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Seeschwalben.

Ich habe einmal einen sonderbaren Freund gewonnen. Der war Schullehrer aus einer Hallig. Wilhelm Schmitt hieß er und war eben ein Mittefünfziger, als ich ihn kennen lernte.

Seine Heimat war so trostlos, wie die Halligen alle sind, – ein langgestrecktes, fahlgrünes Eiland, an dem das Meer fraß; auf der Düne ein paar kleine Dünenrosen und ein wenig Erika, sonst nur sehr kümmerliches Gras.

Aber ich fand bei Schmitt, was ich suchte – Einsamkeit und die Gelegenheit, ein wenig dem Friesischen nachzuforschen. Die tote Ruhe, die sonst in den niedrigen Hallighäusern herrscht, wohnte im Schulhause nicht, nur die friedliche Stille, die jeder verträgt, auch der moderne Mensch.

Schmitt lebte seit mehr als dreißig Jahren als Lehrer auf der Hallig. Er hatte wohl nie einen Versuch gemacht, von da wegzukommen, denn er war selbst ein Kind der Hallig. Viel Schüler hatte er nicht; die Leute auf dem Eiland brachten ihre Kinder, und von den benachbarten Inselchen kam manchmal eines herüber, wenn es das Meer erlaubte, und wenn die Leute Zeit und Lust hatten.

Das Schulhaus war sehr hübsch und ragte unter den elenden Hütten auf wie ein Schlößlein oder wie eine Festung. Es war erst unter preußischem Regiment gebaut, und die Regierung hatte an die Werft, d. h. an den künstlichen Hügel, der das Gebäude trägt, mehr Geld gewandt als an das ganze Haus. So hatte denn der Schulpalast auch bis jetzt alle Sturm- und Springfluten siegreich überstanden, was nicht wenig dazu beitrug, mein Wohlbehagen und Sicherheitsgefühl auf der kleinen Insel zu mehren.

Schmitt erzählte mir einmal, daß in einer einzigen Nacht mehr als die Hälfte seiner Schüler ertrunken seien. Da hat er am anderen Tage auf der Düne, die der Stolz der Hallig war, ein bißchen zerzaustes Heidekraut gesammelt und ein ganz kleines Kränzlein gemacht. Das Kränzlein hat er auf die Flut gelegt, und es ist über das weite, große Grab geschwommen, in dem die kleinen Schläfer ruhten, als eine letzte Gabe von ihrem Lehrer.

Die Halligleute können nicht lachen. Auch Schmitt lachte nie, aber er hatte doch ein freundliches, friedevolles Wesen. Es ist immer so: je mehr es um den Menschen tobt und wirbelt, desto stiller wird es in ihm selbst.

Interessanter noch als Schmitt war seine Frau Regina. Sie war eine Professorentochter aus Berlin. Es sind mir wenig Frauen im Leben begegnet, die ich so geachtet habe wie sie. Ein kluges, stilles Weib war sie mit unsagbar weichen Händen. Eine derer, vor denen sogar die Bösewichte zahm und die Spötter stille werden. Ich habe auch selten ein Ehepaar kennen gelernt, das sich nach so langer Ehe noch eine so innige und doch fast ehrfürchtige Zärtlichkeit bewahrt hätte, wie diese beiden Leute.

Für den Mann war die Frau ein Segen. Sie rettete seine Seele vor der Erstarrung und war ihm mit ihrem goldenen Herzen und ihrem klugen, feinen Kopfe die beste Gesellschafterin.

Ich hatte viel Respekt vor meinem Freunde Schmitt; aber ich wunderte mich doch im stillen darüber, daß ihn Frau Regina genommen. Da saß ich einmal mit ihr auf der kleinen Bank, die in dem Gange stand, der rund auf der Werft um das Schulhaus herumlief. Schmitt war nicht zu Hause, und da erzählte sie mir.

Sie war mit ihrem Vater, dem Professor, nach der Hallig gekommen. Der war auch ein Einsamkeitsmensch und ein Freund des Friesischen. Schmitt war damals noch ein junger Mann. Sehr schön und sehr stark sei er gewesen, sagte Frau Regina. Er gefiel ihr schon bald, und es rührte sie sehr, daß er seine arme Heimat und deren ebenso arme Menschen so liebte. Er sei ihr immer als ein echter Heilandsjünger vorgekommen: so arm und so ein Freund der Armut, so still, so stark und immer so bereit zum Helfen.

Der Vater Reginas war ein eifriger Schlickläufer. Wenn das Meer zurückebbte, ging er hinaus auf den Schlickboden. Er sammelte keine Muscheln und ging nicht auf die Seehundsjagd; er wollte bloß draußen sein. Schmitt begleitete ihn anfangs, aber mit der Zeit ging der Professor allein.

Und da geschah es, daß der einsame Wanderer mitten auf dem trügerischen Meeresgründe vom Nebel überfallen wurde.

Das ist das furchtbarste Entsetzen, das den Menschen befallen kann. Der lähmende Schreck, der den Armen durchblitzt, nach dem unvermutet eine Bestie die Pranke streckt, ist nur ein kurzer, dann kommt der Tod. Aber draußen sein auf dem Meeresboden und plötzlich umhüllt werden von den weißen Sterbeschleiern, die keinen Ausblick mehr gewähren, das ist so schlimm, wie lebendig begraben zu sein. Wo ist rechts, wo ist links, wo geht es zum Lande, und wo führt der Weg hinaus ins endlose Meer? Die Wasserrillen füllen sich, wie giftige Schlänglein rieseln sie um die Füße, die graue Flut steigt empor, Sekunde um Sekunde, die Angst benebelt den Sinn, der Tod lauert an allen Enden. Dann schreie, schreie in der Todesangst, es hört dich niemand, die Wasser nur spielen um deine Füße, und es gluckst und quillt und lacht um dich, den Verlorenen!

»Sehen Sie, aus einer solchen Not hat mein Mann den Vater befreit. Ich sehe noch, wie er mit dem Nebelhorne hinauslief mitten in den dicken, heimtückischen Nebel hinein. Und der Ton des Hornes klang weiter, immer weiter und verlor sich. Ich stand hier allein, und damals bangte ich um zwei! Schildern läßt sich das nicht. Aber er brachte ihn, bewußtlos, doch lebend. Damals habe ich diesem Helden gesagt, daß ich ihn liebe – ich zuerst!«

»Und er wurde mein Mann. Es ist sehr einsam hier bei uns, und doch – ich bin ganz glücklich. Dreimal war ich noch in Berlin, aber es war mir immer sehr bange dort. Ich möchte nirgendwo anders sein als hier.«

»Haben Sie keine Kinder gehabt?« fragte ich.

»O ja, einen Sohn!« sagte sie ruhig. »Er wollte Seemann werden, wie alle die Burschen hier. Und da ist er auf seiner ersten Fahrt verunglückt. Mit 14 Jahren! Sein Schiff scheiterte in den japanischen Gewässern während eines Taifuns.«

»Das ist fürchterlich,« warf ich ein.

»Das Meer will Opfer,« sagte sie langsam. »Ich war einmal drüben.«

»In Japan?« fragte ich erstaunt.

»Ja,« sagte sie milde; »ich hab' es möglich machen können, weil ich noch mein Erbteil hatte. Ich wollte dem Jungen noch einmal nahe sein.«

»Ist denn seine Leiche gelandet?«

»Nein, nein,« sagte sie, »ich hab' bloß über die Stelle im Meere fahren können. Aber ich war ihm doch nahe.«

Das war eine Mutter! –

Sie lächelte wieder.

»So kommt es, daß wir so aneinander hängen. Wir sind so ganz aufeinander angewiesen.«

Inzwischen kam Schmitt.

Wir blieben auf der Bank sitzen. Der Abend kam. Das blaßgelbe, lehmige Meerwasser wurde für eine Weile vom Abendgolde überschüttet, die kleinen Fensterscheiben blitzten, und selbst das kurze fahle Gras schimmerte goldiggrün. Da erschien mir – was ja niemals sein kann – die Hallig schön.

Die Nacht stieg herauf. Da drang ein weher, klagender Ton an unser Ohr. Das klang so melancholisch, wie ich selten etwas gehört habe. Ich blickte fragend auf Schmitt.

»Es ist eine Seeschwalbe,« sagte er. »Die Tierchen leben paarweise in großer Zärtlichkeit zusammen. Wird eines von dem Paare getötet, so klagt das andere so lange, bis es auch stirbt.«

Frau Regina schmiegte sich fest an ihren Mann, und er legte den Arm um sie. – – –

* * *

Ich hatte noch oft Gelegenheit zu sehen, wie unzertrennlich die beiden Ehegatten lebten. Sie waren meist beisammen. Er saß bei ihr in der kleinen Küche, und es geschah, daß sie während des Unterrichts bei ihm in der Schulstube war. Dann saß sie in einer Bank wie ein großes Kind und hörte ihm schweigend zu.

Der Halligschullehrer behauptete, er könne die Einsamkeit nicht vertragen; er müsse immer Gesellschaft haben. Und er hatte auch immer Gesellschaft, immer dieselbe. Die vier Monate, da sie in Japan war, sind ihm länger geworden als vier Jahre. Er ward krank in der Zeit.

Und als sie zurückkam, hat er sogar auf den toten Knaben vergessen. So überselig war er.

Ans Festland kommen sie selten und dann immer zu zweien.

»Es ist nichts da drüben,« sagte Schmitt, »man ist nicht allein; man kann sich verlieren.«

Ich wußte, daß beide die stille Hoffnung hatten, sie würden einmal zusammen sterben. Ja, sie beteten darum.

Einmal war eine fürchterliche Nacht. Das Meer donnerte und brauste, und der Sturm heulte über das schwarze Wasser. Die Hallig war von der rollenden See überflutet, und nur die Menschenhäuser aus ihren Werften ragten über die grausige Flut. Mir erstarb das Wort auf den Lippen vor Entsetzen, wenn eine Woge ans Fenster schlug oder das ganze Haus zitterte und bebte in dem Ansturm der Elemente. Im stillen machte ich meine Rechnung mit dem Himmel.

In der Wohnstube brannte die Petroleumlampe, und Frau Regina bereitete den Tee. Schmitt sah ihr lächelnd zu.

»Fühlen Sie sich so sicher?« fragte ich endlich.

Er schüttelte den Kopf.

»Das Meer ist Gottes Kind, und wir sind Gottes Kinder,« sagte er. »Aber ein Unglück kann schon geschehen. Der Edystone ist ja eingefallen, was ist da so ein Häuslein! Aber ich denke, die Regierung hat schon Geld genug für ein neues.«

»Und um etwas anderes ist es Ihnen nicht?«

»O ja, – um Sie! Aber ich glaube, so schlimm wird's diese Nacht nicht.«

Ja, ich glaubte es; wenn das Haus barst und die Wellen hinaufkrochen bis zum obersten Fenster, die letzte tödliche Woge würde zwei umschlungene Menschen finden mit friedlich-stillen Gesichtern.

* * *

Ich war längst wieder zu Hause, da bekam ich eines Tages einen Brief mit Schmitts Handschrift.

Freudig öffnete ich das Schreiben, denn ich hoffte auf gute Nachricht von den Freunden. Da stand auf dem Briefbogen nur ein Satz:

»Denken Sie mal: meine Frau ist gestorben. Schmitt.«

Ich stand wie gelähmt, ich wollte es nicht begreifen. Kein Trauerabzeichen hatte der Brief, nur den einen Satz enthielt er. Und in solcher Fassung!

Aber das ganze furchtbare Weh des Vereinsamten, Zurückgebliebenen lag doch in diesem einen Satze.

Er konnte es wohl noch nicht begreifen, er mochte wohl noch wie ein Ungläubiger vor seinem Verluste stehen.

Ich schrieb ihm; ich suchte ihn auf, sobald es mir möglich war.

Ein Schiffer setzte mich über. Das Schulhaus stand einsam. Da fand ich ihn endlich am Grabe Reginas. Er war ganz grau geworden.

Ich nahm ihn zärtlich an der Hand.

»Sind Sie täglich hier?« fragte ich.

»Immer, manchmal auch in der Nacht.«

Mich fröstelte.

»Sie sollten's nicht tun, lieber Freund, es zehrt doch so an Ihrer Seele.«

Er lächelte müde.

»Ich muß es ja tun, – sie ist ja meine Einzige. – Ich bin ihr nahe – nur, daß sie nicht reden kann, – daß ich sie nicht sehen kann. – Ich möchte sie so gern einmal sehen! – Ich gäb' mein ganzes Geld für fünf Minuten!« –

Die Nebel brauten um die einsame, tote Hallig, und ein klagender Laut kam vom Strande herüber. Bald darauf zog eine Seeschwalbe müde und krank an uns vorüber.

* * *

Auch er mußte sterben. Er würde sich zu Tode trauern. Und es gab keine Rettung. Es wäre Wahnwitz gewesen, ihn von der Hallig fortnehmen zu wollen.

Und kaum war ich heimgekehrt, da bekam ich einen neuen Brief, der war kaum noch zu lesen.

»Kommen, kommen! Regina ist fort!«

Ich nahm Urlaub und reiste.

Als ich ins Schulhaus kam, kauerte er in einer Ecke der Wohnstube. Er erkannte mich kaum. Über seinem Geiste lag die Nacht.

Endlich sprach er.

»Auf der sichersten Stelle hab' ich sie begraben! – Mauern lassen das Grab – Mauern! – – Aber das Meer hat die Hallig gefressen – gerade an der Stelle! – – Verfluchte Hallig!«

Ich wußte schon alles. Die Hallig war mitten entzwei gerissen worden, und das Grab war mit verschwunden. Das hatte ihm den Verstand genommen.

Plötzlich machte er ein listiges Gesicht und flüsterte: »Wo ist sie? – Ist sie vielleicht gar nach Japan geschwommen? – – Der Junge ist drüben – den hat sie geliebt – o ja! –«

Dann fängt er an zu rasen.

»Aber mich auch! Mich auch! Mich auch! Mich noch viel mehr! Das ist wahr – – – ja, ja – – – wahrhaftig – – ich – ich lüge ja nicht! Mich noch mehr!«

Ich muß ihn fortbringen, bald! Er bedarf dringend des Arztes und der Pflege. Er ist ja so wie so verloren, aber ich muß doch meine Menschenpflicht tun. Da sage ich:

»Es könnte doch sein, daß sie nach Japan wäre!«

»Nach Japan? – Zu dem Jungen?«

»Ja, ich denke! Möchten wir nicht zusammen hinfahren und sie suchen?«

Er versinkt in tiefes Nachdenken.

»Nein,« sagt er dann. »Sie geht nicht weg von der Hallig. Es ist ihre geliebte Hallig. Das hat sie gesagt. Sie ist noch da. Irgendwo da draußen ist sie. Ich such' sie immer.«

»Sie gehen auf den Schlickboden?« frage ich entsetzt.

»Alle Tage zweimal,« sagte er. »In einer Stunde ist's Zeit. Ich finde sie einmal, das weiß ich. Dann bring' ich sie hierher, und dann kocht sie mir Tee. Sie wird bald sehen, daß ich krank bin.«

Mir graust so allein mit ihm. Ich springe zum nächsten Nachbar. Der ist ein verständiger Mann. Ich mache ihm Vorwürfe, daß er Schmitt hat allein ins Meer hinauslaufen lassen. Aber er sagt, er ließe sich nicht halten, und er käme auch immer rechtzeitig zurück. So ein alter Schlickläufer finde sich schon zurecht.

Trotzdem will ich Schmitt zurückhalten. Meine Überredungskünste sind freilich ganz erfolglos. Und doch kann ich ihn nicht hinauslassen in diesen Nebel! Da wende ich in der letzten Not Gewalt an.

Er aber entspringt mir und ist im Nu verschwunden. Ich will ihm nach, die Leute hindern mich. Ein paar Männer machen sich endlich auf meinen dringenden Wunsch auf, Schmitt zu suchen.

»Er kommt wieder,« trösten die Halligleute.

* * *

Nein, er kommt nicht wieder! Die Männer kommen zurück; sie haben keine Spur von Schmitt.

Die Flut tritt ein, der Nebel verdichtet sich. Laut gellen die Hörner.

Das Wasser steigt, höher, immer höher! – Da ist es zur Gewißheit geworden. – Mit bleichen Gesichtern stehen um mich die Halligleute. Und metertief schlägt das Meer an die Küste. – – –

In der Nacht ist Mondschein über dem Meere. Ich schaue hinaus. Da ist es mir, als ob seine leise Stimme spräche:

»Ich hab' sie gefunden draußen und bin bei ihr geblieben!«


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