Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Das alte Heim.

O Gott, … lag denn diese Straße wirklich in derselben Stadt, in der er wohnte? Fast schien es ihm unbegreiflich.

Er wußte wohl: vor Jahren hatte er in diesem Stadtteil gewohnt, war er täglich diese selbe Straße entlang gegangen, viele Male. Es war ihm heute, als ob er in eine alte, liebe Heimat zurückkäme, aber es war ihm auch, als sei er unterdes in weiter Fremde gewesen, in einem Lande, fern überm Meer … viele Jahre.

Und doch hatte er immer in derselben Stadt gewohnt, die ganze Zeit. Nur in ein anderes Viertel war er gezogen, in ein Viertel am anderen Ende der Großstadt. Von seiner jetzigen Wohnung aus war dieser Stadtteil mit der elektrischen Straßenbahn in einer halben Stunde zu erreichen, und er war in ihm seit 10 Jahren nicht gewesen.

Ja, er hatte ihn absichtlich gemieden. Manchmal war's nahezu ein Kunststück gewesen; aber er hatte es doch fertig gebracht …

Was wollte er nur heute hier? Er wußte es nicht. Absichtslos, nur mit einem ganz leisen Schauern hatte er beim Spaziergang den Schritt über die Strombrücke gelenkt, die hierher führte.

Nun ging er willenlos wie ein Träumender den wohlbekannten Weg entlang, immer seiner früheren Wohnung zu, … ging nach Hause.

Es hatte sich ja mancherlei hier geändert. Die elektrische Bahn durchsauste die Straße, ein paar alte Häuser waren weggerissen, neue, aber durchaus nicht schönere Gebäude standen an ihrer Stelle, viele Firmenschilder waren geändert, und wo früher die kleine Buchhandlung war, handelte jetzt ein dickes Weib mit Filzschuhen und wollenen Strümpfen.

Aber der Fleischer war noch da. Er stand hinter seiner Ladentafel, rund und rosig und sauber wie einst. Der einsame Mann trat in den Laden und verlangte für 25 Pfennige gewöhnliche Wurst. Der Fleischer bediente den Herrn in dem vornehmen Pelze mit seiner besten Höflichkeit und schaute ihn immer an und war wohl sehr verwundert. Aber er kannte ihn nicht und hatte doch vor Jahren mit ihm täglich geplaudert.

Draußen schenkte der Herr die Wurst einem armseligen Gassenbüblein. Das wollte sie anfangs gar nicht nehmen, und als der Bursche schon das Papier in der Hand hielt, prüfte er erst den Inhalt mit vorsichtiger, verdächtigender Miene. Aber dann roch er ein wenig daran und aß das Geschenk des unheimlich freigebigen Herrn auf, ob es vergiftet war oder nicht.

Der Fremde ging weiter. Gewohnheitsmäßig kehrte er beim Kaufmann ein und verlangte ein halbes Dutzend Zigarren, das Stück zu 6 Pfennigen. Während der Kaufmann den Beutel füllte, fiel dem Käufer ein, das Rauchen sei eigentlich ein teurer Luxus. Er könnte viel Geld sparen, wenn er's unterließe; aber er konnte sich's nun einmal nicht abgewöhnen. Er bezahlte 40 Pfennige und bekam 4 Pfennige zurück, die würde er natürlich der alten Henselten schenken, die ja um dieselbe Zeit schon immer vor dem Zigarrenladen auf ihn lauerte. Nun, wer sich selbst einen kostspieligen Genuß gestattet, kann für andere auch etwas tun.

Der Fremde lächelte. Wie weit verlor er sich doch! Gott weiß, wie lange die alte Henselten schon keinen Pfennig mehr brauchte.

Aber als er aus dem Laden trat, … war sie da. Er erschrak vor ihr, wie vor einem Gespenste. Sie aber hob den vermummten Kopf zu ihm empor, blinzelte ihn mit ihren trüben Äuglein an und sagte, indes ein unendlich glückliches Lächeln über ihr verrunzeltes Gesicht ging:

»Herr Berthold … hab' ich doch recht gesehen … hab' ich doch recht gesehen … Nein, so was … und ich hab' Sie so lange nicht …«

Ein Hustenanfall erstickte ihre Stimme. Das hinderte sie aber nicht, ihm ihre braune, magere Hand hinzuhalten. In die ließ er mechanisch die 4 Pfennige gleiten, die er noch zwischen den Fingern hielt. Die Alte erholte sich, besah das Geld beim Laternenlicht und nickte ihm zu: die Rechnung sei richtig. Da faßte er sich endlich.

»Nu, Henselten, leben Sie denn immer noch?«

»Immer noch!« sagte sie weinerlich.

»Und haben Sie mich richtig wiedererkannt?«

Da machte sie ein geschäftsmäßig-kluges Gesicht.

»Nu, ich wer' doch! Sie sein ja immer mei bester Kunde gewesen.«

Er lachte.

»Haben Sie denn eine feste Kundschaft?«

»O je, man muß wissen, wo man was herkriegt. Ich hol' mir's so auf der Straße zusammen seit 15 Jahren. Sie sein wohl ganz von hier fortgemacht gewesen?«

»Ja, Henselten, ja, das heißt, warten Sie mal … es freut mich riesig, daß Sie mich wiedererkannt haben … da, nehmen Sie nur …, ich bin's Ihnen lange genug schuldig geblieben.«

Die Alte starrte auf das große Geldstück, das er ihr hinhielt.

»Nehmen Sie nur, … ich werd' mich jetzt schon besser um Sie kümmern. Wo wohnen Sie denn?«

Sie stammelte ihre Wohnung. In diesem Augenblicke nahte ein Schutzmann. Da griff sie scheu nach dem Geldstücke und humpelte mit langen Schritten davon.

»Verzeihung, mein Herr, sind Sie von der Alten angebettelt worden?«

»Angebettelt? Ich? Keine Idee! Wir sind gute Bekannte! Ich hab' mich gefreut, sie wiederzusehen.«

» Pardon! Wir haben nämlich die Frau neuerdings im Verdachte, daß sie bettelt.«

Herr Berthold ließ den findigen Polizeimann stehen und ging.

Die Straße endete, ein kleiner Platz kam. Den Einsamen befiel ein Zittern. Hier hatte er gewohnt. Ob er's wagte, einmal bis an das Haus hinüberzugehen, bis an das Haus, in dem er so namenlos glücklich und so zum Tode verzweifelt gewesen war? Es waren kaum zweihundert Schritte.

Er ging. Aber mitten auf dem Platze blieb er stehen. Dort drüben lag das Haus! Nummer 28 war's, … eine richtige Mietskaserne. Und doch sah's jetzt nicht unschön aus. Fast aus jedem Fenster fiel Lichtschein. Das war ein Zeichen, daß lauter kleine Leute dort wohnten.

Nur die Fenster, hinter denen er gewohnt hatte, waren dunkel. Minutenlang schloß er die Augen. Es störte ihn niemand; der Platz war nicht reich an Verkehr.

Vor vierzehn Jahren war er dort drüben eingezogen, ein armer Kerl, aber doch ein glücklicher Mann. Sein Kleinod war die Margarete gewesen, sein junges, strahlendes Weib. Jetzt wohnte er in einem viel schöneren Hause, jetzt hatte er ein anderes Weib …

O Gott! …

Ja, es ging doch nicht, daß er so erregt dastand, es würde auffallen. Langsam ging er vollends hinüber. Nummer 28! Ein Schild hing an der Haustür.

»Freundliche Wohnung im zweiten Stock, drei Zimmer mit Zubehör, 480 Mark, bald zu vermieten.«

Das mußte »seine« Wohnung sein. Er trat zurück. Richtig, die Fenster waren ohne Gardinen. Die Wohnung war frei.

Mit raschem Entschluß trat er in das Haus. Ein Klingelzug war da, daneben stand: »Zur Hausmeisterin!«

Er schellte.

Lange mußte er warten. Da endlich kam ein schlürfender Schritt die Kellertreppe herauf. Es war wirklich noch die alte, langsame Hausmeisterin. Er erkannte sie genau, doch sie kannte ihn nicht.

»Bitte, wollen Sie mich in die freie Wohnung im zweiten Stock führen.«

»Die Wohnung wird nur bei Tage gezeigt.«

Er suchte in der Tasche und gab ihr ein Markstück.

»Machen Sie eine Ausnahme, ich hatte nicht eher Zeit!«

Da war sie willfährig und holte ein Licht.

Sie stiegen die erste Stiege hinauf. Sie kam ihm sehr schmal und steil vor. Früher war ihm das nicht aufgefallen; jetzt war er verwöhnt. Im ersten Stock las er die Türschilder.

»Ah, wohnen die Wendrichs immer noch hier?«

»Ja! Der Herr kennt wohl die Madame Wendrich? Die Tochter ist jetzt verlobt.«

»Die Luise?«

»Ja, die Luise.«

Na also! Vor 12 Jahren schon war das Mädel heiratsfähig und die Mutter hielt eifrige Ausschau für sie. Und jetzt ist sie schon verlobt. Nur Geduld muß man haben.

Die zweite Stiege!

»Warten Sie mal! Langsamer, – langsamer – ich – ich hab' etwas kurzen Atem.«

»Wir sind gleich da. Hier – rechts ist die Wohnung!«

Er bleibt auf den letzten Treppenstufen stehen und hält sich an das Geländer. Die Kräfte drohen ihm zu schwinden – eine Angst packt ihn – eine furchtbare Scheu, da hineinzugehen.

»Sie! Ich glaube doch, es ist besser, wenn ich bei Tage wiederkomme.«

»Nu da! Jetzt, wo der Herr oben ist! Nee, nee, – ich hab' hier 'n Stückchen Licht – bitte, kommen Sie nur! – Also das hier ist das Entree – es ist sehr geräumig –«

»Jawohl,« sagt er, indes er in der offenen Tür lehnt, – »4 Meter 20 lang und 1 Meter 80 breit.«

»Na, sowas, – so ein Augenmaß, – gestern erst ist's ausgemessen worden! Das stimmt ja aufs Haar! Das is ja rein die Unmöglichkeit.« –

»Zeigen Sie mir rasch die andere Wohnung, – ich – ich muß dann wieder fort – jawohl, ich hab' ja nicht Zeit –.«

»Gleich, lieber Herr! – Nanu, was ist 'n das für 'n Geschrei dort unten? Jeses, das is der Julius, – mein Enkelsohn, lieber Herr, – der is gewiß wieder gefallen, – das Kind, das Kind, – 'n Augenblick bloß, lieber Herr, muß ich mal runter, – ich bin gleich wieder da – der Julius – entschuldigen Sie nur – der Junge –

Und sie drückt ihm das brennende Stearinlicht in die Hand und läßt ihn allein.

Regungslos steht der Fremde. Es ist totenstill um ihn her. Nur die Flamme knistert leise, und ein wenig Stearin tropft auf die Diele. Da wendet er scheu den Kopf und zuckt kurz zusammen vor seinem eigenen Schatten, der sich dunkel von der Wand abhebt.

Endlich geht er auf die eine Tür zu und legt die Hand auf die Klinke. Aber er bleibt zögernd stehen, als ob er in ein Mysterium eindringen sollte.

Wenn er öffnete, und der Tisch wäre gedeckt da drin wie einst, und sie stünde in der Stube und säh' ihn an mit ihren freundlichen Augen! Die Hand zittert ihm heftig, und da geht die Tür auf.

Ein leerer, dunkler Raum. Nur das Stearinlicht wirft einen unsicheren Schimmer über das Gemach hin.

Das war ehemals seine Wohnstube! Dort stand das Sofa, dort der Tisch, dort sein kleiner Schreibtisch, dort ihr Nähtisch. Er weiß noch alles, er weiß, wo jedes Bild gehangen hat an der Wand. Und jetzt ist alles fort; das Sofa, der Tisch, die Bilder und – sie!

In jähem Schmerz legt der Mann die Hand über die Augen. Dann rafft er sich auf und sieht sich genauer in der Stube um. Es ist eine andere Tapete, aber es stecken noch ein paar Nägel in der Wand von seiner Zeit her. Auch der Ofen hat noch die zwei zersprungenen Kacheln, die er kennt.

Die Scheu vermindert sich, ein Heimatgefühl überkommt ihn. Da tritt er in das zweite Zimmer. Es war ehemals seine »gute Stube«. Er wollte ja eigentlich gar keine gute Stube, aber Margarete bestand darauf nach Frauenart. Es war eine ihrer wenigen kleinen Eitelkeiten. Er muß ein wenig lächeln. Wie klein und niedrig dieses Zimmer war! Seine jetzige Küche war doppelt so groß als diese »gute Stube«. Und doch war es eine gute Stube, so sehr gut, daß er sich jetzt keiner einzigen trüben Stunde erinnert, die er hier verlebte.

Er tritt ans Fenster. Dort drüben liegt ein großes dunkles Haus. Eine Volksschule ist's, und er hat vor Jahren dort amtiert. Jetzt ist er längst nicht mehr Lehrer, jetzt ist er Großkaufmann. Fabrikbesitzer. Stadtverordneter. Gott weiß, was er jetzt alles ist. Ja, ja. er ist gewaltig in die Höhe gekommen, sein Vermögen hat sich vermehrt, sein Ansehen ist gewachsen, seine Lebensweise hat sich verfeinert, nur sein Glück ist verloren gegangen. Nur sein Glück, sonst nichts! Alles andere ist in tadelloser Ordnung.

Er schaut immer hinüber nach den hohen, dunklen Fenstern, und da packt ihn – wie schon so oft – das Heimweh nach seinem alten, lieben Berufe, dem doch sein ganzes Herz gehört hatte, und der auch gewiß seine Bestimmung war.

Seufzend wendet er sich endlich ab und geht nach der Wohnstube zurück. Ob er das letzte wagte und auch einmal da hinein in die Schlafstube ging? Dort drin war sie gestorben.

Er zögert, zögert lange. Aber dann öffnet er langsam die Tür. Jäh schließt er die Augen. Stand nicht dort – dort im Winkel, im Scheine eines ungewissen Nachtlichtes, ihr Bett? Liegt sie nicht dort in ihren Qualen, und schaut sie ihn nicht traurig an mit ihren guten, schönen Augen? Und wimmert nicht das kleine Kindlein wieder?

»Ich möchte so gerne bei euch bleiben, bei euch beiden! Weine nicht so sehr, guter Franz, – weine nicht gar so sehr!«

»Du hattest mich so lieb, – du bist so gut, – ich danke dir, Franz, ich danke dir für alles! Es war so schön bei dir!«

»Margarete!«

Das Licht fällt verlöschend zur Erde, der Einsame eilt in den leeren Winkel. Er preßt die heiße Stirn gegen die kühle Wand und weint bitterlich.

Nach Minuten lehnt er sich ans Fenster. Draußen über dem stillen Hofe leuchten zwei Sterne.

Wie er so in den dunklen Hof hinausschaut, wird sein Gesicht finster. Warum hatte es ihn so furchtbar hart betroffen, warum mußte sie sterben? Sie war sein guter Engel gewesen und hatte, als sie schied, die Liebe und das Glück mit sich genommen. Wenn sich sonst eine Ehe löst durch den Tod, findet der zurückbleibende Teil trotz seines tiefen Wehes doch einen Trost, einen Halt, einen Frieden, vielleicht gar ein neues Glück. Er nicht! Er hat sich hundertmal selbst belogen.

Hier, hier in diesen Räumen allein hat sein Glück gewohnt. Hier hat er's zurückgelassen, und er findet es nicht wieder, und wenn er suchend wandert über die ganze Erde. Am allerwenigsten wird er es bei ihr finden – bei der Zweiten.

Kann es denn nach einer Ersten eine Zweite geben? Für ihn nicht! Es war ein furchtbarer Irrtum, als er sich an jene andere band. Sie ist auch nicht sein Weib geworden, – nur seine Gemahlin. Sein Weib war diese hier!

Wie kommt es denn aber, daß gerade heute nach so langer Zeit seine alte Liebe und Sehnsucht wieder lebendig wird? Weil er geflohen ist vor jener anderen, geflohen aus seinem kalten, frostigen Hause, geflohen wie ein Gemarterter, der nach Erlösung schreit. Und jetzt weiß er auch, warum sich der Fuß heute über die Strombrücke lenkte, warum er hierher kam.

Er mußte einmal wieder zu Hause sein!

Ja, er hat viel verloren: sein Weib, seinen Beruf, seine Heimat. Er hat sich nie wieder heimisch gefühlt. Damals, als ihm kurz nach Margaretens Tode unerwartet die hohe Erbschaft zufiel, als er unglückseligerweise seinen Beruf aufgab, damals ist er ruhelos umhergezogen durch die ganze Welt. Er suchte Vergessen, er suchte Frieden. Der Tor! Über die höchsten Alpenkuppen vermag ein winziger Grabhügel uns nachzuschauen.

Irgendwo traf er seine jetzige Frau. Sie war ihm so gleichgültig wie alle anderen, aber ihr Vater gefiel ihm. Die Ruhe des älteren Mannes tat seiner aufgeregten jungen Seele wohl.

Und eines Tages war er mit der Tochter verlobt. Als er damals nach dem Feste nach Hause in sein Zimmer kam und vor das Bild seiner Frau treten sollte, war es ihm, als habe er einen Ehebruch begangen. Und doch waren die Augen des Bildes, das vor ihm auf dem Tische stand, gütig und mild. Es war stille Nacht, und er sprach mit ihr in seinem Herzen. Da war es ihm, als ob sie ihm Antwort gäbe, als ob eine leise, zarte Stimme zu ihm spräche: »Armer Freund, ich zürne dir ja nicht! Finde eine neue Heimat, du lieber, ruheloser Mann!«

Und diese Heimat hat er nicht gefunden. Er ist in das Geschäft seines Schwiegervaters eingetreten, er hat ein kostbares Haus bezogen und einen großen Haushalt eingerichtet, aber eine Heimat war das nicht. Er lebte immer wie ein halbfremder Gast bei seiner Gemahlin und ihren vielen Bedienten.

Ist sie gar so zu verurteilen? O nein! Sie ist schön und reich und geistvoll. Sie hat nur kein Herz. Und er – er hat sie ja auch nie geliebt. Die Heirat mit ihr war nichts als ein Versuch, ein neuer, letzter Versuch, zur Ruhe zu kommen. Daß er so ganz und gar mißlang, war kaum ihre Schuld.

Es fehlt ihr all die Herzensgenialität Margaretens, ihre liebe Stimme, ihr sanftes stilles Wesen, ihre fürsorglichen, weichen Hände. Und das kann durch nichts, durch keinen oberflächlichen Glanz ausgewogen werden.

Müde lehnt sich der Einsame gegen das Fenster. Die zwei Sternlein vom Himmel schauen auf ihn freundlich hernieder. Ganz still steht er und lauscht und schaut mit den feinsten Sinnen seiner Seele. Da fällt der Groll von ihm ab, und sein Herz wird weich. Er schaut nicht nach rückwärts, aber es ist ihm, als schritte unhörbar sein geliebtes Weib durchs Zimmer, wie sie sonst tat, wenn er traurig war. Und jetzt fühlt er's … sie legt den blonden Kopf auf seine Schulter und schlingt den Arm weich um seinen Hals, und sie fragt nach seinem Kummer und tröstet ihn, es würde bald wieder besser sein.

Da wendet er sich jäh um. O, er ist allein! Eine Frage, eine einzige Frage nur wollte er an sie stellen: Wie es besser werden könnte.

Und da fällt ihm urplötzlich sein Kind ein, sein Kind und ihr Kind – die kleine Margarete. Die lebte noch. Damals, als die Mutter starb, hatte er das Kind zu seiner Mutter und seiner Schwester gegeben, die in einer kleinen Stadt lebten; er selbst konnte es ja nicht erziehen. Und dann, als er sich wieder verheiratet hatte, hatte er sich gescheut, das Kind zu sich zu nehmen. Das Mädchen hing an der Großmutter und an der Tante; aber die Hauptsache war, er mochte es seiner zweiten Frau nicht zur Erziehung übergeben. Die liebte ihn nicht, um viel weniger würde sie sein Kind lieben. Und die Liebe ist doch das einzige Werkzeug der Erziehung. Nein, sie konnte keine Frau sein, viel weniger eine Mutter. Es war ein reines Glück, daß sie selbst keine Kinder besaß. So blieb die kleine Margarete bei der Großmutter. Er bezahlte reichlich für die Erziehung und fuhr manchmal hin. Nicht oft! Er fürchtete sich, an seine alte Wunde zu rühren, wie er sich ja. gefürchtet hatte, hierherzukommen. Er konnte auch jetzt das Kind nicht in sein Haus nehmen. Das war ganz unmöglich.

Also würde er sein glück- und liebeleeres Leben fortsetzen müssen. Die ganze Bitterkeit seiner Vereinsamung überfällt ihn aufs neue. Wenn jetzt die alte Frau kam und er aus diesen Räumen hinaus mußte, das allein schon würde ihm furchtbar sein.

Ein schwerer Seufzer der Angst vor seiner Zukunft ringt sich von seiner Brust; in seiner Qual faltet er die Hände. Und in schwerer Erregung spricht er; die Worte sind kaum hörbar. Manches bleibt nur Gedanke, manches löst sich in ein Seufzen auf. So, wie wenn einer in stiller Kirche mit ganz schwerem Herzen betet:

»Margarete, du Verklärte, kannst du mich hören? Weißt du, daß ich hier bin? Weißt du, daß ich nach Hause gekommen bin? Margarete, ich bin ja so namenlos unglücklich! Ich weiß mir keinen Rat, die Verzweiflung überkommt mich; hilf mir, Margarete, hilf mir noch ein einziges Mal! Siehst du, ich bin hier, hier in unserem Zimmer, hier, wo du mein Weib warst, hier, wo du Mutter wurdest, hier, wo du starbst, hier in dem Tempel deiner reinen Weiblichkeit, und ich flehe dich an, tröste mich nur dieses eine Mal!«

Erschöpft von der großen Erregung, lehnt sich der Unglückliche gegen die Mauer. Er schließt die Augen und scheint schwer nachzudenken. Es bleibt alles tot und stille. Die, zu der er sprach, ist zu weit. Aber, er lauscht doch … lauscht … lauscht … wie wenn Antwort käme aus hoher Weite. Und plötzlich richtet er sich hastig auf, seine Augen sind weit geöffnet und strahlen vor Freude, seine Hände graben sich in die Haare.

»Das, Margarete, das soll ich tun? Das?! Die Mutter, die Schwester, das Kind hierherholen? Unser altes Heim wieder einrichten? Sie hier wohnen lassen? Hier, Margarete, hier in unserer Wohnung? Und wieder ein Heim haben? Und wieder ein Heim haben?«

Der Mann steht zitternd mitten in der Stube, und über seine Wangen rollen Freudentränen.

»Margarete, gute Margarete, siehst du, das wußtest nur du! Das konntest du mir nur raten. Das fiel sonst niemand ein. Du weißt immer, was mir fehlt, du weißt immer einen guten Rat für mich. Ja, ja, ich will unsere alten Möbel von der Mutter kommen lassen, ich werde alles so einrichten lassen, wie's war, und ich hole alle die Lieben hierher, und ich kann sie besuchen, so oft ich will, und ich kann heimgehen, wenn es mir nicht gut geht. Ich werde wieder eine Margarete haben, ich werde wieder unsere Wohnung haben, ich werde das Kind selbst unterrichten, und so werd' ich auch wieder Lehrer sein können. Ich danke dir, Margarete, denn das wußtest nur du!« – – –

Die alte Hausmeisterin kommt. Sie erhebt ein großes Lamento über ihren Enkel, der sich sehr verletzt habe, und bittet um Entschuldigung wegen ihres langen Ausbleibens.

»Schon gut, Frau Völker, es ist schon gut! Ich miete die Wohnung! Hier haben sie eine Anzahlung, und hier ist meine Adresse. Ich komme bald wieder, da regeln wir alles. Gute Nacht, Frau Völker!«

»Gute Nacht, mein Herr!«

Verwundert geht die Frau auf den Flur an eine Gasflamme.

»Woher er bloß meinen Namen weiß!«

Sie liest: »Franz Berthold.«

»Herr Berthold, – Jeses, – Herr Berthold! Herr Berthold!«

Der hört sie nicht mehr. Er geht unten bereits wieder über den Platz.


 << zurück weiter >>