Eduard von Keyserling
Abendliche Häuser
Eduard von Keyserling

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Siebentes Kapitel

Es war am Morgen beim Frühstück, daß die Baronesse Arabella die greisen Augenbrauen besorgt in die Höhe zog und zu Fastrade sagte: »Ich habe die ganze Nacht nicht schlafen können, der Gedanke, daß du heute nachmittag in den Wald fahren wirst dieser Grenze wegen, ließ mir keine Ruhe. So geht das nicht. Früher hätte dein Vater das nie gestattet. Ich mit meiner Erkältung kann dich nicht begleiten, Ruhke zählt nicht, und da sollst du nun mit diesem verrufenen jungen Manne zusammentreffen.«

»Verrufen?« fragte Fastrade. »Ist er denn wirklich verrufen?« Und sie lächelte dabei ein wenig verachtungsvoll.

»Nun ja«, fuhr die Baronesse erregt fort, »einen guten Ruf hat er nicht, man hört doch allerhand. Jedenfalls ein guter Mensch ist er nicht.«

»So war es hier immer«, versetzte Fastrade, »den Menschen wurden die Etiketten ganz schnell aufgeklebt, und dann hieß es: Dieser ist ein schlechter Mensch, und er wird ein für allemal in den Giftschrank gestellt.« Fastrade wunderte sich selbst über die Schärfe ihrer Worte, und die eingefallenen Wangen der Baronesse röteten sich leicht. »Ich, liebes Kind«, sagte sie, »habe ihm seinen bösen Ruf nicht gemacht, jedenfalls schickt es sich nicht, daß du allein dort bist, ich schreibe an Gertrud Port und bitte sie, sich auch dort einzufinden, dann seid ihr wenigstens zu zweit.«

»Ach ja«, meinte Fastrade, »ich hatte vergessen, daß ich wieder das wohlbehütete Mädchen bin, das verteidigt werden muß und bewacht und beschützt, auf das überall Gefahren lauern.«

»Wie das in der großen Welt ist«, erwiderte die Baronesse streng, »weiß ich nicht, hier haben wir unsere Gesetze, und da schickt sich so was nicht. Ich schreibe an Gertrud Port.«

Am Nachmittag kutschte Mahling Fastrade in den Wald, Ruhke fuhr hinterher, den Schlitten voller Karten. Es war ein frostiger heller Wintertag, Mahling vermochte den großen Braunen kaum zu halten, das Hinsausen auf dem glatten Wege machte dem Tiere zu großes Vergnügen. Fastrade, fest in ihre Winterjacke eingeknöpft, die Otterfellmütze in die Stirn gedrückt, empfand das leichte Brennen der Frostluft auf den Wangen, das Blitzen der Nachmittagssonne auf dem Schnee, die schnelle Bewegung der Fahrt wie etwas, das ihr Blut köstlich aufpeitschte. Sie hatte sich kindisch auf diese Ausfahrt gefreut, die Tage zu Hause waren ja so ereignislos, daß man kaum merkte, daß man lebte. Hier mitten in diesem Blitzen und Wehen war es einfach unmöglich, daran zu glauben, daß es so etwas gab wie die Couchon an ihrem Kartentisch. Jetzt bogen sie in einen Waldweg ein, es ging unter schwer verschneiten Tannen hin, lange weiße Korridore entlang, es roch stark nach Schnee und Harz, und überall funkelte und knisterte es, als ginge die Fahrt durch eine Welt von weißem Brokat. Auf der Anhöhe standen die alten Föhren steif und grell gegen einen rein blauen Himmel. Als sie die Anhöhe umfahren hatten, arbeiteten sie sich auf einer kurzen Strecke einen engen Weg durch die junge Tannenschonung hindurch, dann hielten sie. Vor ihnen lag ein Platz, der voll Menschen und Pferden war. Große Balken wurden auf Schlitten gebunden, struppige Pferde mit bereiften Mähnen wurden mit lauten Zurufen angetrieben, überall standen Männer, graue vermummte Gestalten mit großen Pelzmützen und rotgefrorenen Nasen. Und mitten unter ihnen schlenderte Egloff umher, die Pelzmütze im Nacken, die Hände in den Taschen seines kurzen Jagdpelzes, sehr schmächtig unter all den plumpen Gestalten und anscheinend sehr sorglos und müßig hier mitten unter der lauten angestrengten Arbeit. Als er Fastradens Schlitten erblickte, kam er heran, grüßte: »Ah, unsere Geschäftsgenossen«, rief er und lachte offenbar nur, weil er sich freute. Er half Fastraden aus dem Schlitten: »Sehen Sie«, sagte er, »dies hier nun ist mein Reich. Häßlich? Was?«

»Ja«, sagte Fastrade, »das ist häßlich.«

»Das fühle ich gewiß am meisten«, fuhr Egloff fort, »es ist sogar widerwärtig, schmutzig. Sehen Sie den dort.« Er wies auf einen Herrn im städtischen Pelzpaletot, der mitten unter den Arbeitern stand, ein Notizbuch in der Hand, er schien sehr zu frieren, sein Gesicht war blaurot, der rote Bart bereift, aber die grellbraunen Augen verfolgten mit einer ruhigen, kalten Wachsamkeit, was ringsumher vorging.

»Das ist Herr Mehrenstein«, sagte Egloff, »soll ich ihn Ihnen vorstellen?«

»O nein«, erwiderte Fastrade, »der ist doch der Feind.« Egloff lachte: »Sehr wohl, Mehrenstein ist der Feind, wo Mehrenstein erscheint, da wird aus einem Wald ein Zahltisch. Wie böses Ungeziefer frißt sein Geld den Wald auf. Ich kann mir denken, daß ein Grauen die Bäume schüttelt, wenn Mehrenstein durch einen Wald geht.«

Unwillkürlich schaute Fastrade zurück auf die Föhren des Padurenschen Waldes. Egloff lachte: »Sie sehen Ihre Föhren an«, sagte er. »Oh, die fürchten sich nicht«, erwiderte Fastrade. »Ich weiß nicht«, meinte Egloff, »wo Mehrenstein erscheint, ist keine Sicherheit. Allerdings die da oben sehen heute verdammt vornehm auf meinen Marktplatz herunter, sie haben sich alle ganz frische Wäsche angezogen und hauchen ordentlich eisig kalt ihre Verachtung auf alle uns dreckige Arbeitsmenschen nieder. Übrigens steht Herr Ruhke dort, wir müssen sehen, ob ich Ihrem Walde nicht zu nahe getreten bin. Für Sie ist der Schnee dort zu tief.«

»Wozu bin ich aber hier?« wandte Fastrade ein.

»Um die Sache zu heiligen«, erwiderte Egloff, »und das geschieht ebenso gut, wenn Sie hier auf uns warten.« Damit ging er zu Ruhke hinüber, und beide verschwanden im Dickicht.

Fastrade setzte sich auf einen Baumstamm, vor ihr luden die Leute einen großen Balken auf kleine Schlitten, banden ihn fest, trieben die Pferde mit Geschrei an, Herr Mehrenstein trat hinzu, klopfte mit dem silbernen Bleistift auf den Balken und schrieb etwas in sein Notizbuch. Wie eine magische Formel sah das aus, durch die das, was einst ein Baum gewesen, endgültig tote Sache wurde. Mitten auf dem Platze brannte ein Feuer aus trockenem Reisig, große Rauchwolken erhoben sich dort und breiteten einen rußigen Schleier über den ganzen Platz. Graue bereifte Gestalten standen um das Feuer, streckten ihre frierenden Hände aus, um sich zu wärmen, und sprachen so laut, als wären sie weit voneinander entfernt.

Ob er es weiß, daß er verrufen ist, dachte Fastrade, und ob ihn das schmerzt, aber dann würde er nicht dieses leichtsinnige Lächeln haben.

Auf dem kleinen Wege am Waldrande erschien jetzt ein Schlitten, Gertrud grüßte schon von weitem, dann sprang sie heraus und kam über den glatten Schnee mit unsicheren Schritten auf Fastrade zu. Sie hatte sich schön angezogen, trug ein dunkelrotes Pelzjackett, ein Pelzbarett und lachte über das ganze Gesicht.

»Oh, wie ist das hier schön, Fastrade«, rief sie, »wie habe ich mich gefreut, als der Brief kam. Ich komme etwas spät, du weißt, ich mußte warten, bis der Papa zu seinem Mittagsschlaf verschwunden war, sonst hätte es natürlich Fragen und Einwendungen gegeben. Ach und der Wald, das reine Ballkleid. Und er, wo ist er?« Sie hielt inne und schöpfte tief Atem wie jemand, der einen zu schnellen Trunk getan hat.

»Die Tante wollte, du sollst kommen, mich beschützen«, sagte Fastrade und sah das bunte erregte Figürchen lächelnd und ein wenig mitleidig an. Gertrud setzte sich auf einen Baumstamm und wurde ernst: »Das ist auch gut«, sagte sie, »ist er heute sehr dämonisch?«, und da Fastrade nicht antwortete, fuhr sie fort: »Der Papa sagte, er wird noch seinen ganzen Wald verspielen.«

»Das ist seine Sache«, erwiderte Fastrade ungeduldig.

»Nun ja«, versetzte Gertrud, »ich gehöre eigentlich auch zu seiner Partei. Ach, es war aber gerade eine Stimmung zu Hause, so grau, so grau! Ich hatte das Gefühl, als klebten mir Spinnweben an allen Fingern. Da kam der gesegnete Brief, jetzt ist alles gut, gleich wird die Sonne untergehen, es kommt schon rot durch die Padurenschen Bäume gekrochen.« Sie sprang auf, sang eine laute helle Notenfolge vor sich hin und begann auf dem von den Schlitten glattgefahrenen Schnee hin- und herzugleiten.

Auf dem Platze schickten die Leute sich an, ihre Arbeit einzustellen, erregt liefen sie durcheinander, suchten ihre Sachen zusammen, jetzt hörte man den einen oder anderen rauh lachen, sie warfen sich auf die kleinen Schlitten, um abzufahren, Herr Mehrenstein steckte das Notizbuch in die Tasche und schlug seinen Pelzkragen auf, der Platz leerte sich allmählich. Dann begann Klaus Pelzdecken heranzuschleppen und in der Nähe des Feuers auszubreiten, er holte einen Teekessel heran und Tassen und fing an Tee zu kochen und Weinflaschen aufzuziehen. »Tee bekommen wir auch«, jubelte Gertrud. »Aber da ist ja noch jemand«, rief sie, »das sind ja Dachhausens, die hat sicherlich die Mama uns nachgeschickt.« Wirklich kam jetzt ein Schlitten mit hellem Schellengeklingel aus dem Waldwege herangefahren und hielt auf dem Platze. »Ja, es sind Dachhausens«, ertönte die freundliche Stimme des Baron Dachhausen. Er sprang aus dem Schlitten und schwenkte seine Pelzmütze. Sein schöner, brauner Vollbart war ganz bereift und seine blauen Augen blank vor Lustigkeit. »Meine Frau hat, ich weiß nicht wie, erfahren, daß hier eine Zusammenkunft stattfindet, und wollte durchaus dabei sein. So sind wir hier. Komm, Liddy, ich hebe dich heraus.«

Die Baronin war ganz in weißes Pelzwerk gehüllt, wie in große, weiße Schneeflocken, und ihr Gesicht sah rosa aus all diesem Weiß heraus. Sie ließ sich aus dem Schlitten heben, begrüßte Fastrade und Gertrud, sie schien unsicher und befangen. »Wo ist Dietz?« fragte Dachhausen. »Ah, da kommt er. Guten Abend, Dietz, alter Junge, wir haben uns selbst zu deiner Soiree hier eingeladen.«

Dietz und Ruhke waren eben aus dem Dickicht aufgetaucht. »So, so«, meinte Egloff, »das ist ja gut, deine Gemahlin ist auch da. Schön, schön.« Er sagte das jedoch ziemlich kühl und mißmutig. »Nun, ich denke, jetzt wird wohl niemand mehr kommen, so können wir Tee trinken. Bitte Platz zu nehmen. Fritz, du warst immer der Liebenswürdigere von uns beiden, du spielst ein wenig den Gastgeber statt meiner.« – »Ach was, liebenswürdig«, meinte Dachhausen, »so ein alter Ehemann – gleichviel, meine Damen, bitte sich zu setzen.«

Man ließ sich auf die Pelzdecken nieder, Klaus reichte Tee herum, Dachhausen goß Portwein ein, sprach beständig begeistert: »Herrlich, meine Damen, herrlich. Hier wird einem das Herz weit, nicht wahr? Was meinen Sie, Baronesse Gertrud, fühlen Sie nicht, wie hier die Großstadtkruste oder, wie soll ich sagen, Großstadtrinde –«

»Ach lassen Sie es, lieber Baron«, sagte Gertrud, bog ihren Kopf ein wenig zurück und sah Dachhausen gefühlvoll an, »hier ist die Großstadt vergessen.« – »Nicht wahr«, rief Dachhausen, »was sind alle Opern gegen dieses Abendrot. Sehen Sie, meine Herrschaften, die Föhren oben, wie im Feuer stehen sie. Das hat Egloff gut gemacht.«

»Entschuldigung«, sagte Egloff, der beiseite stand und nachdenklich eine Zigarette rauchte, »das Abendrot gehört nicht mir, es bleibt im Padurenschen Walde, zu mir kommt es nicht herüber.«

»Ach«, sagte Gertrud und starrte in das Abendrot hinein, »die schönsten Farben sind doch die schönste Musik.« Sie seufzte tief, als täte das gewaltsame Aufflammen der Farben ihr wehe. »Ja, gewissermaßen«, bestätigte Dachhausen unsicher.

Egloff hatte sich jetzt auch auf eine der Pelzdecken hingestreckt und trank schweigend ein Glas Portwein. Endlich begann er halblaut mit Fastrade über die Grenze zu sprechen, dem Padurenschen Walde war kein Unrecht geschehen, es war alles in Ordnung. Was er mit diesem Platze anfangen würde? Mein Gott, anpflanzen, aufforsten, aber für wen? Für Herrn Mehrensteins Enkel vielleicht.

»Sie sollten nicht so sprechen«, unterbrach ihn Fastrade.

Egloff zuckte die Achseln: »Wer weiß, wer nach hundert Jahren die Macht hat. Für die künftigen Generationen, sagt Ihr Herr Vater, aber ich habe keinen historischen Sinn. Mir sagt es nichts, in der Zukunft eine lange Reihe von Dietz Egloffs zu sehen, die Stücke meines Wesens hundert Jahre fortschleppen, so wie sich häßliche Möbel in alten Häusern forterben.«

»Sie können doch Kostbarkeiten vererben«, wandte Fastrade ein.

»Ja, wer die hat«, erwiderte Egloff, »übrigens, ich will mich selbst nicht angreifen, aber das Dietz Egloffsche als hundertjährige Einrichtung, daran habe ich kein Interesse.«

Das Abendrot war erloschen, auf der anderen Seite stieg der Mond am Waldrande auf, groß und rot. »Der Mond«, rief die Baronin Lydia, welche die ganze Zeit still dagesessen war. »Baron Egloff, der kommt auf Ihre Seite, der gehört nicht zum Padurenschen Walde.«

»Ja, hm«, erwiderte Egloff und sah unzufrieden auf den Mond hin, »er sieht auch recht jahrmarktmäßig aus, eine große, rote chinesische Laterne. Na, wenn er höher steigt, wird er eleganter werden. Man wird immer eleganter, wenn man Karriere macht.«

Warum er das so unfreundlich sagt, dachte Fastrade, was hat die arme kleine Puppe ihm getan? »Jetzt einen Vorschlag«, fuhr Egloff fort und stand auf. »Wir machen einen Besuch im Padurenschen Walde. Wenn wir an der kleinen Waldwiese sind, wird der Mond schon hoch genug sein, das gibt dann einen weihevollen Abschluß.«


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