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Begegnung.

Es war noch zeitig. Der Sand in den Gängen des eleganten Badeortes war feucht vom Tau, über der Wiese, jenseits der Anlagen, schwebte feiner weißer Rauch; aber die Sonne stand schon über den waldigen Bergkuppen, und drüben vom Kurhause drang feiner Kaffeeduft und klang leise das Porzellan.

Da setzte das Frühkonzert ein. Mit einem Choral wie immer. Dann folgte als zweites Stück eine Serenade.

Auf der entferntesten Bank der Anlagen, dicht neben der Wiese, saß ein Herr. Der Hut ruhte ihm auf dem Schoß, und der schöne, leichtergraute Kopf mit der blassen Stirne und dem feinzügigen Gesicht ließ unschwer den Künstler erraten.

Jetzt horcht er scharf auf, beinahe erschreckt.

»Wahrhaftig! Na, das ist doch … das ist doch merkwürdig!«

Und er springt auf und geht rasch nach der riesigen Linde mitten auf dem Kurplatz, daran der Programmzettel befestigt ist, und liest:

Nr. 2. Serenade: »Ich suche dich auf allen Wegen«. Von *.

Lange bleibt er stehen. Er liest die eine Zeile dreimal, viermal, noch öfter. Da endlich merkt er, daß eine zweite Person hinter ihm steht, die jedenfalls auch das Programm zu lesen wünscht.

Er wendet sich um und kann einen leisen Ausruf höchster Überraschung nicht unterdrücken. Schnell aber faßt er sich, zieht tief den Hut und verneigt sich vor der eleganten Dame.

»Pardon! … Ich … ich habe die Ehre, Frau von Sental …? …«

»Jawohl, Herr Hofkapellmeister!«

»Das nenne ich allerdings eine maßlose Überraschung.«

»Gewiß … ein Zusammentreffen nach so langer Zeit … und hier … und bei diesem Stücke …«

Eine feine Röte bedeckt ihre Stirne, aber sie reicht ihm die Hand.

»Ich freue mich sehr, Sie zu sehen.«

»Darf ich um die Ehre bitten, gnädige Frau ein paar Schritte zu begleiten?«

»O, ich bitte! Ich bin ganz allein hier zur Frühkur. Meine Tochter schläft noch, und mein Mann mußte zu Hause bleiben, des Manövers wegen.«

Sie gehen. Sie sind beide mehr verwirrt, mehr aufgeregt, als von Menschen der großen Welt zu erwarten wäre. Selbst die gewöhnlichen Höflichkeits- und Erkundigungsphrasen bringen sie nicht ganz glatt heraus.

Unterdes spielt die Musik die Serenade zu Ende.

»Wie finden Sie diese Musik jetzt, Herr Hofkapellmeister?«

»O! Nicht abgeklärt! Zu anfängerhaft, zu stillos. Aber es liegt doch ein tiefer Gefühlsgehalt darin.«

»Ja! Und ich höre nur diesen, – ich höre nur diesen heraus!«

Er sieht sie überrascht an.

»Das heißt … das ist … weil mir die kritische Wertung fehlt, wissen Sie … deshalb …«

Inzwischen sind sie an der Trinkhalle angekommen. Sie verabschiedet sich rasch von ihm.

»Ich muß da hinein! Ich bin nicht leidend, aber ich mache die Kur mit. Wir sehen uns wohl wieder, Herr Hofkapellmeister?«

Und sie ist schon gegangen.

Langsam wendet der Herr seine Schritte. Sehr langsam, zögernd, oft stockend geht er die Promenadengänge zurück, die sich allgemach füllen; die Wiese geht er entlang, und erst drüben im Walde macht er auf einer einsamen Bank Rast.

Was war denn? Was war denn eigentlich?

Das war so romantisch. Das war ja, als wenn Tote aufständen.

Eine alte Zeit kam wieder? Ein Tag, dessen Sonne vor 15 Jahren erlosch, wollte noch einmal erscheinen? Und er, der moderne Mensch, der längst meinte, gegen Leidenschaft und Sentimentalität gefeit zu sein, kam aus der Fassung?

Wie er sich wehrt, die Erinnerung packt ihn heiß wie ein Fieber.

Vor 15 Jahren war's. Er stand damals schon im Anfang der dreißiger Jahre; aber er hatte noch nichts errungen in der Welt, er stand noch mitten in dem schweren Kampf, den junge, unbekannte Künstler, die nach der Höhe streben, zu kämpfen haben.

Hier im Bade suchte er Erholung. Und hier sah er sie. Sie war mit ihrer Mutter und drei älteren Schwestern hier. Sie war so jung und so schön, und er mit seinem heißen Herzen und seiner glück- und schönheithungrigen Seele faßte eine glühende Liebe zu ihr.

Aber scheu und furchtsam war er wie ein Bursch vom Lande. Wie er auch sann und grübelte, er fand keinen Weg, sich ihr zu nähern. Da hat er ihr musikalisch gesagt, was er ihr anders nicht sagen konnte. Tag und Nacht hat er damals in seiner kleinen Stube gesessen, komponiert, instrumentiert, Stimmen geschrieben, und dann ist er zum Kapellmeister gelaufen und hat ihm viel gute Worte gegeben, daß er seine Kompositionen spielen lasse.

O, er weiß noch die ganze Serie.

Das erste Stück: »Du bist wie ein Wunder«, dann die Serenade: »Ich suche dich auf allen Wegen«, hierauf: »Stern über dunklem Pfade«, dann »Du Braut meines Herzens«, dann »Am Mooshause« und dann –

Der Herr Hofkapellmeister springt auf und geht den dunkeln Waldgang entlang. Es steht wieder alles deutlich, lebendig vor ihm, als ob's gestern gewesen sei. Wie sie mit ihrer Mutter und ihren drei Schwestern promenierte, wie er sie ansah mit bedeutungsvollem Blick, während die Musik das spielte, was er an Lieben und Leiden ihr sagen wollte, wie sie flüchtig an der Linde das Programm las und dann mit schwerer Röte auf den Wangen zu den Ihrigen zurückkehrte.

Sie hatte ihn ja so gut verstanden.

Und als er seine rasende Ungeduld nicht länger bezwang, als er ihr in dem Stück »Am Mooshause« seine glühende Sehnsucht schilderte, sie allein zu treffen, als er an der stillen Waldhütte, die die Leute das »Mooshaus« nannten, tagelang harrte, kam die Entscheidung.

Scheu wie eine zagende, furchtsame Elfe lugte sie durch die Stämme. Es war sicher ihr erster Gang in die Heimlichkeit. Und als sie ihn sah, erschrak sie und wollte fliehen. Aber da war er schon bei ihr, da lag er schon vor ihr auf den Knieen und hielt sie schmerzhaft fest an beiden Händen.

Da hat er ihr alles gesagt.

Und sie?

Sie hat ihn unter tausend Tränen gebeten, von ihr abzulassen. Sie mußte den reichen Hauptmann heiraten, den er öfter bei ihrer Familie gesehen, sie mußte sich verkaufen, um ihrer Mutter und ihren drei älteren Schwestern die gesellschaftliche Stellung zu retten. –

»In die Nacht,« so hieß das letzte Stück, das er dem Kapellmeister übergab, ehe er abreiste, und das beide, er und sie, mit bleichen Gesichtern anhörten.

Was es für eine Nacht sein würde, in die er ging, ob Tod, Wahnsinn, Sünde – das wußte er nicht.

Aber das Elend war's.

* * *

Ja, es ist doch viel besser gegangen, als er dachte. Er ist nicht gestorben, er ist nicht verzweifelt, er ist nicht heruntergekommen, nein, er hat nur gearbeitet.

Er hat sie sogar vergessen. Es ist nichts mit der Sentimentalität, wenn der Mensch jung ist. Was er von den Wangen an roter Farbe mit scharfen Tränen abwäscht, malt das junge, gesunde Blut alles deutlich wieder hin. Mit der Zeit versiegen die Tränen, und das Blut pulsiert weiter.

So war's ihm gegangen. Unter Arbeit und Lust hatte er die Leiden seiner Jugend vergessen. Nicht, daß er sie verachtete. Wenn er einmal an jene Tage dachte, wußte er auch jetzt noch, daß es zugleich die süßesten und schwersten seines Lebens waren.

Und jetzt war ihm alles wieder deutlich, als sei es gestern gewesen.

Wie war denn das wohl gekommen, daß er sie gerade an der Programmlinde traf, und daß die Kapelle gerade seine Serenade spielte?

Hatte sie das Stück bestellt? Hatte sie die Begegnung absichtlich herbeigeführt? Sie konnte ihn immerhin in den zwei Tagen, die er hier war, gesehen haben, ohne daß er von ihrer Anwesenheit etwas ahnte.

Liebte sie ihn noch immer? Gab es Frauen, die über das, was er Sentimentalität nannte, nicht so leicht, d. h. nicht mit so glücklichem Erfolge hinwegkamen wie er?

Und sie war doch die Frau des anderen. War das für sie keine Schranke? Er kannte viele Leute – Männer und Frauen – denen das keine Schranke war. Ihr auch nicht? Und er selbst? –

Unter der Wucht der auf ihn einstürmenden Fragen floh der Herr Hofkapellmeister aus dem dunkeln Walde hinaus ins Lichte.

* * *

Aus der Kurliste wußte er ihre Adresse. Aber er ging nicht hin; sie hatte ihn nicht eingeladen. Beim Abendkonzert sah er sie nur flüchtig. Ein etwa zehnjähriges Kind hing an ihrem Arme.

Aber den nächsten Morgen war sie frühzeitig wieder da.

Sie war immer noch sehr schön, und ihre geschmackvolle Eleganz erhöhte den natürlichen Reiz. Der Herr Hofkapellmeister rechnete aus, daß sie höchstens 34 Jahre alt sei; da wurde ihm ganz heiß im Herzen, als sie auf ihn zukam.

Sie gingen miteinander die Promenade entlang und kamen in einen Gang, wo kaum noch andere Leute waren. Da senkte sie tief den Kopf und sagte: »Es ist mir etwas Fürchterliches eingefallen: Sie können denken, daß ich gestern das Stück bestellt habe.«

Er wollte antworten, aber sie schnitt ihm das Wort ab.

»Es ist noch derselbe Kapellmeister wie damals, das haben Sie wohl bemerkt, und er scheint Ihr Stück zu lieben. So oft ich noch hierher ins Bad kam, er hat's immer gespielt und nach kurzen Zwischenräumen wiederholt. Sie dürfen mir glauben, daß ich an der Linde ebenso überrascht war wie Sie.«

»Ich bin überzeugt, ich bin leider überzeugt.«

»Leider? Wieso?«

Er sieht ihr tief in die Augen.

»Camilla, haben Sie denn das Glück gefunden?«

Sie senkt den Kopf.

»Das Glück nicht, aber den Frieden, und der Friede ist alles, was ich habe.«

Er steht ihr eine Weile regungslos gegenüber, dann küßt er ihr stumm die Hand.

* * *

Ganz nahe der Kurpromenade an der Berglehne hin führt durch den Wald der Fahrweg nach dem Bahnhof. Ein Wagen fährt ihn entlang, darin sitzt der Hofkapellmeister.

Von unten herauf tönt die Kurmusik.

»Halten Sie mal auf ein paar Minuten, Kutscher!«

Der stille Fahrgast horcht hinab. Er hört Ton um Ton, und er kennt jeden genau.

Unten an der Programmlinde steht zu lesen:

Neu! Zum 1. Male:
»Dein bleibe der Friede!« Lied von *.


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