Eduard von Keyserling
Abendliche Häuser
Eduard von Keyserling

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Achtes Kapitel

Es war viel Schnee gefallen, im Padurenschen Hof und Park mußte der Schneeschlitten Wege einfahren, den ganzen Tag über hingen hellgraue Wolken am Himmel, und durch die windstille Luft fielen die Schneeflocken ruhig und stetig nieder. Aber gegen Abend erhob sich stets ein Nordostwind, der die Wolken für eine Weile fortfegte, als wollte er Platz schaffen für den Sonnenuntergang, der mit viel Purpur und Gold am Himmel aufflammte. Dieser Augenblick erschien Fastrade als das einzige Ereignis der kurzen Tage, die sonst grau und formlos wie die Schneewolken waren. Sie eilte dann in den Park hinunter und ging die schmalen Wege zwischen den Schneewällen auf und ab. Hier konnte sie sich wieder auf etwas freuen, von dem sie nicht wußte, was es war, hier konnte sie etwas erwarten, das sie nicht kannte, hier fühlte sie ihren Körper und ihr Blut wie eine Wohltat. Woran sollte sie denken? Gleichviel, nur recht weit fort denken von der stillen Zimmerflucht da drinnen im Hause, und so dachte sie denn an Egloff. Wie ruhelos er war! Der Kutscher Mahling hatte erzählt, der Sirowsche Herr fahre die Nächte hindurch hier in der Gegend herum. Ob er leidet? Ob seine Geheimnisse ihn quälen? Sie waren alle gegen ihn, aber ihm schien das gleichgültig zu sein. Wenn man zu zweien auf der einen Seite steht und die anderen stehen alle auf der anderen Seite, das kann sogar lustig sein. Eine kluge Frauenhand könnte in diesem armen, zerfahrenen Leben vielleicht Ordnung schaffen, jedenfalls war er mit seiner Unruhe, seinen Geheimnissen, seinen Sorgen und seiner Heiterkeit das Leben, und was waren die anderen hier?

Vom Walde herüber erklang plötzlich ein Jagdhorn, schmetterte keck und triumphierend in den Winterabend hinein. Fastrade blieb am Gartengitter stehen und horchte. Das war Egloff, der für heute die Jagd schloß und diesen hellen Ruf des Lebens zu ihr herübersandte. Fastrade stand am Gitter, bis das Jagdhorn verstummte und bis das Abendrot verblaßt war, dann ging sie wieder in das Haus, um im Zimmer ihres Vaters Ruhkes Bericht anzuhören, die Memoiren des Herzogs von Saint-Simon zu lesen oder mit der Baronesse am Kamin zu sitzen.

In diesen Wintertagen pflegte die Baronesse Arabella einen besonders lebhaften Umgang mit ihren Erinnerungen. Sobald sie und Fastrade beisammen am Kamin saßen, begann sie zu erzählen mit leise klagender Stimme, erzählte von ihrer Jugend, von längst vergangenen Padurenschen Sommern, von längst gestorbenen Menschen, und Fastrade hörte dem zu, sah diese Menschen und diese Sommer, wie wir alte Bilder sehen, über deren Farben sich ein leichter Staubschleier legt. Ein unendliches Gefühl der Vergänglichkeit, des Vorüber klang aus dieser Erzählung und machte Fastrade traurig. Zuweilen sprach die Baronesse auch von dem kommenden Feste, sprach von Gebäcken und Geschenken mit derselben klagenden Stimme, wie sie von ihrer Jugend sprach. Feste, dachte Fastrade, können wir hier auch Feste feiern?

Aber das Fest kam, ein Tannenbaum mit Lichtern stand auf dem Tisch, der Baron ließ sich seinen schwarzen Rock anziehen und saß im Saal erwartungsvoll auf seinem Sessel. Knechte und Mägde sangen mit ihren schweren, lauten Stimmen langsam und feierlich einen Choral. Und als sie fort waren, saß man beisammen und sah zu, wie die Lichter am Baume niederbrannten. Die Baronesse weinte still, der Baron hatte die Hände gefaltet und starrte vor sich hin. Fastrade ging zu ihm und kniete an seinem Stuhle nieder. Sie wußte nicht, was in dem schweigenden, alten Manne vorging, aber wenn ein Leiden ihn quälte, wollte sie nahe bei ihm knien, als könne sie ihm beistehen.

Als alles vorüber war und Fastrade in ihrem Zimmer stand, fühlte sie sich so wund und hilflos vor Mitleid und Wehmut, daß sie sich sagte: »Wenn ich jetzt zu Bette gehe, bleibt mir nichts übrig, als den Kopf in die Kissen zu drücken und zu weinen. Das will ich nicht. Dagegen aber gibt es nur ein Mittel, die Winternacht.« Sie nahm ihre Pelzjacke und ihre Otterfellmütze und ging leise in den Park hinaus. Hier hingen die weißen Baumwipfel voll großer, sehr heller Sterne, hier war es wunderbar geheimnisvoll, hier in der klaren Luft, über der knisternden Schneedecke lag es wie ein festliches Erwarten, man stand still und geschmückt da, und die Freuden konnten kommen. Es machte Fastrade auch wieder getrost, ihre Schmerzen und ihre Wehmut waren doch nur kleine, abseits liegende dunkele Winkel, das eigentliche Leben war dieses große Flimmern, diese Weite, dieses geheimnisvolle Versprechen und Erwarten. Sie blieb am Gartengitter stehen und schaute auf das Land, auf die weiße Fläche, die im unsicheren Sternenschein zu einem hellen Nebel zerrann, in den hie und da die Lichtpünktchen ferner Häuser gestreut waren.

Auf der Landstraße, die am Parkgitter vorüberführte, kam Schellengeklingel heran, ein Pferd erschien und ein Schlitten groß und schwarz im unsicheren, weißen Lichte. Jemand sprang aus dem Schlitten und kam auf das Gitter zu. »Ich dachte es mir gleich, daß Sie es sind, die hier steht«, sagte Egloff und lachte. »Ja, ich bin noch ein wenig herausgekommen«, erwiderte Fastrade. »Das will ich glauben«, meinte Egloff. »Ich bin auch fortgefahren, um dem Sirowschen Weihnachten zu entgehen.«

»Sie fahren öfters in der Nacht herum, höre ich«, fragte Fastrade. Sie wunderte sich nicht über diese Unterhaltung am Gartengitter, sie erschien ihr selbstverständlich, als stünden sie beide in dem Sirowschen Wohnzimmer, nur daß es hier im Sternenschein unterhaltender und kameradschaftlicher war.

»So? Haben Sie das gehört?« fragte Egloff. »Ja, ich habe mir die Ebene hier als eine Art Schlafsaal eingerichtet. Das ist sehr zuträglich. Überhaupt bin ich der Meinung, daß unsere Entwickelung einen verkehrten Weg eingeschlagen hat. Wir sind eigentlich Nachttiere wie all das andere Raubzeug. Am Tag schläft man im Bau, und wenn es dann draußen still und dunkel wird, dann kriecht man heraus, treibt sich herum, schleicht um die schlafenden Wohnungen und Hühnerställe und lebt dann so sein eigentliches Leben.«

»Meinen Sie?« sagte Fastrade. »Ja, das muß zuweilen hübsch sein.«

»Sie sollten auf solch einer Fahrt mitkommen«, schlug Egloff vor.

Fastrade lachte: »Das wäre doch wohl gegen unsere Gesetze hier.«

»Glauben Sie an diese Gesetze?« fragte Egloff.

Fastrade zuckte die Achseln: »Ich glaube nicht an sie, aber ich gehorche ihnen.«

»Da haben Sie unrecht«, meinte Egloff, »Sie können sich nicht denken, wie befreundet man sich fühlt, wenn man so zu zweien über die Straßen jagt.«

»Doch, ich kann es mir denken«, versetzte Fastrade nachdenklich. Sie hatte ihren Handschuh abgestreift und kühlte ihre Hand in dem Schneestreifen, der sich an das Gitter angesetzt hatte: »Also für diese Freundschaft bin ich zu feige.«

»Feige sind Sie nicht«, versicherte Egloff mit Überzeugung. »Sie haben nur noch den Aberglauben an diese kleinen, triefäugigen Gesetzesaugen, die von den Schlössern in die Nacht hineingehen. Das da drüben ist Barnewitz. Wie lächerlich doch solch ein Licht neben den Sternen aussieht. Na, gleichviel, wenn die Freundschaft so nicht zustande kommt, muß es anders gemacht werden. Mein Brauner wird höllisch unruhig, gute Nacht.«

Sie reichten sich durch das Gitter hindurch die Hand, Egloff ging zu seinem Schlitten, und Fastrade lief den Weg dem Hause zu. Sie glaubte, sie würde jetzt schlafen können, ohne weinen zu müssen.

An einem der Feiertage kam Gertrud Port nach Paduren, um Fastrade zu besuchen. Sie war wieder sehr schlank und schmächtig in ihrem Kleide von zeitlosem Schnitt, das Gesichtchen, über und über weiß von Puder, schien kleiner geworden, die Augen waren unnatürlich groß. Sie klagte über ihre Gesundheit – »das Leben vergeht in Müdigkeit und Melancholie«, meinte sie. Als die beiden Mädchen jedoch in Fastradens Zimmer am Kamin saßen, begann Gertrud von Dresden zu sprechen, und das belebte sie. »Du weißt«, sagte sie, »zu Hause darf ich davon nicht sprechen, und wenn ich Sylvia einmal etwas erzähle, dann sehe ich es ihren Augen an, zuerst, daß es ihr nicht gefällt, und dann, daß sie nicht mehr zuhört.« So erzählte sie denn von der schönen Zeit, da sie tun konnte, was ihr beliebte, ohne saure Bemerkungen hören zu müssen, da jeder Tag ein neues Erlebnis, eine neue Emotion brachte. Sie erzählte, wie man abends mit den Freundinnen und Freunden im Café gesessen und Zigaretten geraucht hatte. »Siehst du, nicht nur das Leben und die Menschen waren interessant, nein, man war selbst interessant. Ein junger Künstler sagte mir: ›Ich freue mich jeden Morgen, wenn ich aufstehe, darauf, an diesem Tage wieder Ihre Augen zu sehen, wie man sich darauf freut, in einem schönen Buche weiterzulesen.‹ Bei uns zu Hause denkt doch nie jemand daran, daß ich Augen habe, zu Hause bin ich eine langweilige Fremde.« Von ihren Erinnerungen überwältigt schwieg sie jetzt und starrte verträumt in das Kaminfeuer hinein. – Im unteren Geschoß des Hauses, in den Gesindestuben, wurde getanzt, gedämpft konnte man die schnurrenden Töne einer Violine hören, auf der eintönig und unermüdlich einige Walzertakte gespielt wurden. »Du erzählst aber nicht von dir«, fuhr Gertrud auf, »du hast wohl auch nichts erlebt? Hast du Egloff gesehen? Er soll verreist gewesen sein, erzählte Dachhausen, er soll gespielt haben und viel verloren, auch ein Duell soll er gehabt haben. Ein wilder Mensch. Fräulein von Dussa erzählte, er sei so ruhelos und fahre die Nächte hier in der Gegend herum. Der Papa sagte später: ›Das ist wohl sein schlechtes Gewissen, das ihn nicht schlafen läßt.‹ Der Papa urteilt überhaupt sehr streng über ihn.«

»Ach ja«, erwiderte Fastrade scharf, »sie urteilen alle sehr streng über ihn, aber ich finde, jeder Mensch müßte wenigstens einen Menschen haben, der ihn verteidigt, der ihn verteidigt, auch wenn er meinetwegen unrecht hat. Wenn alle über einen herfallen, das ist häßlich.«

»Gewiß, er ist mir auch sympathisch«, versetzte Gertrud, und ihre Stimme nahm einen seltsam lyrischen Klang an, »und überhaupt, wenn wir nicht lieben, was bleibt uns dann in diesem Leben?«

»Lieben?« fragte Fastrade erstaunt. »Wer liebt? Liebst du denn?« Aber Gertrud fuhr zu sprechen fort, als hätte sie Fastradens Frage nicht gehört: »Und wäre es auch nur eine unglückliche Liebe.«

»Ja liebst du denn unglücklich?« fragte Fastrade wieder.

Gertrud antwortete nicht, sie schaute ins Feuer und lächelte still vor sich hin. Sie mochte es nicht sagen, daß sie sich in den letzten Tagen dazu entschlossen hatte, Dachhausen unglücklich zu lieben. Aus dem unteren Geschosse drang wieder deutlich der schnurrende, freudlose Walzer der Violine herauf. Die beiden Mädchen schwiegen eine Weile, da erhob sich Gertrud plötzlich und begann sich auf dem Teppich vor dem Kamine nach dem Takte der Violine zu drehen, ernst und eifrig, und ihr Schatten, lang und schmal, fuhr unruhig an den Wänden entlang. Mein Gott, dachte Fastrade, man lebt doch hier, als ob man gleich erwachen müßte, um dann erst mit der Wirklichkeit zu beginnen.

Gertrud war erschöpft, sie warf sich auf das Sofa und atmete schnell. »So«, sagte sie, »das hat mir gut getan, jetzt will ich nach Hause fahren.«


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