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Das Köstlichste.

Die ganze Welt war so traumhaft-grau. Das Glück, wenn es Träume bringt, malt seine Bilder mit der Farbe des Äthers oder mit den Flammen des Morgenhimmels. Wer durch diese halbkalte, tote Luft schritt, durch die nur ein paar einsame Krähen segelten und hie und da eine Schneeflocke niederzitterte, der fühlte ein Frösteln und kam zu keinem glücklichen Traum. Und wäre es ein Kummerloser gewesen, so hätte er sich doch vorher in den Lichtschein des Herdfeuers retten müssen, retten vor der allmächtigen Melancholie da draußen, ehe das erschreckte Glück in seinem Herzen wieder ruhig und lächelnd geworden wäre.

»Ob es denn wirklich kein Christkind gibt? Kein Christkind mit weißen Schleiern und goldener Krone? Kein Christkind, das den Lichterbaum durchs Fenster trägt, das die Bleisoldaten aufbaut mit weißer Hand und Nüsse streut und Pfefferkuchen auftürmt? Ob es wirklich keins gibt?«

Eine Krähe setzt sich auf den morschen Wegweiser, der am Kreuzweg steht oben auf dem Hügelrücken, und ein bißchen Schnee bröckelt hinab auf den Knaben, der unten auf dem Meilensteine sitzt. Der richtet sich ein wenig auf, und der schwarze Vogel fliegt fort.

Links ein Tal und rechts ein Tal, links das Dorf, in dem die Kirche steht und die Schule, rechts der weite Wald und an dessen Rande die Mühle.

Der Jakob ist ja ein schlechter Mensch gewesen, der erst vor kurzem einen Taler gestohlen hat. Heute früh ist er fortgejagt worden und war doch fünf Jahre in der Mühle. Aber die Neue bekommt alles heraus.

Der Jakob – ja, ja! Aber er war doch ein guter Bekannter und hat ihm vieles gesagt. Auch das vom Christkind.

»Georg, sei nicht dumm, es gibt kein Christkind! Die Christbäume hab' allemal ich aus dem Busche geholt, und das andere Zeug ist vom Markte aus der Stadt.«

So hat der Jakob gesagt und auch, daß alles immer in dem alten großen Schranke auf dem Boden aufbewahrt werde, zu dem nun die Neue den Schlüssel habe.

Wenn er nur nicht Mutter sagen müßte! Sie ist doch nicht seine Mutter! Eine neue Frau des Vaters ist sie – sonst nichts!

»Jetzt aber bleiben diese drei: der Glaube, die Hoffnung und die Liebe; das Köstlichste aber ist die Liebe.«

So steht mit silbernen Buchstaben daheim auf einem schwarzen Täfelchen an der Wand. Warum ihm das nur jetzt einfällt? Er dachte doch eben an die Neue, die erst vier Wochen in der Mühle ist und die er nicht liebt. Seine rechte Mutter hat er geliebt, aber die ist gestorben.

Wie grau sich der Himmel spannt über den Kirchhof! Nur die hohen Tannen, die darauf stehen, sehen schön aus. Ob die Toten alles wissen, was auf Erden passiert?

Was dann nur die Mutter meinen mag vom Vater!

Sie ist kaum ein Jahr tot. Als sie starb, hat der Vater zum Herzzerbrechen geweint und lauter geschrien als er, Georg, und nach kaum einem Jahre hat er die Neue geheiratet. Vor vier Wochen war die Hochzeit. Getanzt ist ja nicht worden, aber sehr lustig ist's doch hergegangen. Nur er ist nicht lustig gewesen, ganz gewiß nicht lustig. Der neue Anzug ist ja ganz hübsch gewesen, und er hat das erstemal Gamaschen getragen im Leben, das ist aber auch das einzig Schöne gewesen. Sonst – es ist ihm immerzu so beklommen gewesen, und im Halse hat es ihm gesteckt wie damals, ehe er die Bräune bekam. Die Leute haben ihn alle tätscheln wollen, da ist er zu allen ungezogen gewesen. Bei Tische hat ihm die Neue Zuckerzeug in den Mund gesteckt; dann hat sie ihn an sich ziehen wollen. Aber da hat er's nicht mehr ausgehalten, er hat laut aufgeheult und gesagt, die Zähne täten ihm weh von dem Zuckerzeug. Und er ist hinausgelaufen, ein Stückchen in den Wald hinein. Dort hat er laut und lange geweint. Er hat immer auf den Kirchhof laufen und seiner Mutter ins Grab hinein sagen wollen, daß in der Mühle Hochzeit sei, aber er ist doch nicht gegangen. Es hat ihn dann schrecklich gefroren, und er hat gemeint, er sei wohl sehr krank. Da ist er in sein Schlafkämmerlein gegangen und ist in dem neuen Anzuge unter die Zudecke gekrochen. Er hat dann noch recht inständig gebetet, der liebe Gott möge ihn nur sterben lassen, und dann ist er eingeschlafen.

Ganz von fernher klingt Schlittengeläut. Georg steht auf. Es könnte am Ende der Vater sein, der heute in die Stadt gefahren ist, und er würde sich wundern und erst lange fragen, warum Georg so spät aus der Schule kommt. Es mag wohl längst halb ein Uhr vorüber sein.

Der Knabe rückt seinen Schultornister zurecht, und dann wendet er seine Augen hinunter nach dem Kirchhof. Diese Augen mit ihrer ganzen trotzigen Treue und ihrem tiefen Kinderleide. Seine halberstarrte Hand sucht in der Tasche und zieht ein buntes Taschentüchlein heraus. Damit winkt er hinunter. Früher winkte er auch immer an derselben Stelle mit seinem Taschentuche, aber nach der anderen Seite hin, nach der Mühle, wo seine Mutter am Fenster stand.

Im Hinabsteigen denkt er wieder daran, daß es kein Christkind geben soll. Eine große Bitterkeit erfaßt ihn. Warum haben sie's ihm denn immer so vorgeredet, warum ist's denn immer gar so schön gewesen, und warum ist denn da überhaupt heiliger Abend?

Die Bitterkeit verwandelt sich in Groll, und dieser wendet sich gegen seine neue Mutter, nicht gegen den Knecht, der seinen Kummer verschuldet hat. Plötzlich erheitern sich seine Züge. – Ja, ja, das will er tun, das wird sie ärgern! Und er geht rascher auf die Mühle zu. –

Die neue Mutter ist eine schöne, stille Frau. Sie ist in ihren Mädchenjahren in einem Kloster gewesen und hat viel gelernt. In der Mühle ist sie fleißig von früh bis spät.

Sie fragt den Georg nicht, woher er so spät komme. Die Leute haben schon zu Mittag gegessen, aber sie selbst hat auf den Knaben gewartet. Der Vater ist noch nicht aus der Stadt zurück.

Schweigend essen sie das Mittagbrot. Seit der letzten Zeit spricht sie nicht mehr viel mit Georg, steckt ihm auch kein Zuckerzeug mehr in den Mund, aber sie ist immer freundlich zu ihm. Heute sagt sie so nebenher:

»Nun wird ja das Christkind bald kommen.«

Georg legt den Löffel weg. Er lehnt sich auf dem Stuhle zurück, läßt seinen Kopf tief auf die Brust sinken und beginnt mit den Beinen zu schlenkern.

»Es gibt ja gar kein Christkind,« brummt er trotzig.

Die junge Frau blickt erschrocken auf das Kind.

»Es – gibt kein Christkind?«

»Nein, ich weiß es!«

»Seit wann weißt du's?« entfährt es der anderen.

»Seit du da bist!«

»So, so,« würgt die junge Müllerin heraus und geht nach der Küche. Sie kommt bald wieder.

»Wer hat dir denn das eingeredet?« fragt sie.

Der Junge antwortet nicht gleich, dann sagt er trotzig:

»Der Jakob hat's gesagt.«

»So, der Jakob? Und wer hatte dir denn vorher gesagt, daß es doch ein Christkind gibt?«

»Wer? Ich – ich – weiß nicht genau, aber – ich glaube, meine Mutter.«

»Deine Mutter? Nun, da wirst du wohl dem Jakob mehr glauben müssen als deiner Mutter.«

Der Knabe sitzt wie versteinert. Auf dem letzten Teile des Heimweges hatte er sich's so schön ausgedacht, wie er sie ärgern könnte, und nun? Der Jakob und seine Mutter! Aber etwas muß er noch sagen:

»Der Jakob meinte, den Christbaum könnte ich mir ganz gut selbst aus dem Walde holen.«

»Ja, mein Junge, das kannst du, das wirst du sogar tun müssen, wenn du einen haben willst, denn zu einem Kinde, das nicht an das Christkind glaubt, kommt es auch nicht.«

Und sie geht wieder in die Küche. Der Junge ist allein. Er schiebt den Teller zurück und stützt seine Arme auf den Tisch. So schaut er unbeweglich zum Fenster hinaus, an dem weiße Schneeflocken niederfallen.

Wenn er's wüßte, wenn er's ganz genau wüßte! Die da draußen, die sagt nicht ja und sagt nicht nein! Seine rechte Mutter würde ganz bestimmt »ja!« sagen – ja, ja, ja! – Aber – wenn halt dann der Jakob wiederkäme!

Wie es ihn schüttelt, den jungen Zweifler! Der Sturm, der durch seine weiche Seele geht, ist vielleicht nicht so betäubend wie der, welcher durch ein älteres Herz zieht, dem ein Glaube versinkt, aber er ist ebenso kalt. Daß wir uns doch alle so sehr selbst betrügen wollen, alle so begierig sind auf den Tauschhandel an den Marktbuden des Lebens! Und daß wir alle dem pfiffigen Händlergesichte mehr trauen wollen als der bäuerlich warnenden Stimme, die aus unserer Landeinsamkeit uns nachtönt und zur Vorsicht mahnt!

Draußen klingt eine Schlittenschelle. Der Vater kommt. Georg will ihm jetzt nicht begegnen. So geht er hinaus und verkriecht sich in irgend einen Winkel. –

Während der heimgekehrte Müller sein Mittagsmahl verzehrt, sitzt ihm seine junge Frau gegenüber.

»Der Jakob ist doch ein großer Schuft gewesen,« sagt sie; »er hat dich nicht bloß bestohlen, jedenfalls jahrelang bestohlen, während deine kränkliche Frau an die Stube gefesselt war, er hat sich auch an Georg versündigt.«

Der Müller blickt überrascht auf.

»Georg glaubt nicht mehr, daß es ein Christkind gibt, und will sich seinen Christbaum selbst aus dem Walde holen.«

Der Müller schüttelt den Kopf, faßt aber die Angelegenheit leichter auf.

»Nun je, einmal wird er ja doch dahinter kommen,« sagt er.

»Einmal, ja ganz gewiß, aber nicht so plötzlich und gerade jetzt nicht. Georg ist neun Jahre alt. Das ist doch im allgemeinen noch keine Zeit, wo Kinder alles wissen sollen. Und gar Georg. Er ist ein eigenartiger Junge. Deine Frau hat sich viel mit dem Jungen beschäftigt. Er ist in seiner Art viel reifer als alle übrigen Knaben. Dazu hat auch viel der Wald beigetragen und daß er immer so allein ist und mit anderen Kindern nicht zusammenkommt. Wenn ihm nun auf einmal so ein schöner Glaube zusammengerissen wird, – das ist nicht gut, Heinrich. Gerade bei ihm hätte das alles so nach und nach und viel später kommen müssen, daß er gar nichts gemerkt hätte. Und ich – ich hatte mich so auf den heiligen Abend gefreut, und ich dachte, wir – würden uns finden. – Aber ich will dir den Kopf nicht schwer machen, so etwas muß ja auch die Mutter besorgen.«

Der Müller reicht seiner Frau die Hand über den Tisch hinüber. Nach einem Weilchen fragt die Frau:

»Wie steht es mit deinen Geschäften?«

Der Müller kratzt sich hinter den Ohren. Es ist in den letzten Jahren stark bergab mit ihm gegangen. Die lange Krankheit seiner Frau hat vieles dazu beigetragen, und wenn er nicht geheiratet hätte, wäre er sicher auf den Ruin zugesteuert. Da ist er sehr glücklich gewesen, daß er die Anna bekam. Er hat zwar gedacht, sie sei ein wenig zu fein für ihn, aber sie ist außerordentlich tüchtig und hat so einen Überblick über alles, dem nichts entgeht und der ihm selbst fehlt. Ihr Geld freilich, das hat ja der Vater festgelegt, weil er wußte, wie's um den Müller stand.

»Es geht nicht gerade gut,« sagt er jetzt; »weißt du, es fehlt halt am Nötigsten.«

Sie sieht ihn an mit klaren Augen.

»Das Nötigste werde ich geben, Heinrich. Ich bin majorenn, und mit dem Vater mache ich's ab. Aber nur das Nötigste! Im übrigen muß es von selber aufwärts gehen, und die Zinsen vom anderen möchte ich auf den Georg verwenden. Ich möchte gern, daß er in ein oder zwei Jahren auf die Schule kommt nach der Stadt; er ist so begabt, und es wäre jammerschade um ihn.«

Der Müller ist ein prosaischer Mann, aber jetzt schießt ihm doch das Wasser in die Augen.

»Anna, ich weiß nicht, wer mehr gewonnen hat an dir, ich oder der Junge.« – – –

Es ist Nacht. Sonst schläft der Georg immer bald ein, wenn er sich ins Bett legt, aber heute liegt er mit offenen Augen. Es ist so finster in seiner Kammer. Und wenn sich etwas rührt, dann hebt er furchtsam ein wenig den Kopf von den Kissen und starrt mit weitaufgerissenen Augen nach der Tür. Er denkt immer, sie müsse aufgehen und das Christkind werde hereintreten und ihn anschauen mit zürnenden Augen.

Das Christkind, an das er doch nicht glauben will.

Dem Knaben brennt die Stirn. Er hat heut das erste Mal etwas sehr Unrechtes getan, er hat unten ein Stücklein Licht zu sich gesteckt und einen Schlüssel. Wenn er den Schlüssel hat und das Licht, dann kann er hinter alles kommen, meint der junge Zweifler. Aber jetzt scheut er sich doch, beide zu gebrauchen. Die Schranktür, die er öffnen will, könnte knarren, und man könnte unten das Licht bemerken. Der Vater hat aber streng verboten, mit offenem Lichte den Boden zu betreten. Er würde ihn hart bestrafen, wenn er ihn erwischte. Ja, das morsche Holzwerk könnte Feuer fangen, die ganze Mühle könnte abbrennen, und er selber könnte in den Flammen ersticken.

Aber dahinter kommen wird er vielleicht doch.

Plötzlich steht der Knabe außerhalb des Bettes. Er kleidet sich notdürftig an, und dann reibt er ein Schwefelhölzchen an der Diele. Wie das Licht brennt, holt Georg tief Atem. Vorsichtig öffnet er die Kammertür. Er muß über einen langen Korridor gehen. Das Herz pocht ihm unbändig laut, und das Licht zittert in seiner Hand. Die Gegenstände an den Wänden werfen lange gespenstische Schatten, der Wind rüttelt am Dache und verliert sich mit leisem Pfeifen im Walde. Dort in der Ecke, nicht weit von der Treppe, steht der Schrank, von dem Jakob gesprochen. Er soll fast hundert Jahre alt sein. Krampfhaft hält der Knabe mit der Rechten den alten, unförmigen Schlüssel, während ihm auf die zitternde Linke das flüssige Talg tropft. Jetzt steckt der Schlüssel, und jetzt geht die Tür auf. Sie hat geknarrt, und Georg wendet sich lauschend nach der Treppe. Alles totenstill. Da läßt er ein wenig Talg auf die alte Holzdiele tropfen und klebt darauf das Licht fest. Und nun beginnt er mit fiebernden Händen im Schranke zu wühlen. Oben hängen alte Kleider, aber unter diesen liegen einige Pakete und Schachteln. Er öffnet die erste Schachtel, es ist ein alter Muff von seiner verstorbenen Mutter darin, in der zweiten Vaters Pelzmütze, in der dritten ein paar gefütterte Winterschuhe, auch von seiner Mutter her. Die Pakete enthalten auch gleichgültige Dinge: Wolle, eine Anzahl Stoffflecke, eine alte Wäscheschnur.

Nichts!

Aber unten im Schube, da ganz bestimmt. Der Knabe fängt an am Schube zu ziehen, aber er weicht nicht. Das macht ihn doppelt begierig, und er strengt sich über die Maßen an. Was es nur mit dem alten Schube ist, verquollen kann er nicht sein und ein Schloß hat er nicht. Wieder faßt er an, und nun zieht er, daß sich sein Gesicht dunkelrot färbt. Da – legt sich eine weiche Hand auf seine Stirn. Mit einem Schrei fällt Georg auf den Rücken. Neben ihm steht eine weiße Gestalt.

»Hi – Hilfe! Das Christ – kind!«

»Schrei nicht, Georg, sonst hört's der Vater!«

Es ist die neue Mutter.

Georg richtet sich auf und kauert zu Füßen der Frau. Er zittert am ganzen Leibe und ist nicht eines Wortes fähig; Scham und Angst fluten in ihm durcheinander. Was sie nur tun wird!

»Sei nur ruhig, Georg,« sagt sie leise; »ich will dir bloß zeigen, wie man diesen Schub herausbekommt. Siehst du, hier hinten im Schrankboden, da steckt ein Holzstift, den muß man zuerst herausziehen, sonst hält er den Schub fest.«

Sie zieht den Holzstift heraus und ergreift das Licht.

»Was willst du machen?« keucht der Knabe.

»Ich will dir leuchten, mein Junge,« sagt sie freundlich; »so, nun ist der Schub offen, nun suche! Und morgen früh ganz zeitig, wenn der Vater noch schläft, da komm hinunter in die Küche, da werde ich dir das Schlüsselbund geben, und da kannst du alle Schränke und Schübe durchsuchen.«

»Ich mag nicht mehr suchen,« sagt der Knabe und schlägt beide Hände vors Gesicht. So kniet er zitternd vor der jungen Frau. Der matte Lichtschein beleuchtet die Gruppe. Mit unendlichem Wohlwollen hängt der weiche Frauenblick an dem Knaben.

»Du frierst, Georg, möchtest du jetzt schlafen gehen?«

»Ja.«

Sie zieht ihn sanft empor; er läßt es geschehen. Dann legt sie einen Arm um seine Schultern und geleitet ihn langsam den langen Korridor zurück. In der Kammer wartet sie, bis er wieder im Bette liegt. Dann beugt sie sich über ihn.

»Wirst du's dem Vater sagen?« fragt er schüchtern.

Sie schüttelt den Kopf und lächelt dabei. Dann küßt sie ihn auf die Stirn.

Ein wonniger Schauer fliegt über den Körper des Kindes. Und jetzt ist es finster. Sie ist fortgegangen – unhörbar leise. – –

Den anderen Tag geht der Georg einher wie ein Träumender. Er fühlt sich sehr elend. Die »Neue« hat er nicht anzusehen vermocht. Er befindet sich in einer ganz merkwürdigen Stimmung gegen sie. Sie ist sehr freundlich gegen ihn gewesen, aber es ärgert ihn, daß er sich so hat vor ihr schämen müssen. Er fühlt seine Niederlage und ihren leichten, lächelnden Sieg.

Warum er sie erst lange gebeten hat, dem Vater nichts zu sagen? Das war sehr dumm von ihm; denn mehr wie Prügel hätte es nicht gegeben, und die auch nur im schlimmsten Falle. Nun wird sie immer denken, er hätte alles nur ihr zu verdanken.

Und dann – das vom Christkind. Weiß er's jetzt? Nein, er weiß nur, daß in dem alten Schranke keine Geschenke stecken und wohl auch in den anderen Schüben und Schränken nicht, da ihm doch die Neue das Schlüsselbund geben wollte. Gar nichts weiß er.

Nachmittags wird es ihm ungemütlich in der Wohnstube. Der Vater steckt in der Mühle, und da muß er mit der Neuen allein sein. Da beschließt er, einmal hinauszugehen in den Wald, der zur Besitzung seines Vaters gehört. Mühsam bringt er seinen Wunsch vor. Die Neue nickt.

»Ja, Georg,« sagt sie und beugt sich tief über ihre Näharbeit.

Im Hausflur liegt das leichte Handbeil, das sonst im Holzschuppen seinen Ort hat. Georg wundert sich, wer es dahin gelegt haben mag, und auf einen Augenblick fällt ihm ein, daß er das Beil gebrauchen könnte, da er doch seinen Christbaum selbst holen wollte. Aber er läßt es liegen.

Wie er über den gefrorenen Mühlteich geht, fragt er sich, was er eigentlich im verschneiten Walde tun wolle. Es fällt ihm aber nichts anderes ein, als daß er vielleicht ein Reh sehen wird. Es ist ein großer Mühlteich da mit sehr schönem Eis. Auf dem könnte er Schlittschuh laufen, wie die Jungen im Dorfe tun; aber er mag nicht. So etwas kommt ihm dumm und gefährlich vor, und seine Mutter wollte überhaupt nicht gern, daß er mit anderen Kindern spielte. Sie sagte, am allerbesten und schönsten sei es bei ihr in der Mühle. Und das war auch wahr.

Es ist gut, daß er lange Stiefel anhat, denn der Schnee liegt sehr tief. Er watet langsam und vorsichtig weiter, und nur bei der großen Eiche bleibt er ein bißchen stehen. Hier hat oft im Sommer seine Mutter gesessen und er mit ihr. Ja, er hat sogar einmal ein Gedicht auf den Baum gemacht, das handelte von einem Gewitter, und zuletzt reimten sich Leiche und Eiche. Der guten Mutter hat es sehr gefallen, und jetzt muß er's leise vor sich hinsagen.

Durch die weißen und braunen Äste schimmert es grün. Das ist das Tannengehölz. Der Junge muß stehen bleiben und tief Atem schöpfen. – Dort sind die – Christbäume. Es ist bloß die große Frage, wer sie putzt, das Christkind oder die Eltern. Die ganze Zweifelsqual bricht wieder über ihn herein, und merkwürdig, dabei denkt er immer nur an den Jakob und nicht an seine Mutter.

Langsam geht er näher. Er fühlt jetzt deutlich, daß er doch nicht imstande sein würde, eine junge Tanne zu fällen. Aber ansehen will er sie.

Und wie er näher kommt, bleibt er plötzlich wie gelähmt stehen, sein Gesicht wird bleich wie der Schnee, die Augen flammen auf … groß … groß … dann verlöschen sie plötzlich … und der Knabe … sinkt langsam um … in den Schnee …

Zehn Schritte vor ihm steht ein Christbaum mit bunten Lichtern und goldenen Fäden, mit roten Äpfeln und schimmerndem Zucker, ein Christbaum mit einem Engel und einer Krone, ein Christbaum ohne Holzständer, festgewachsen im Waldboden …

Eine Frauengestalt huscht aus dem Dunkel der Bäume und rafft den ohnmächtigen Knaben empor. Sie ist nicht stark und zittert heftig, aber sie erträgt das Kind, und bis zur Mühle ist's nicht weit …

Die Schneedämmerung leuchtet durchs Fenster herein in ungewissem Lichte.

Der Knabe liegt in tiefem Schlafe. Am Bettrande sitzt die junge Frau; sie hat die Hände gefaltet und schaut unausgesetzt in das gerötete Gesicht des Kindes. Über dem Bette hängt eine kleine Photographie … die Mutter Georgs darstellend.

Es ist zu dämmerig, als daß die junge Frau die Züge des Bildes genau unterscheiden könnte. Sie weiß nicht einmal, ob jene Augen zufrieden sind oder zürnen. Aber ihre junge Seele zittert vor der Größe der Verantwortung, und sie will reden … Rechenschaft geben … der anderen.

Die junge Müllerin ist eine zu schlichte Frau, als daß sie Worte fände für die feinen Regungen und Instinkte ihres Herzens, die sie geleitet haben. So kann sie auch nur mit dem Herzen reden, während sie mit gefalteten Händen dasitzt und hinüber schaut nach dem kleinen Bilde an der Wand.

Er ist so einsam, so weich, so verträumt, dieser Knabe. Ist ein so kluges Kind, das an einem neuen Strahl, der in seine Seele fällt, festhängt und seine Gedanken daran unausgesetzt fortspinnt. Dazu seine tiefe, kranke Melancholie. Wenn dem, der noch immer hinüberwinkt und hinüberdenkt nach dem Kirchhofe, jetzt die Kindheit genommen würde, wo ihm nichts Ersatz bietet, nichts, und er seinen ungeheuren Verlust am Gemüt tragen müßte zusammen mit der tiefen Trauer seiner Verwaisung, so wäre das viel zu viel für die junge Seele, und in die nicht allzu starke würden die Keime des Hasses und des Pessimismus gestreut mit der wuchernden Fülle des Unkrautsamens.

Nein, nein! …

Wenn ihm einmal der holde Christkindglaube versinkt, muß er stark und ruhig sein …, muß er erst wieder eine Mutter haben, die ihn leitet … führt … zu trösten weiß.

Und jetzt hat er keine Mutter.

Die junge Müllerin schüttelt das Haupt gegen das Bild.

»Ich nehme dir ihn ja nicht, … du, … ich will ihn ja bloß lieben.«

Ein Stern geht auf draußen am grauen Schneehimmel. Da wird das erregte, junge Weib ruhiger. Der Knabe aber wälzt sich unruhig im Bette, und plötzlich beginnt er mit ängstlicher Träumerstimme:

»Das Christkind … ich … ich … glaub's ja, ich glaub's … glaub's … Der Schrank ist leer … Der Christbaum steht … im Walde … und zu den Kindern, die nicht mehr ans Christkind glauben, kommt es auch nicht … Der Jakob …«

Voll Erbarmen beugt sich die junge Frau über das Kind und küßt es so heftig, daß es die Augen aufschlägt.

Erschreckt starrt der Knabe auf, dann schauert er in sich zusammen und drückt das Deckbett gegen's Gesicht. Nach einer Weile beginnt er heftig zu weinen. Die Müllerin läßt ihm Zeit. Dann fragt er:

»Bist du sehr böse auf mich?«

»Ich? Warum denn, Georg?«

»Weil ich … weil ich nicht ans Christkind geglaubt habe.«

»Und jetzt, Georg?«

»Jetzt glaube ich's … draußen im Walde steht ein Christbaum.«

»Ja, mein Junge, ich habe ihn auch gesehen.«

»Du?«

»Ich fand dich ja dort.«

»Du fandest mich? … Sonst wäre ich gestorben!«

Und er kriecht wieder schauernd ins Bett zurück. Dann beginnt er von neuem.

»Es kommt nie mehr zu mir.«

»Das Christkind, meinst du?«

»Ja, weil ich nicht daran geglaubt habe.«

»Es wird kommen, mein Kind, ich werde für dich beten.«

Eine tiefe, lange Pause. Dann fragt der Knabe schwer beklommen:

»Wer kann … denn so etwas … erbitten für solche … Kinder?«

»Wer, Georg, wer?«

Zitternd kommt die Frage von dem Frauenmunde, und zwei in bezwingendem Glanze aufleuchtende Augen neigen sich über das Kind. Da schreit der Knabe auf.

»Die Mutter!«

Und er hängt ihr am Halse …

Ein glückseliger Weihnachtsabend ist gekommen für die Mühle. Der Christbaum brannte, der Christbaum aus dem Walde. Nun ist der beglückte Knabe in seiner Kammer. So viel hat er geschenkt bekommen und gerade das, was er sich am meisten gewünscht und von dem er doch meinte, es wüßte niemand davon. Aber das Christkind weiß alles … Er hat einen festen Glauben daran …

Auch der Müller ist glücklich. Er hat gerade heute so schöne Pläne für die Mühle und für den Jungen … Soviel neue Hoffnung! …

Die junge Müllerin ist allein noch in der Wohnstube. Der Festglanz ist erloschen, nur ein Wachslicht brennt in ihrer Hand. Von der Wand leuchten auf einer schwarzen Platte silberne Buchstaben auf sie herab. Beschämt schlägt sie die Augen nieder und schließt sie endlich gar; aber sie sieht die Schrift auch durch die gesenkten Lider hindurch:

»Jetzt aber bleiben diese drei: der Glaube, die Hoffnung und die Liebe; das Köstlichste aber ist die Liebe.«


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