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Am Nachmittage zur Teestunde war in Sirow Besuch. Die Baronesse Arabella kam, um der Baronin Egloff Fastrade nach der langen Abwesenheit wieder vorzustellen, und die Baronin Port war da mit ihren beiden Töchtern Sylvia und Gertrud. Die Damen saßen im Wohnzimmer der Baronin, in diesem Zimmer mit dem dicken Smyrnateppich, den schweren, dunkelblauen Vorhängen, in dem das bleiche Licht des Winternachmittags nur gedämpft und fast schläfrig eindrang. Die Luft hier war schwer, denn es war stark geheizt worden, und es roch nach Tee und einem sehr süßen Parfüm, das die Baronin liebte. Die Baronin thronte auf ihrem Sessel recht stattlich im schwarzen Seidenkleide und der Mantille nach der Mode der sechziger Jahre, das Gesicht sehr weiß mit regelmäßigen Zügen, an jeder Schläfe drei graue Löckchen und auf dem Kopfe ein Spitzentuch, das mit dicken, goldenen Nadeln befestigt war. Sie strickte an einer pfauenblauen Strickerei und sprach deutlich und ausdrucksvoll, sie liebte es zu sprechen und verlangte, daß man ihr andächtig zuhörte. Sie wandte sich an die beiden alten Damen und erzählte von der Großherzogin, bei der sie früher Palastdame gewesen war. Die Großherzogin war so genau, daß, wenn die Kammerfrau ihr am Morgen ein Hemd präsentierte, das nicht die folgende Nummer des am vorigen Tage getragenen Hemdes zeigte, sie es zurückwies und sehr ungehalten war. Und so war es mit allem, mit den Taschentüchern usw. Eine ganz seltene Frau. »Sehr interessant«, bemerkte Baronesse Arabella, »so von den Intimitäten der hohen Herrschaften zu hören.« – »Oh, da könnte ich viel erzählen«, sagte die Baronin. Die anderen nahmen an dem Gespräche nicht teil, Gertruds kleines Figürchen versank ganz in dem großen Sessel, sie stützte den Kopf mit den wirren blonden Löckchen an die Lehne, das weißgepuderte Gesichtchen mit den zu feinen Zügen und dem zu roten Munde drückte eine stille Qual aus. Ja, sie lag da im Sessel und sehnte sich krampfhaft nach einer Zigarette. Fastrade und Sylvia schienen mit ihren Gedanken sehr weit fort zu sein, und Fräulein von Dussa hantierte mit dem Teegeschirr leise und vorsichtig, um die Baronin in ihrer Erzählung nicht zu stören. »Haben Sie die Dewitzens in Dresden gekannt?« wandte sich die Baronin plötzlich streng an Gertrud und sah sie dabei mißbilligend an. Gertrud fuhr auf, machte ein erschrockenes Gesicht: »Nein«, sagte sie hastig. Dann lehnte sie ihren Kopf wieder zurück und begann müde und fast überlegen zu sprechen: »Ach nein, ich lebte ganz meiner Kunst, ich hatte nur einen kleinen Kreis von Freundinnen und Freunden, meistens Künstlerinnen und Künstlern. Die Kunst nimmt einen ja so hin.«
»So«, meinte die Baronin und klapperte mit den elfenbeinernen Nadeln ihrer Strickerei, »diese Kreise kenne ich nicht. In unserer Jugend schien es uns, als seien diese Kreise von uns meilenweit entfernt, sozusagen in einer anderen Welt, man wußte einfach nichts von ihnen.«
Die Baronin Port, die besorgt diesem Gespräch zugehört hatte, bemerkte: »Ja, wie die Zeiten sich ändern, die Kinder lernen und erfahren jetzt Dinge, von denen wir Alten nichts wissen, man kommt sich ganz dumm vor.«
Baronin Egloff schaute von ihrer Strickerei auf und sagte scharf: »Ich weiß nicht, ich komme mir trotz allem noch lange nicht dumm vor. Und auf all die Dinge, welche unsere Jugend jetzt wissen will, bin ich gar nicht neugierig.«
Eine peinliche Pause trat ein, draußen hörte man die Haustür auf- und zugehen, die Baronin und Fräulein von Dussa sahen sich bedeutungsvoll an, und Fräulein von Dussa flüsterte: »Der Baron.« – »Nun ja«, berichtete die Baronin, »mein armer Dietz ist jetzt so beschäftigt mit dem Waldverkauf, er muß immer in den Wald reiten bei diesem Wetter. Liebe Dussa, bereden Sie ihn doch, daß er kommt, eine Tasse Tee nehmen, das wird ihn erwärmen.«
Fräulein von Dussa ging hinaus, um ihren Auftrag auszurichten, und die Unterhaltung wurde zerstreut und matt. Die Baronin erzählte von Katarrhen, die ihr Dietz früher gehabt hatte, alle aber warteten. Als dann Fräulein von Dussa mit Dietz zurückkehrte, ging ein allgemeines angeregtes Sichaufrichten durch die Gesellschaft. Dietz war kalt von seiner Fahrt und schien heiter, er begrüßte die Damen, sagte: »Hier ist aber ein warmes Nest«, und seine Stimme klang laut und rücksichtslos in diesem Raume, in dem die ganze Zeit über nur gedämpft gesprochen worden war. Er setzte sich zu Gertrud, ließ sich Tee einschenken, erzählte vom Walde und den Holzjuden. Alle hörten ihm zu, das strenge Gesicht der Baronin Egloff wurde ganz milde, während ihre Augen auf ihrem Enkel ruhten. »Du kannst dir ruhig deine Zigarette anzünden«, sagte sie, »die Damen haben nichts dagegen.«
»Raucht eine der Damen?« fragte Dietz, indem er sein Zigarettenetui hervorzog.
»Oh, ich bitte«, rief Gertrud leidenschaftlich, und als sie die Zigarette zwischen den Lippen hielt und den Rauch vor sich hin blies, versank sie in einen seltsamen Ausdruck unendlichen Behagens. Dietz lächelte: »Sie waren wie ein Durstiger in der Wüste, Baronesse«, bemerkte er. Die Baronin aber zog die Augenbrauen in die Höhe und meinte: »Ach ja, ich vergesse immer, daß so etwas jetzt Sitte ist.« Dietz begann sich mit Gertrud über das Theater zu unterhalten, die alten Damen nahmen gedämpft ihr Gespräch wieder auf, und da es finster zu werden begann, wurden die Lampen gebracht. »Ich denke«, sagte die Baronin, »wir haben noch ein Stündchen Zeit für unser Besig.« – »Unterdessen wird die Baronesse Gertrud uns vorsingen«, schlug Dietz vor, »im Flur sah ich die Noten.« Die alten Damen und Sylvia Port setzten sich an den Kartentisch, im Musikzimmer wurden Lichter auf das Klavier gestellt, und Fräulein von Dussa schickte sich an, Gertrud zum Gesange zu begleiten. Fastrade und Egloff setzten sich an das andere Ende des Zimmers und warteten.
»Das ist immer das erste«, sagte Dietz leise, »wenn man sich mit der Kunst einläßt, so trägt man keine Kleider mehr, sondern Gewänder.« Er sah dabei Gertruds schmächtiges Figürchen an, das ein hellgraues Kleid von zeitlosem Schnitte mit lang niederhängenden Ärmeln trug. Fastrade erwiderte nichts, sie wollte nicht mit ihm über die arme Gertrud lachen. Nun begann Gertrud zu singen.
»Rauschender Strom, Brausender Wald, Starrender Fels Mein Aufenthalt.« |
Ihr ganzer Körper bebte, sie hob sich auf die Fußspitzen, ihr Gesicht nahm einen schmerzvollen Ausdruck an, als täten ihr diese großen, dunkelen, leidenschaftlichen Töne weh, die sie hinausrief, die da in das stille Haus klangen, als wäre hier plötzlich ein großes tragisches Ereignis erwacht.
»Wie sich die Welle An Welle reiht, Fließen die Tränen Mir ewig erneut.« |
Dietz beugte sich zu Fastrade vor und flüsterte: »Das hält sie nicht aus, diese Stimme bringt sie um.«
»Hoch in den Kronen – wogend sich's regt, So unaufhörlich – mein Herze schlägt, Und wie des Felsens – uraltes Erz Ewig derselbe – bleibet mein Schmerz«, |
klagte Gertruds Stimme weiter, und als sie dann schwieg, hatte selbst diese Stille noch eine zitternde Erregung.
Gertrud lehnte müde am Klavier, und Fräulein von Dussa begann ruhig und geläufig auf sie einzureden. Aus dem Nebenzimmer klang das leise Klappern der Spielmarken herüber, und Fastrade konnte von ihrem Sitz aus Sylvias bleiches Gesicht sehen, wie es nachsichtig und resigniert in die Karten schaute. »Was hilft es?« sagte Egloff leise; »da hat die arme Kleine sich an einem Schmerze und einer Leidenschaft berauscht, und mit dem letzten Akkord ist alles aus, und sie ist wieder nur Gertrud Port, die eine Nervenkrankheit hat, nicht weiter studieren kann und von ihrem Vater angebrummt wird.«
»Aber sie hat doch dieses Erlebnis gehabt«, versetzte Fastrade, und ihre Stimme klang so erregt, daß Egloff überrascht aufschaute. Fastradens Gesicht war über und über naß von Tränen. »Sie weinen?« fragte er. »Es ist nur die Musik«, erwiderte sie und lächelte.
Egloff schaute wieder auf seine Hände. »Nun ja«, begann er langsam, »aber fühlen Sie nicht, wie hier in diesem Zimmer alles Leidenschaftliche und Lebensvolle gleich verklingt, totgeschlagen wird vom – wie soll ich sagen – Abendlichen, Großmütterlichen, Sirowschen? Am Besigtisch klappern sie mit den Marken, es riecht nach dem vom Kamin heiß gewordenen Teppich, und Fräulein von Dussa hält einen Vortrag, Goethe und Schubert sind ganz weit. Gott, dieses Sirowsche, wie ich es sehe, ich muß es wirklich einmal als Kind gesehen haben, wie es durch die Zimmer geht und alles Leben, das sich regen wollte, zum Schweigen bringt. Es trägt ein fußfreies braunes Kleid, eine lila Haube, hat ein kleines graues Gesicht und legt eine kleine graue Hand vor den Mund und gähnt«, er wartete einen Augenblick, ob Fastrade etwas sagen würde, als sie jedoch schwieg: »So ist es bei Ports, so ist es auch bei Ihnen, und das kommt daher, daß unsere alten Herrschaften stärker sind als wir. Sie wollen ruhig und melancholisch ihren Lebensabend feiern, gut, aber wir wurden in diesem Lebensabend erzogen, wir müssen ihm dienen, wir müssen in ihm leben, wir fangen sozusagen mit dem Lebensabend an. Das ist ungerecht.« Er hielt wieder inne und schaute auf. Fastrade saß sehr ernst da und schob ein wenig die Unterlippe vor, wie sie es tat, wenn sie unzufrieden war. »Was ich da sage, mißfällt Ihnen?« fragte Egloff.
»Ja«, erwiderte Fastrade, »es klingt unangenehm und lieblos.«
»Lieblos?« wiederholte Egloff nachdenklich. »Ach nein, dieses Abendleben macht uns im Gegenteil zu reizbar und gefühlvoll. Ich wurde hier einsam ohne Kameraden von meiner Großmutter erzogen, ich wurde ein unerträglich weicher Bengel. Einmal ging ich in den Park hinaus in der Sommerdämmerung. Ich kam an einen Platz, wo auf langen Leinen Wäsche aufgehängt war, eine ganze Reihe großer Männerhemden hing dort, der Abendwind fuhr in sie hinein, schaukelte sie sanft hin und her, und sie hoben ihre Arme langsam in die Höhe und ließen sie wieder müde sinken, was soll ich Ihnen sagen, das rührte mich, ich stand da und heulte, tatsächlich.«
Gertrud sang wieder, sie sang ein Lied von Mendelssohn, hob sich auf die Fußspitzen, rang die Hände ineinander.
»Schon sinket die herbstliche Sonne, das wird mein Träumen wohl sein.« |
Ihr ganzer kleiner Körper wurde wieder von der süßen Melancholie der Töne geschüttelt, und als sie zu Ende war, sank sie auf einen Stuhl nieder und atmete tief. Fräulein von Dussa wandte sich sogleich zu ihr und begann eifrig über Mendelssohn auf sie einzusprechen. Egloff hob einen Finger in die Höhe und sagte leise zu Fastrade: »Jetzt geben Sie acht, Sie werden es spüren, wie jetzt gleich das Sirowsche durch die Zimmer geht, um Mendelssohn hinauszufegen.«
Fastrade zog ihre Augenbrauen empor und meinte fast ungeduldig: »Ich weiß nicht, worüber Sie sich beklagen, Ihr Leben ist doch gewiß nicht abendlich und melancholisch.« Egloff zuckte die Achseln: »Man tut, was man kann, nur das Sirowsche ist stärker. Gewiß, ich locke zuweilen Menschen hierher, oder ich gehe auf Reisen, oder ich fahre in das Städtchen in den Klub und trinke, oder ich spiele Karten, gewiß, gewiß, aber das Sirowsche wohnt bei mir zu Hause und gehört zu mir. Übrigens«, und er dachte einen Augenblick nach, »übrigens, man hat Ihnen wohl gesagt, daß ich ein Spieler bin.«
Fastrade zog die Augenbrauen zusammen und machte ihr eigensinniges Gesicht. Warum kommt er mir mit seinen Fragen und Geständnissen so nahe, dachte sie, danach sagte sie fast unwillkürlich: »Warum müssen Sie denn spielen?«
»Warum?« erwiderte Egloff sinnend. »Ich weiß nicht, vielleicht weil im Spiel immerfort sich schnell etwas entscheidet, so etwas wie ein ganz eilig laufendes Schicksal. Im Leben entscheidet sich ja sonst alles so langsam. Wenn ich heute auf etwas hoffe, erfüllt es sich erst nach so langer Zeit, daß ich dann keine Freude daran habe, man lebt ja, als ob man eine Ewigkeit Zeit hätte.« Er hielt inne und betrachtete Fastrade. »Sie«, sagte er dann, »sollten auch mehr Eile haben.«
»Ich?« Fastrade sah ihn mit blitzenden Augen feindselig an. »Was wissen Sie von mir?«
Egloff verneigte sich leicht. »Entschuldigen Sie, gewiß zu wenig, um einen Rat erteilen zu dürfen.«
»Ich«, fuhr Fastrade hastig fort, »ich diene sehr gern der – der – wie sagten Sie doch, der Abendstimmung all derer, die ich liebe, und – und – ich werde mir schon meinen Tag zu machen wissen.« Sie war sehr erregt, denn sie fühlte, daß es unwahr war, was sie sagte. Egloff lächelte.
»Sie haben sich wieder über mich geärgert«, sagte er, »überhaupt sind Sie heute, wie es mir scheint, gegen mich.«
»Heute?« wiederholte Fastrade erstaunt. »War ich denn schon für Sie?«
Egloff lachte: »Sehr wahr. Für mich zu sein ist hier in der Gegend ja wohl überhaupt nicht Sitte.«
Die Damen am Kartentische brachen auf. Draußen vor der Treppe klingelten die Schlittenschellen. Man fuhr fort. Als es im Hause wieder still und leer war, stand Egloff eine Weile sinnend im Musikzimmer, dann rief er Klaus und befahl: »Mein Schlitten soll angespannt werden, ich fahre noch in die Stadt zum Klub.«
Die Baronin und Fräulein von Dussa saßen wieder friedlich im Wohnzimmer bei der Lampe, die Baronin strickte ihre pfauenblaue Strickerei, Fräulein von Dussa hatte ihren Kneifer aufgesetzt und ein Buch aufgeschlagen, sie lehnte aber ihren Kopf auf die Lehne des Sessels zurück. Als die Schellen von Egloffs Schlitten von draußen hereinklangen, sagte die Baronin: »Er fährt wieder aus.« – »Ja«, sagte Fräulein von Dussa. »Er ist jetzt wieder sehr unruhig«, meinte die Baronin. »Sehr unruhig«, bestätigte Fräulein von Dussa, dann fügte sie klagend hinzu: »Wenn er die rechte Frau fände.« – »Ja, wissen Sie denn eine?« fragte die Baronin gereizt. Fräulein von Dussa schüttelte den Kopf. »Diese beiden Mädchen da mit ihren Erlebnissen und Erfahrungen sind gewiß nicht die rechten.« Die Baronin sah von ihrer Strickerei auf und sagte scharf: »Gertrud ist eine Närrin geworden, und Fastrade mag ein gutes Mädchen sein, nur schade –«
»Ja, sehr schade«, wiederholte Fräulein von Dussa und beugte sich auf ihr Buch nieder.