abend«, sagte er. »Guten Abend«, erwiderte Fastrade und reichte ihm ihre Hand, die er höflich küßte. Sie sah sofort, daß er befangen war, und das rührte sie. Sie begann zu sprechen – schnell, atemlos, als fürchtete sie, den Mut zu verlieren, wenn sie zögerte. »Ich habe dich gebeten herzukommen, ich wollte nicht so still von dir gehen, ich glaubte, es passe für uns beide nicht, uns zu trennen, ohne daß es klar zwischen uns sei, und so – so kam ich.«

Eine leichte Röte stieg in Egloffs Gesicht auf, er wandte sich ab, nahm einen Stuhl und schob ihn Fastrade hin. Als sie sich gesetzt hatte, setzte auch er sich auf die Holzbank. Er sah Fastrade nicht an, sondern schaute auf die Reitgerte nieder, mit der er spielte. »Das ist ja gewiß sehr korrekt«, sagte er langsam, »das muß natürlich so sein, und ich hätte es nicht anders erwarten können. Ich habe es ja auch gewußt, daß es so kommen mußte. Ein Skandal darf in die Nähe von Fastrade von der Warthe nicht kommen, das ist denn alles ganz ordnungsmäßig. Da sind alle dummen Erinnerungen nicht am Platz. Wenn ich daran denke, wie du hier an der Türe standest und von Helfen und Beistehen sprächest, so gehört das wohl nicht hierher.«

»Doch, es gehört hierher«, rief Fastrade leidenschaftlich, »wenn du krank wärest oder arm oder von allen verlassen, dann würde ich bei dir stehen, das wäre der einzige Platz auf der Welt, der mir zukäme, aber ich müßte ein Recht darauf haben, du müßtest zu mir gehören. Nun aber gehörst du nicht mehr zu mir.«

Egloff schaute auf, seine Augen wurden dunkel und böse: »Gehöre ich zu Lydia Dachhausen?« fragte er.

»Sie war heute morgen bei mir«, fuhr Fastrade fort, »sie weiß dich in Gefahr, sie glaubte, ich könnte etwas tun, um dich zu retten. Das tut nur eine Frau, die ein Recht auf dich hat.«

Egloff zuckte leicht mit den Schultern: »Ich bin nicht so freigebig damit, das Recht auf mich zu vergeben; diese kleine Frau, die sich an mich hängt, ist ein Abenteuer, eine Gelegenheit, eine Sünde, alles – nur kein Schicksal. Lydia Dachhausen zählt nicht, daß du das nicht verstehst! Daß du an der nicht vorüber kannst!«

Fastrade schüttelte den Kopf. »Nein, das werde ich nie verstehen, daß eine Frau, die dir zuliebe ihr ganzes Leben zerbricht, nicht zählt, an der kann ich nie vorüber, es würde mir sein, als ob ich auf etwas Lebendes träte.«

Die Sonne war untergegangen, und in dem kleinen Zimmer dämmerte es, von der Wiese und den großen Tannen wehte Kühlung herein; eine Fledermaus hatte sich durch das Fenster in das Zimmer hinein verirrt und zog unter der niedrigen Decke unablässig ihre Kreise, zuweilen leise mit den Flügeln an die Wände streifend. Egloff hatte eine Weile geschwiegen, nun sprach er, und es klang verhalten und dumpf, als müßte er seine Stimme zur Ruhe zwingen: »So habt ihr es immer hier gemacht auf den Schlössern, Großmut, Mitleid, Stolz, Ehrlichkeit, all solche Dinge mußten in die Liebe hinein, Dinge, die nichts mit der Liebe zu tun haben, an denen sie erstickt. Lydia weiß von diesen Dingen nichts, die kommt an jeder vorüber.«

»Das einzige Recht der armen Lydia ist das Recht auf dich«, erwiderte Fastrade ein wenig feierlich, »und wenn ich noch etwas wünschen, wenn mich noch etwas freuen könnte, so wäre es, daß du sie beschützest und sie nicht verlässest.«

»Oh, ich kenne das«, unterbrach Egloff sie heftig, »immer wolltest du mich mit deiner Tugend anputzen, damit deine Liebe sich vor sich selbst entschuldigen konnte, daß sie an einen solchen Gesellen geraten war. Aber es ist umsonst, ich fürchte, sie hatte keine Entschuldigung.«

»Ach, lassen wir sie«, sagte Fastrade müde, »sie hat keinem helfen können, sie zählt nicht mehr.«

Leise und als spräche er zu sich selbst, murmelte Egloff: »Zählt nicht – na, sie wäre noch das einzige gewesen, was in dieser verdammten Welt hätte zählen können.« Es war so finster geworden, daß sie einander nicht mehr deutlich sehen konnten. Über ihnen war noch immer das unermüdliche leise Rauschen der kleinen Flügel hörbar, plötzlich hatte die Fledermaus den Ausgang durch das offene Fenster gefunden, sie stieß einen schrillen Laut aus und flatterte in die Dunkelheit des Waldes hinaus.

»Ich muß jetzt gehen«, sagte Fastrade, »lebe wohl, Dietz.« Sie reichte ihm ihre Hand, und er drückte sie schweigend. Fastrade wandte sich dem Tische zu, auf dem ihre Handschuhe und Reitgerte lagen, sie blieb dort einen Augenblick stehen, und der leise, helle Ton fallenden Goldes wurde vernehmbar. Sie hatte den Ring, den Egloff ihr gegeben, vom Finger gestreift und auf den Tisch fallen lassen, dann ging sie hinaus.

Zu Hause erfuhr sie von Christoph, daß der Baron Port eben da gewesen und fortgefahren sei. Während sie sich in ihrem Zimmer umkleidete, dachte sie: So muß es ja kommen, jetzt ist die Geschichte von Lydia, Dietz und mir zu allen Schlössern unterwegs.

Fastrade ging zu ihrem Vater hinüber. Der Baron und die Baronesse Arabella saßen nebeneinander auf dem Sofa, und die bleichen Gesichter schauten gespannt zur Türe hin. »Guten Abend«, sagte Fastrade, als sie eintrat. »Guten Abend, mein Kind«, erwiderte der Baron feierlich, »setze dich.« Fastrade setzte sich, faltete die Hände im Schoß, sah vor sich hin in das Licht der Lampe und wartete. Der Baron schaute seine Schwester an, diese nickte kummervoll, da trocknete er seine Lippen mit dem Taschentuche, räusperte sich und sprach offenbar mit Anstrengung: »Port war hier, er hat mit deiner Tante gesprochen, nun ja, und deine Tante hat mit mir gesprochen. Er hat da Dinge erzählt, die uns viel Kummer bereiten.« Er hielt inne und sah Fastrade erwartungsvoll an. Diese regte sich nicht, sie schaute noch immer wie abwesend in die Lampe, aber sie sagte ruhig und deutlich: »Ich habe eben meine Verlobung mit Dietz Egloff gelöst.« Wieder sahen die beiden alten Leute einander an, die Baronesse lächelte sogar kaum merklich, und der Baron nickte. »So, so«, meinte er, und das Reden wurde ihm leichter, »nun ja, ich habe von meiner Tochter nichts anderes erwartet. Ich erinnere mich zwar nicht, daß hier in Paduren eine Warthe schon einmal ihre Verlobung aufgelöst hätte, das ist für die Familie auch immer unangenehm, aber unter diesen Umständen bleibt uns wohl nichts anderes übrig. Hättest du beizeiten meine Warnungen gehört, so wäre uns viel Kummer erspart worden. Aber lassen wir das jetzt, dieser junge Mann ist erledigt.« Und er fuhr mit der Hand von oben nach unten durch die Luft, wie er es in solchen Fällen zu tun liebte. Fastrade wollte auffahren, wollte gegen diese bleiche Greisenhand protestieren, die über Dietz Egloff den Sargdeckel zuzuschlagen schien, aber sie schwieg. »Nun und du wirst bald darüber hinwegkommen«, fuhr der Baron heiterer fort: »Du hast deine Heimat, deinen Wirkungskreis, wir sind ja hier recht gemütlich beisammen, wer kann uns etwas vorwerfen, wer kann uns etwas tun, nun also.« Die Baronesse Arabella stand auf, ging zu Fastrade und küßte sie auf die Stirn, der Baron legte seine Hand auf Fastradens Hände, sie aber richtete sich auf, als täten diese Liebkosungen ihr wehe. »Sollen wir nicht lesen?« sagte sie und griff nach Saint-Simons Memoiren. »Nun ja«, erwiderte der Baron, »dem steht jetzt wohl nichts im Wege.« – »Lest, lest«, meinte die Baronesse; ihr tränenfeuchtes Gesicht lächelte; »ich bringe euch Orangen, es ist eben eine neue Sendung angekommen.«


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