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Einleitung.

In deiner Kammer.

Du hast mich gerufen … nun bin ich bei dir! Als du das Buch aufschlugst, kam ich zu dir. Ich bin in deiner Kammer.

In deiner Kammer? Ja!

Vielleicht schaust du auf seidene Decken, auf hohe Spiegel und kostbare Bilder und siehst mich fragend an.

Ja, es ist doch eine Kammer!

Deine Kammer!

Jetzt – gerade in diesem Moment – fragst du nichts nach Sammetpolstern und goldenen Borden; jetzt – gerade in diesem Moment – willst du an all die tausend Personen und Dinge nicht denken, denen du sonst so nahestehst; jetzt – gerade in diesem Moment – willst du dich auch nicht allein mit dir selbst beschäftigen.

Denn jetzt willst du lesen.

Und ein Lesender ist immer in einer schlichten Kammer, in der nichts da ist als ein Paar Augen, eine Seele und ein Buch.

Wer ich bin? O, das ist gleich! Auch, woher ich komme. Aber ehe ich zu dir kam, war ich auf einer weiten Reise. Da habe ich viel Menschen gesehen. Lachende und weinende, sehr viel gute Leute. Böse Menschen kenne ich fast gar nicht. Es begegnete mir manchmal einer, vor dem ich erschrak und meinte, er sei böse; aber wenn ich ihn genau betrachtete, war er nur ein Unglücklicher. Mit viel Schlechtem werde ich dich nicht erschrecken; du sollst dich in deiner Kammer nicht fürchten.

Ich bin noch jung. Deshalb erschüttert mich das Leiden der Menschen heftig. Aber ich kann auch über kleine Dinge glücklich lachen. Und ich habe mich bemüht, mir die Augen blank zu halten, daß ich gut zusehen kann.

Was ich bei dir will? Eines nicht: ich will dich nicht belehren, ich will dir auch nicht raten. Wer weiß, ob du nicht klüger bist als ich, und dann wäre ich schlimm daran. Nein, ich will dir nur erzählen, was ich gehört und gesehen habe. Und wenn es wert für dich ist, wird deine Seele von selbst fortspinnen, wird zustimmen oder widersprechen, wird denken, wird ähnliche oder andere Bilder zeichnen mit deinen Menschen, deinen Fluren, deinem Himmel.

Ob du mir etwas schuldig bist? O ja! Geld freilich nicht. Das, was du etwa bezahlt hast, war für das Papier. Und deine Freundschaft darf ich nicht verlangen. Das wäre zuviel für den kleinen Dienst. Wenn du mir schon einen Gefallen tun willst, so bitte ich dich: mich nicht zu lange bei dir zu behalten. Laß dir nicht alles auf einmal erzählen! Das strengt an, und dann – wenn ich fort bin – weißt du nicht, was ich dir eigentlich gesagt habe. Nein, wenn ich dir bei jedem Besuche eine Geschichte erzähle, das ist genug. Ich komme wieder, sobald du willst.

Das bin ich. Und wer bist du? Ich würde lügen, wenn ich sagte, daß ich es nicht gern wissen möchte. Aber ich kann es nicht wissen; ich erzähle dir ja mit geschlossenen Augen. Ich weiß nicht, wie es in deiner Kammer aussieht, weiß nicht, ob die Sonne hineinscheint oder eine goldene Ampel brennt oder ein kleines Talglicht neben mir auf die Diele tropft. Ich weiß nicht, ob du mit funkelnder Brille und kritisch gefurchter Stirn mir zuhörst oder ein schöner Schalk bist, der mir mit lachenden Augen gegenübersitzt. Aber es ist ganz schön, diese Heimlichkeit. Und eines weiß ich doch von dir:

Du bist ein Mensch, der Stunden hat, in denen er einsam sein will, ein Mensch, der ein Interesse hat, das über seinen Kreis und seine Umgebung hinüberreicht ins große Gebiet der Allgemeinheit, einer, der teilnehmen mag an fremden Schicksalen, einer, der eine stille Kammer hat, wo er für sich ist.

Reich mir die Hand, wir wollen uns vertragen!


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