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5

»Aber Rosa?«

Plötzlich sprang Schwedenklee auf und ging mit erregten Schritten in den gefütterten Hausschuhen hin und her. Es war schon zwei Uhr morgens. Erst in diesem Augenblick war ihm wieder eingefallen, aus welchem Anlaß er nach den verblaßten Briefen gegriffen hatte.

»Aber Rosa? Wer ist diese Rosa?«

Unter all den Frauen gab es ja keine Rosa weit und breit! Wer war also diese Rosa, von der ihm dieser Unbekannte geschrieben hatte?

Geschrieben hatte –? Also hatte Augusta, die sonst wenig scharf beobachtete, doch recht, daß ein Brief – irgendein sonderbarer Brief – die Veränderung in Schwedenklees Laune hervorgerufen hatte!

»Wie kommt dieser Unglückselige überhaupt dazu, mir, einem Unbekannten, zu schreiben?« fuhr Schwedenklee fast drohend fort.

In großer, ja förmlich unbegreiflicher, krankhafter Erregung eilte Schwedenklee im Zimmer auf und ab.

»Wie kommt dieser Unbekannte dazu?«

»Vielleicht aber hat diesen Unglückseligen der Verlust seiner Gattin um den Verstand gebracht – wie?«

»Rosa? Rosa? Aber, zum Satan, es gibt ja keine Rosa!«

»Vielleicht habe ich sie einmal gekannt, möglich – ganz flüchtig, vielleicht gab sie einen falschen Namen an – alles ist möglich!«

»Möglich, ja, natürlich! Was sollte sie dann aber bewegen, sich nach Jahren, in der Stunde ihres Todes, meiner zu erinnern –?«

Ja, unbegreiflich, unverständlich, ganz unerklärlich!

»Oder –?« Schwedenklee blieb mit einem triumphierenden Lächeln stehen.

O ja! Auch das war recht gut denkbar!

Vielleicht war dieser Unglückselige gar kein fassungsloser Ehemann, der seine Frau betrauerte? Wie? Vielleicht war er nicht mehr und nicht weniger als ein Schwindler, der einen Pumpversuch schlau einleitete? Ein Erpresser? Schwedenklee war geneigt, sich wegen seines Scharfsinns selbst zu bewundern. »Man braucht nur die Zeitungen zu öffnen, beim großen Gott, welche Sorte von Spitzbuben haust in diesem Berlin! Sie simulieren epileptische Anfälle in der Untergrundbahn, um die mitleidigen Reisenden ungestört ausplündern zu können – sie verfallen auf die unmöglichsten Dinge! Ein Freund übersendet dir ein Billett zur Oper, du gehst hin, und unterdessen plündern sie dir die Wohnung aus.«

»Nein, mein Freund, du bist an den Unrechten gekommen. So einfach ist die Sache mit mir nicht!« rief Schwedenklee mit überlegenem Lächeln aus. Aber schon klang sein Lachen wieder unsicher, schon wurde er wieder nachdenklich.

Der Ton dieser Briefe! Denn Schwedenklee hatte ja nicht einen, er hatte eine Reihe von Briefen erhalten – seit Wochen erhielt er Briefe! Und diese Briefe waren es ja, die in der letzten Zeit seinen Gemütszustand so sehr beeinflußten. Der Ton dieser Briefe war ohne Zweifel – echt!

»Prüfen wir, überlegen wir,« rief Schwedenklee eifrig, schon etwas berauscht – »weshalb diese unsinnige Beunruhigung? Wir werden, wenn es nicht anders geht, den Unglückseligen selbst aufsuchen. Ja, selbst, das wird das allerbeste sein!«

In dieser Minute war Schwedenklee außergewöhnlich mutig und entschlossen. Er kam sich in seiner Entschlossenheit fast verwegen vor – beinahe wie Don Juan, der mitten in der Nacht im Friedhof das Standbild des Comturs zu Tische lädt.

»Gehen wir der Sache auf den Grund!«

Aus einem Winkel der Bibliothek zog er einen Stoß Briefe hervor.

Fast überkam ihn wieder Kleinmut. Wozu schließlich? Was kümmerte ihn das Schicksal dieses Unbekannten?

Schwedenklee hatte diese Briefe nie richtig gelesen – nur durchflogen, unwillig, ungehalten – und doch im Tiefsten, ohne ersichtlichen Grund! erschrocken. Drohung des Schicksals ging von diesen Blättern aus und dumpfe Traurigkeit. Sie rochen nach welken Kränzen, und diesen Geruch hatte er noch deutlich in der Erinnerung von der Beerdigung des alten Schwedenklee her. Er haßte diesen Geruch von Moder, er haßte diese Kränze in den Blumengeschäften, mit den Aufschriften in bleicher Silberschrift auf den schwarzen Seidenbändern. Er schloß sogar die Augen, wenn er an einem jener Geschäfte mit den häßlichen plumpen Särgen vorbeiging, deren öffentliche Ausstellung die Polizei, die sich sonst in alles mischt, verbieten sollte. Diese Särge waren in der Tat solch unglaubliche Monstrositäten, daß Schwedenklee sich einmal die Mühe genommen hatte, einige Särge zu entwerfen, die nobel und würdig aussahen, wie sie eigentlich sein sollten. Er haßte wie gesagt alles, was mit dem Tode und den Zeremonien der Bestattung zusammenhing. Vor zwei Jahren war einer der Kartenspieler gestorben, der Doktor Helm, ein Landgerichtsrat, ein sympathischer Mann – einige der Spieler waren zur Beerdigung gegangen, aber Schwedenklee hatte sich wohl gehütet.

Er liebte es nicht, an den Tod zu denken, nein, ganz im Gegenteil, diese Gedanken haßte er! Manchmal erwachte er mitten in der Nacht und mußte daran denken, daß auch er einmal sterben mußte! Diese entsetzliche Stunde wird kommen, so sicher wie etwas – er sah sich liegen, er röchelte noch, eine Pflegerin stand am Bett mit einer Kompresse. Oh, es konnte auch ganz anders sein! Zum Beispiel, ein Autobus konnte ihn auf der Potsdamer Straße zermalmen. Diese Gedanken folterten ihn zuweilen derart, daß er Licht machen mußte. Und doch, die Menschen lebten dahin, lachten, rauchten Zigarren, spielten Billard, tanzten – unbegreiflich!

Aus all diesen Gründen machte er sich hart und gefühllos gegen das Geschick dieses Unglücklichen, den der Schmerz gezwungen hatte, an ihn, Schwedenklee, zu schreiben.

»Nun wohl«, sagte Schwedenklee und setzte sich, ergeben in sein Schicksal, zurecht. »Dieser hier, ohne Trauerrand, war der erste!«

Schwedenklee holte tief Atem.

»Mein Herr!« Schon diese fahrige Schrift, diese Gespenster von Buchstaben! »Ich fühle mich gedrängt, Ihnen mitzuteilen, daß eine Frau, die wir beide geliebt haben – heute abend nach langem Krankenlager zur ewigen Ruhe heimgegangen ist. Das edelste Frauenherz hat aufgehört zu schlagen. Rosa hielt ein Leben lang die Freundschaft, die sie einst mit Ihnen verband, hoch in Ehren. Es wird Ihnen gewiß ein Bedürfnis sein, der edlen Verblichenen die letzte Ehre zu erweisen. Die Beisetzung findet am Freitag, den 21., statt ... In tiefstem Schmerz – Edgar Blank, ehemaliger Hofopernsänger.«

Schwedenklee las den Brief mit fast der gleichen Verwunderung, Verblüffung, dem gleichen leisen Grauen, wie vor Wochen, da er ihn erhalten hatte. In einer Art von leichter Lähmung hielt ihn der Sessel fest.

Was sagt man dazu? Er war natürlich nicht zur Beerdigung gegangen, wie sollte es ihm in den Sinn kommen – eine ihm völlig Unbekannte! Als er seinen Vater begraben hatte, hatte er sich geschworen, nie mehr einer solchen Zeremonie beizuwohnen, wenn es sich irgendwie vermeiden ließ. Unvergeßlich war ihm dieser schreckliche Vormittag. Der alte Schwedenklee ließ sich verbrennen. Im Krematorium warteten schon mehrere Parteien, und Schwedenklee geriet, noch heute empfand er die Peinlichkeit, zuerst in eine falsche Gruppe von Seidenhüten. Alle hatten Eile. Dann sank der Sarg in die Versenkung. Der alte Schwedenklee hatte noch im Alter den typischen Kopf eines Maurers gehabt, mit etwas zu langem Schnurrbart, etwas abstehenden Ohren und verwittertem Gesicht. Als der Sarg sank, verwandelte sich, so schien es Schwedenklee, der ganze Sarg in den Kopf des Vaters. Schwedenklee jagte voller Schrecken nach Hause, und noch heute sah er, wie der langsam sinkende Sarg sich in den Kopf des Vaters verwandelte, noch heute hörte er das fürchterliche kalte Klirren der sich schließenden Eisenplatten.

Der zweite Brief des Unglücklichen schilderte ausführlich die Beerdigung der Unbekannten. »Wir haben heute Rosa zu Grabe getragen. Sie sind nicht gekommen! Es hätte die Tote geehrt. Aber vielleicht sind Sie gar nicht in Berlin. Vielleicht hat mein erster Brief Sie überhaupt nicht erreicht! Wir waren nur zwei im Trauergefolge, von den Trägern abgesehen. Ein jämmerliches Trauergefolge – und doch jubelten Rosa früher auf der Bühne Tausende zu – vergessen und einsam ging sie zur Ruhe, und selbst Sie, den sie ihren Freund nannte, sind nicht gekommen ...«

Diesen Brief hatte Schwedenklee vor Wochen, als er ihn empfing, entsetzt zur Seite gelegt, ohne ihn zu Ende zu lesen. Der Briefschreiber verlor sich selbstquälerisch in all die traurigen Einzelheiten: der Regen, der Schmutz, die Grabsteine, der Trott der Sargträger, das lehmige Grab –.

»– ich schäme mich nicht, Ihnen zu bekennen, daß mich der Schmerz übermannte, als der Sarg hinabglitt. Ich schrie und fiel zu Boden ...«

Schwedenklee war erbleicht und wischte sich die Stirn ab. Er ging auf und ab in seinen weichen Schuhen und suchte Beruhigung bei einer neuen Zigarre. Man durfte nicht vergessen, daß ein Unglücklicher diesen Brief schrieb!

Aber Rosa? Ja, bei Gott, wer sollte –?

Vielleicht war es ein Mißverständnis, eine Verwechselung –? Aber nein, nein, in einem der Briefe schrieb der Unglückliche, daß Rosa mit Schwedenklee in dem und dem Jahre in Paris zusammengetroffen sei. Er, Schwedenklee, habe damals im Hotel Panthéon gewohnt. Alles stimmte.

In einem der zuletzt eingetroffenen Briefe drückte der Unbekannte seine Verwunderung darüber aus, daß Schwedenklee sich in Stillschweigen hülle. »Ich habe mir in meinem letzten Brief«, schrieb er, »die Freiheit genommen, anzudeuten, daß ich glücklich wäre – so weit ich es in dieser Zeit sein kann – wenn ich Sie aufsuchen dürfte. Ich habe zwei Wochen vergebens gewartet. Sie zögern, aus welchem Grund? Ich weiß, daß Sie in Berlin sind. Vielleicht erscheine ich aufdringlich. Befürchten Sie nichts. Ich befinde mich in tiefer Not, ich bin ein Bettler, aber nichts läge mir ferner, als Rosas freundschaftliche Beziehung zu Ihnen zu beflecken. Was ich wünsche, ist, einen Menschen zu sprechen, der Rosa kannte, den Rosa liebte – ich wiederhole: liebte!«

Schwedenklee schüttelte den Kopf. Immer wirrer, dunkler schien das Labyrinth. Ein Unglücklicher wollte sich in seinem Schmerze an ihm aufrichten!

Den Rosa liebte –? War es möglich, daß eine der vielen, die durch sein Leben gegangen waren, noch nach zwanzig Jahren seiner gedachte? Daß eine der vielen, die er »in der nötigen Distanz hielt«, für ihn eine wirkliche Liebe empfunden haben sollte?

»Ich werde ihn besuchen«, beschloß Schwedenklee mit feierlichem Ernst. »Morgen – und wenn es morgen nicht geht, spätestens übermorgen.« Er war plötzlich von schwerer Müdigkeit überwältigt worden. Der Wein, die Zigarren ...

Fast augenblicklich schlief Schwedenklee hinter den hellgrünen Seidenvorhängen ein.


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