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3

In den letzten Wochen allerdings war Schwedenklee, der immer Heitere, Strahlende, der Sieghafte, vom Glück Umschmeichelte, verändert. Er war zerstreut, nachdenklich. Nur noch selten waren seine lauten Lachsalven, die jedermann mit fortrissen, zu hören. Sprach man ihn unvermutet an, so öffnete er erschrocken und hilflos den Mund, oft gab er überhaupt keine Antwort. Allen Stammgästen des Cafés fiel die Veränderung auf.

»Der Herr Oberbaurat scheinen in der letzten Zeit nicht ganz wohl«, sagte der von schlaflosen Nächten bleiche Oberkellner, ein alter Wiener. Also selbst ihm fiel die Veränderung auf!

»Etwas abgearbeitet.« Schwedenklee runzelte die Stirn.

»Ich habe gelesen, der Herr Oberbaurat haben einen Vortrag im Architektenhaus gehalten.«

Schwedenklee seufzte.

»Nichts als Plackereien, die nichts einbringen.«

Ja, so hatte man zu tun. Schwedenklee hatte über »Moderne Bahnhofsarchitektur« gesprochen – ein ganzer Winter Arbeit!

Schwedenklees Stammcafé war scheinbar ein Café wie jedes andere. Ein altes Berliner Café mit Gold und Stuck, verräuchert, die Plüschsofas zusammengesessen, die Kellner in befleckten Fräcken und ausgetretenen Schuhen. Unten saß das gewöhnliche Publikum, Familien, Liebespaare, einsame Zeitungsleser. Eine vergoldete Treppe mit Plüschgeländer führte zu dem großen Billardsaal empor, wo sechs Billards standen, und erst wenn man den Billardsaal durchquert hatte, gelangte man in das Allerheiligste: das Spielzimmer! Hier waren von fünf Uhr nachmittags an bis zum grauenden Morgen einige Spieltische, umgeben von Kiebitzen, im Gange, und hier kannte ein Gast den andern. Ärzte, Rechtsanwälte, Kaufleute, ein Bassist von der Oper, ein bekannter Pianist und einige junge Herren, die keinen ausgesprochenen Beruf zu haben schienen. Die Karten wurden gemischt, die Zigarren qualmten, die Kellner flogen mit Kaffeegeschirr und Biergläsern hin und her. Einzelne der Stammgäste kamen hierher schon um fünf Uhr und blieben bis drei Uhr nachts. Andere kamen nach dem Essen, wie Schwedenklee, nach Schluß der Theater und Konzerte kam noch ein Trüppchen Nachzügler. Es wurde in Schichten gearbeitet, fieberhaft und ohne jede Pause.

Die Billardbälle knallten nebenan im Saal. Zuweilen verirrte sich sogar eine Dame mit ihrem Freund in den Billardsaal und einer der Spieler machte es bekannt.

»Haben Sie die hübsche Person im Billardsaal gesehen?«

Der eine oder der andere der Kartenspieler warf einen Blick durch die Tür, während die Karten neu gegeben wurden, oder er machte sogar rasch einen Gang durch den Saal, wenn es sich lohnte. »Eine verteufelt hübsche Person, und Augen hat sie!«

Aber es geschah nur sehr selten, daß eine Dame sich zu den Billards hinan verirrte. Sonst gab es im Spielzimmer keinerlei Ereignisse. Das Spielzimmer ignorierte Berlin und die große Welt, wie Berlin und die große Welt das Spielzimmer ignorierten. Nur flüchtig wurden besondere Ereignisse gestreift: ein Krieg irgendwo, ein Sensationsprozeß, ein Schneesturm, eine Stockung der elektrischen Bahnen – blitzschnell flogen die Karten über die grünbespannten fleckigen Tische.

Es gab sogar Stammgäste, die noch länger als Schwedenklee im Café verkehrten. Ein Rechtsanwalt war zwölf Jahre lang Stammgast, und der Bassist kam schon seit fünfzehn Jahren hierher. In den Sommermonaten zerflatterten die Gäste auf einige Wochen, aber es blieb doch immer ein Spieltisch wenigstens im Gange.

So also sah Schwedenklees Heim aus, wo er seine Abende verbrachte, anstatt Museen, Bahnhöfe und Kaufhäuser zu entwerfen, wie er es früher plante.

Schwedenklee spielte vorzüglich Karten! Er war als Gegner gefürchtet, als Partner gesucht. Er war frisch und gut ausgeruht, natürlich, während zum Beispiel die Rechtsanwälte und Ärzte, die schon seit acht Uhr morgens in den Gerichtssälen und Kliniken arbeiteten, manchmal vor Müdigkeit einschliefen, wenn die Karten gemischt wurden.

Zuweilen war man der Karten überdrüssig. Man machte ein Spiel auf dem großen Matchbillard, und der Kellner mußte das sorgfältig eingeschlossene Privatqueue Schwedenklees aus dem Schrank holen. Dann und wann auch spielte Schwedenklee mit dem Bassisten eine Partie Schach.

Gegen drei Uhr, vier Uhr morgens leerte sich das Spielzimmer, die letzten Kiebitze verließen den Kartentisch, und schließlich riefen auch die leidenschaftlichsten Spieler, dem Erschöpftsein nahe, nach dem Zahlkellner.

Schwedenklee blieb selten länger als bis zwei Uhr. Nur während einer ganz kurzen Periode hatte der Spielteufel so heftig von ihm Besitz ergriffen, daß er jede Nacht hindurch bis sechs Uhr morgens Bakkarat spielte. Doch das war schon einige Jahre her, und nicht er allein war schwach geworden, die sämtlichen Spieler hatte plötzlich eine Art Besessenheit befallen.

Um zwei ging Schwedenklee nach Hause, um tief und ohne Pause zu schlafen, ganz allein in einem großen zweischläfrigen Bett mit einem hellgrünen Seidenhimmel.

Schwedenklee war Junggeselle, natürlich. Über Frauen und Ehe hatte er seine ganz besonderen Ansichten!

Ein einziges Mal hatte er den Kopf so weit in der Schlinge, daß er das Schlimmste befürchtete! Es war die »furchtbarste Zeit seines Lebens«, wie er sagte. Er hatte sich mit einer hübschen Base eingelassen, nettes Gesichtchen, plapperte erfrischend, und die Sache war gerade deshalb so verzweifelt, weil die ganze Verwandtschaft, die er jahrelang völlig ignoriert hatte, dabei im Spiele war. Schwedenklee verlor den Appetit und verbrachte die Nächte ohne Schlaf. Er entwarf hundert Abschiedsbriefe, ohne den Mut zu haben, die Base zu verabschieden. Es war ja ganz unmöglich, ein so entzückendes Geschöpf bloßzustellen. Das Wunderbare ereignete sich in dieser Periode: Schwedenklee hielt der Braut die Treue, so schwer es ihm auch zuweilen wurde! »Eine herrliche Sache ist die Treue,« pflegte er in dieser Zeit zu sagen, »aber sie kostet Nerven, mein Freund!« Eines Tages aber übersandte das entzückende Geschöpf ihm einen Abschiedsbrief! Voller Zerknirschung und Tränen: sie hatte sich auf einer Bahnfahrt in einen Offizier verliebt.

Gott sei gelobt! Glück zu, Schwedenklee!

Ja, in der Tat, es war eine furchtbare Zeit!

Schwedenklee schlief prachtvoll unter seinem hellgrünen Seidenhimmel, obschon neben ihm noch recht gut Platz gewesen wäre.


Wie gesagt, aber in den letzten Tagen gefiel Schwedenklee den Kartenspielern nicht mehr! Wer sollte sich sonst um ihn kümmern, wenn nicht sie? Etwa Augusta? Nein, Augusta wich ihm aus, floh ihn direkt, wenn sie merkte, daß er in schlechter Laune war, mit Rücksicht auf ihre zerstörten Nerven. Augusta hatte nur beobachtet, daß eines Tages ein Brief mit einem schwarzen Trauerrand angekommen war, und Schwedenklee die Augen rollte. Die Kartenspieler aber, sie kannten ja jeden Zug in seinem feisten, leuchtenden Gesicht. Und wenn ein gewiegter Spieler wie Schwedenklee ein »angesagtes« Solo verlor, soviele Buben, soviele Asse, Könige, Damen, eine Farbe blank – was sollte man dann sagen? Wie? Ja, nun war es offenbar, nicht mehr wegzuleugnen: etwas war bei Schwedenklee nicht in Ordnung!

Es entstand eine solch furchtbare Aufregung, daß man eine Runde aussetzte und die Kellner aus dem Billardsaal zusammenliefen.

Schwedenklee war sogar erbleicht, als das Solo so katastrophal zusammenbrach! In all den Jahren hatte niemand beobachtet, daß Schwedenklee erbleichte. Heute aber, in der Tat, war das Blut aus seinen roten Wangen gewichen, und seine Nasenspitze war für eine Sekunde schneeweiß geworden.

Es nützte Schwedenklee nichts, daß er seine bekannte Lachsalve losließ. Die Ärzte, die Notare blickten prüfend und argwöhnisch in sein Gesicht.

Schwedenklee hatte trotz der geheuchelten Heiterkeit immer noch einen verwirrten Gesichtsausdruck. Sein Blick war flackernd, nicht unbekümmert und etwas keck wie gewöhnlich. Nun errötete er sogar. Er tat, als schäme er sich, ein mit solch triumphierendem Lächeln angesagtes Solo verloren zu haben.

Die Erregung verflog. Die Kiebitze, die aufgesprungen waren, saßen wieder ruhig auf ihren Stühlen, der Wollust hingegeben, die Chancen des Spielers besser zu kennen als die einzelnen Spieler, die große Überraschung, die jede Sekunde offenbar werden mußte, schon lange vorher genießend. Hinter Schwedenklees breitem Rücken verschanzt saßen drei Kiebitze dicht nebeneinandergedrängt. Schwedenklees Spiel interessierte heute abend am meisten. Er erhielt eine große Karte nach der andern, er spielte nunmehr konzentriert, führte jedes Spiel in großem Stil durch und gewann. Er wurde rot, sooft er die Karte aufnahm: so wie heute hatte ihn das Glück noch nie umschmeichelt. Den Kiebitzen aber fiel es auf, daß er gepreßt atmete, sooft er ein großes Spiel gewonnen hatte.

Plötzlich aber – mitten in der Glücksserie! – zog er die Uhr und erhob sich ohne alle Umstände, zum Erstaunen der Spieler, zur Enttäuschung der erregten Kiebitze. Er entschuldigte sich hastig mit dringlichen Arbeiten. Sofort sprang ein anderer Spieler, der schon eine Stunde lauerte, für ihn ein. Der Pikkolo lief mit seinem Überzieher herbei.

Begleitet von einem der Kiebitze, dem bekannten Nervenarzt Wittmann, einer Kapazität, durchschritt Schwedenklee, in Gedanken versunken, das Billardzimmer. Und er erbleichte tatsächlich an diesem Abend zum zweitenmal! Es war heute wirklich alles wie verhext, es gibt solche Tage. Auf dem Mittagsspaziergang hatte er jene ganz in sich zusammengekrümmte Bettlerin auf der Potsdamer Brücke getroffen, die wie eine Verkünderin von Unheil an jenen Tagen auftauchte, da irgend etwas Unangenehmes sich ereignen würde. Nun dieses Gesicht! Es saß gegenüber der Tür des Spielzimmers im Billardsaal an einem kleinen Marmortischchen. Das Gesicht eines zermürbten, alternden, grauhaarigen Künstlers, eines völlig Hoffnungslosen, eines Bittstellers, fahl, mit dunkeln, fiebernden Augen, und diese Augen streiften seinen Blick scheu und tastend. Vielleicht hatte dieser Hoffnungslose, Hungrige voller Neid beobachtet, wie Schwedenklee seinen Kartengewinn in die Tasche steckte? Jedenfalls gehörte dieses Antlitz voller Gram und Elend zur Klasse jener Gesichter, die Schwedenklee fürchtete, denen er aus dem Wege ging. Sie verdarben ihm die gute Laune und riefen in ihm augenblicklich die tausend Unannehmlichkeiten wach, große und kleine, die ihm das Leben getrübt hatten.

»Sie sind nervös, Schwedenklee«, sagte der berühmte Nervenarzt, die Kapazität, mit einem mahnenden Blick hinter dem schiefsitzenden Kneifer. »Sie sollten etwas für Ihre Nerven tun. Die ganzen Tage fiel mir schon Ihr Wesen auf. Ich möchte fast vermuten, daß irgend etwas Außergewöhnliches – ich will nicht aufdringlich erscheinen ...«

Schwedenklee schlug den Pelzkragen hoch, um sein Frösteln – dieser Nervenarzt! – zu verbergen. Dann reckte er sich ein wenig und lachte laut heraus, während er stehen blieb. »Was soll ich haben?« rief er etwas zu laut. »Bedenken Sie, schon morgens um sieben Uhr kommt ein falscher telephonischer Anruf. Ich hatte nachts gearbeitet und nur wenige Stunden geschlafen. Dann kommen allein am Vormittag drei unangenehme Besuche. Es ist ein Wahnsinn, in dieser Stadt zu leben!«

»Ja, dieses Berlin ist eine Hölle!«

»Eine völlig sinnlose Hölle – eine Hölle ohne jeden Scharm. Bedenken Sie dagegen, zum Beispiel, Paris, eine Hölle mit Reizen ...«

»Mit fürchterlichen Reizen, Schwedenklee! Vielleicht ist Swedenborgs Ansicht berechtigt, daß diese Erde überhaupt nichts anderes ist als eine Art Fegefeuer, eine Vorhölle ...?«

»Swedenborg?«

»Ja, Swedenborg.«

Schwedenklee gestand nicht ein, daß er diesen Namen heute zum erstenmal hörte.

»Oft scheint es mir, als ob diese Großstädte Exponenten der Swedenborgschen Hölle seien: riesenhafte Kloaken, in die Tag und Nacht, ohne Unterbrechung, der Schmutz rinnt, Bordelle, Mördergruben, infernalische Verneinungen des göttlichen Gedankens!«

Der kleine Arzt fröstelte.

»Ja, in der Tat, vielleicht leben wir mitten in der Hölle, ohne es zu wissen! Vielleicht sind all unsere Freunde, die jetzt da droben Karten spielen, nichts als Teufel, Gespenster, Verdammte, Verfluchte ...« Bleich und erschöpft von der Stubenluft blinzelte der berühmte Nervenarzt in Schwedenklees rotes Gesicht.

Plötzlich lächelte Schwedenklee und streckte dem Arzt die Hand hin. »Hölle hin, Hölle her!« rief er mit einem sieghaften Lächeln. »Das Leben ist doch schön! Gute Nacht, Doktor!«

»Trotzdem« – der Arzt berührte wohlwollend Schwedenklees Ärmel – »sollten Sie sich etwas Ruhe gönnen. Gehen Sie doch in Ihre Villa an der Ostsee!«

»Jetzt, im April? Sie ahnen nicht, Doktor, wie entsetzlich kalt es da oben ist. Übrigens regnet es immer. Nein, danke herzlich!«

Schwedenklee stand und sah dem kleinen, unsicher gehenden Arzt, der Kapazität, betroffen nach. Welch eindringliche Ermahnungen! Und »Fegefeuer, Gespenster –«?

»Ja,« sagte Schwedenklee, »vielleicht hat er sogar recht! Aber, was für eine Welt wäre das – ein Betrug, nichts sonst! Und doch –?«

In tiefes Nachdenken versunken ging er weiter. Es half nichts, daß er die vorübergehenden Frauen musterte, um sich zu zerstreuen. Ein Paar herrische, schöne Augen leuchteten aus der feuchten Dunkelheit der Bäume – vergebens.

Schwedenklee atmete die laue Luft ein, er blickte in das knospende Geäst der hohen Bäume empor, sah die Sterne durch das leichte, schillernde Gewölk am Himmel jagen – aber seine Gedanken wurden düsterer und düsterer. Immer schwerer wurde die Last auf seinem Herzen.

Endlich blieb er stehen und holte tief Atem.

»Ja,« sagte er halblaut vor sich hin, »vielleicht sind wir in der Tat von Gespenstern umgeben und vielleicht ist es wahr, daß die Toten nach mir greifen!« Und er nickte ein paarmal schwer mit dem Kopfe.

Wie? Schwedenklee?

Wie ist es möglich, daß gerade er, Schwedenklee, der immer gut Gelaunte, Strahlende, der vom Glück Umschmeichelte, von der Melancholie übermannt wird?


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