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Man hat mich im späteren Leben oft gefragt, wie früh ich denn eigentlich zu dichten begonnen habe. Solch eine Frage halte ich für dilettantisch. Es gibt junge Leute, besonders heutzutage, die jede Niederschrift von Versen für ein Gedicht halten und die sich daher, kaum daß sie die Kinderschuhe abgelegt haben, auf Grund phantastischer Phrasen für Poeten halten. Es ist der Ehrgeiz mittelmäßiger Talente, sich frühzeitig gedruckt zu sehen in öffentlichen Blättern; sie schreiben ohne inneres Erlebnis, oder sie simulieren ein solches. Wer kennt nicht die alljährlichen Weihnachts-, Oster- oder Herbstgedichte, die halb rätselhaften, halb unmöglichen Traumfaseleien mancher Zeitschriften? Gar nicht zu sprechen von den Gelegenheits- oder Vereinstollheiten, den unblutigen Verseschlachten, die sich einbilden, mit germanischer Mythologie unser liebes deutsches Volk zu retten.

Ich wußte viele Jahre nicht, ob ich ein Dichter sei. Ich schrieb gewiß auch vieles dumme Zeug, wie ein anderer auf lose, verflatternde Blätter. Aber ich verwarf es, wie meine Stimmung wechselte und wie meine Erfahrung wuchs. Ich schrieb allerlei aus meiner Natur heraus, aber ich hatte das Gefühl, daß es vermessen sei, unfertige Naturlaute, halb entlehnte, halb ursprüngliche Gedanken und Empfindungen selbstvergnügt zur Schau stellen. Mein ganzes späteres Leben hat mich belehrt, daß Henrik Ibsen das richtige Wort in seinen »Kronprätendanten« gesprochen hat, wenn er des echten Sängers Gesang eine »Gabe des Leides« nennt. Und das Leid ist auch zu mir gekommen. Nun wurde ich mir selbst erklärlich. Die Kindergedanken, die Jünglingsempfindungen, wie rein und echt sie sein mochten, sie wurden erst mündig gesprochen durch die Erfahrungen des Mannes. Wer zur Welt sprechen will, muß gegen sich selbst am strengsten sein. Mehr als für jeden anderen Künstler gilt für den Poeten das Wort Hamlets: »Reif sein ist alles.«

Der mehrmals oben genannte Lux erklärte beispielsweise einmal ganz feierlich: »Wenn du ein Kerl wärst, den man für einen Dichter halten soll, so müßte ich den Beweis davon gedruckt in der Gartenlaube lesen. Dann glaub' ich an dich.« Ich ließ das gleichgültig durch mein Ohr gehen, denn ich geizte nicht nach der Anerkennung eines Laien. Da kam aber sofort »die Gabe des Leides« zu mir. Meine liebe Mutter mußte sich einer lebensgefährlichen Operation unterziehen. Und sie mißlang nicht. In der übergroßen Freude schrieb ich das Gedicht »Mutter und Kind«, sandte es kurzweg an die Gartenlaube und wuchs nun erst in der Schätzung des Lux, als es rasch darauf mit einem schönen Bilde in derselben Zeitschrift gedruckt erschien.

Meine ältere Schwester, deren Hochzeit wir noch in Lindach gefeiert hatten, war bereits nach vierjähriger Ehe gestorben. Immer trüber und schwerer lasteten die wirtschaftlichen Verhältnisse auf meinem veränderten Vaterhause in Gmunden. Immer trauriger gestalteten sich jetzt die allgemeinen Verhältnisse meines Gesamtvaterlandes Oesterreich. In durchaus deutscher Bildung, ja als Sohn des alten Oesterreich in großdeutscher Gesinnung aufgewachsen, welche nach dem Vorbilde der Vergangenheit trotz aller Irrungen und Schwankungen unserer österreichischen Politik immer noch nicht auf die Hoffnung verzichten wollte, es möchte dem Hause Lothringen-Habsburg nach langem Interregnum doch noch einmal beschieden sein, eine durch die Erfahrungen der Zeit geläuterte, die Bedürfnisse der Nation verstehende, von undeutschen Adelseinflüssen befreite, wahrhafte Vormacht des gesamten deutschen Volkes zu werden, litt ich ebenso unter dem öffentlichen Jammer, wie unter dem häuslichen Weh.

Die Uebergabe unseres nicht schuldenfreien Hauses an meinen fast tauben älteren Bruder, der infolge seines Ohrenleidens auf seinen Beruf, die Pharmazie, verzichtet hatte, die Verheiratung meiner Lieblingsschwester Luise, das Kränkeln meiner Mutter, eine völlige Vereinsamung und Entzweiung in mir selbst, vielleicht das unverstandene Werden des Künstlers in einer von Tag zu Tag trostloseren Atmosphäre der Gegenwart machten mich in der Blüte der Jugend zu einem völligen Menschenfeind, der die Gesellschaft mied und an jeder Zukunft verzweifelte.

Hiezu kam noch, daß ich, von Kindheit an selten bei ungetrübter Gesundheit, durch bronchiale Leiden mehrmals dem Tode nahe, an ein glückliches Leben nicht mehr glaubte und meinen Leib mit einer Art Galgenhumor jedem Wetter und jeder Fährlichkeit preisgab. So entsinne ich mich noch jenes Unheiltages, da ich mit Lux ohne Führer und ohne Bergstock aus dem Tal der Karbachmühle die Felswände zur Eisenau erkletterte. Wir waren bereits in bedeutender Höhe und einer vom andern in weitem Abstande. Ein vorspringendes Felsstück, das mich im Aufstieg hemmte, und das ich für festgelagert hielt, wollte ich umarmen, um mich hinaufzuschwingen. Aber das trügerische Gestein ließ los von seiner Grundlage, senkte sich gegen meine Brust und begann, da ich es unwillkürlich umklammert hielt, mit mir abzuschieben. Ich verstand kaum die Gefahr. Mein Genosse, hoch über mir, stieß einen durchdringenden Schrei aus. Die Geistesgegenwart jedoch verließ mich nicht. Den Stein loslassen, mich während des Abschiebens auf die linke Schulter und Hüfte neigen, mit dem steifaufliegenden linken Fuß einen Halt im Gerölle und Gefuge der Schleifbahn suchen, war das Werk eines Augenblickes. Ich stieß auf Widerstand, ich fand einen Augenblick Halt. Steif auf dem Bauche liegend, jedoch nach links geneigt, öffnete ich unter meinem Leibe dem Felsblock, der mich hinunterdrücken wollte, eine freie Bahn, er rutschte unter mir die Wand hinab – und mit weitgeöffneten Augen, jetzt erst unter mich blickend und sozusagen am Abgrund hängend, sah ich mit Entsetzen, wie der große Klotz in Riesensprüngen an den Schroffen sich zerstoßend, erst in wenige, dann in viele Teile sich zerschellend, in die ungeheure Tiefe fuhr.

Mein linker Fuß, auf einem schmalen Bodenrande glücklich festgehalten, hatte mich vor dem Absturz gerettet, und ich konnte bald, auf allen Vieren kriechend, sicheren Boden finden, die hilfreiche Hand meines Genossen ergreifen und zur Karbachmühle hinabsteigen.

Dort, bei einem Glase Most, tranken wir auf ein glücklich gerettetes Leben. Ein alter Schiffsmann, dem ich die Stelle bezeichnete, sagte treuherzig: »Herr, dös is a Mirakel. Sö müassen zu was Guaten b'stimmt sein!«

Aber die Schwermut war damit nicht gebannt und die Lebenshoffnungslosigkeit trieb mich jetzt auf ein kurzes Abenteuerleben in die Fremde. Ich wollte zur Marine. Wegen nicht genügender körperlicher Unverwüstlichkeit zum militärischen Seedienste reichte ich um eine Aspirantenstelle bei der Marine-Verwaltung ein, wurde angenommen und ging nach Triest als Aspirant.

Hier kam ein wunderlicher Zustand über mich. Als Deutscher unter Welschen und Slawen litt ich bald an Heimweh. Als Poet war ich von dem Zauber des Meeres, des südlichen Landes und der Anmut und Gutmütigkeit dieser fremden Menschen angezogen. Das Amt in der Villa Necker, wo mir der Kontre-Admiral den Eid der Pflichterfüllung abnahm, war nicht ungemütlich. Ich wurde rücksichtsvoll behandelt und mit der Feder zur Aktenabschrift (von Schiffsbeschreibungen) verwendet. Unser Chef, der Verwalter, ein Bruder des Leibarztes Kaiser Maximilians von Mexiko, behandelte mich mit einer Art Auszeichnung, indem er mir Bücher lieh. So jenes Werk dieses Neuschöpfers der österreichischen Marine, welches »Unter der Linie« betitelt, Maximilians Reise nach Brasilien schildert. Eine Stelle dieses Buches blieb mir unvergeßlich. Der Erzherzog machte mit seinem Gefolge in einem See bei Bahia häufige Lustfahrten und zwar Einzelfahrten in kleinen Booten, die man seither auch bei uns als »Seelentränker« bezeichnet. Im winzigen Fahrzeuge mit ausgestreckten Beinen ruhig sitzend, ist es die Aufgabe des Schiffers mit überquer gehaltener, kleiner Ruderstange, bald rechts bald links tippend, dieselbe aufs Wasser senkend, das Schifflein durch strenge Herhaltung des Gleichgewichtes in taktmäßigen Schlägen vorwärts zu leiten.

In einem solchen Seelentränker befand sich als Seeoffizier und Begleiter des Erzherzogs auch Tegetthoff, der spätere Admiral und Sieger von Lissa. Und da ereignete sich etwas ganz Ungewöhnliches und Charakteristisches für die Geistesgegenwart dieses Seehelden. Jener See beherbergte viele Arten gefährlicher und giftiger Schlangen. Tegetthoff, bereits in seinem Boote sitzend, das keine freie Bewegung gestattete, bemerkte plötzlich, daß dicht am Schiffsschnabel, zu seinen Füßen, eine dieser Schlangen lag, die den Kopf erhob gegen ihn. Jeder andre würde zu seiner Rettung sich zur Seite ins Wasser geworfen haben, um diese gefährliche Nähe los zu sein. Anders der Seeheld. Ruhig das Tier ins Auge fassend und sein leichtes Ruder wie eine Lanze erhebend, zielte er nach dem Reptil und mit einem einzigen Stoß nagelte er den Kopf der Schlange in die Ecke des Schiffsschnabels, ihn zerschmetternd und sich mit Kaltblütigkeit aus größter Lebensgefahr befreiend. Mit Recht erkannte Maximilian in diesem Zuge der Besonnenheit den Geist des nachherigen Meisters zur See vor Helgoland.

Von allen fremden Sprachen konnte ich nur die italienische liebgewinnen. Weniger ihre hohe Abkunft, als ihre ebenso kräftige als weiche Lautmusik machen sie zu einem bezaubernden Elemente. Um sie rasch zu erlernen, bezog ich ein Zimmer bei einer rein italienischen Familie. Ein Marinebeamter, ein gewisser Morak, der Montags meist betrunken, oft gar nicht ins Amt kam, und für den ich manchmal die Arbeit verrichten mußte, brachte mich öfter in ein ihm befreundetes Landhaus in der Campagna über der Stadt. Die Lage war bezaubernd. Ein Vorgarten, durch ein eisernes Gitter von der Straße getrennt, führte ins stille Haus, an dessen rückwärtiger Seite der Garten in Terrassen zu Weinlauben, Feigen und Lorbeeren malerisch emporstieg, um einen weiten Ausblick auf die amphitheatralische Bucht, die tiefgelegene Stadt, die Küste und das Meer zu gewähren. Die Mutter des Hauses war eine Venetianerin und Witwe eines deutschen Beamten. Sie hatte mehrere Töchter, von denen Emilia die schönste und anmutigste war. Die Mutter allein sprach vollkommen Deutsch. Einmal führte sie mich im Obergeschoß des Hauses in ein Gemach, an dessen Wänden Bilder deutscher Städte hingen. »Das sind die Erinnerungen meines Mannes,« sagte sie.

Das erstemal war ich der Familie zufällig auf dem Cimitero, dem großen Friedhof von Triest, von Morak vorgestellt worden. Ich hatte einen melancholischen Tag und betrachtete die vielen deutschen Namensüberschriften der Grüfte längst verwelschter Familien. Später kam ich mehrmals in dieses stille Haus. Emilia spielte auf dem Flügel und bemühte sich dazwischen, mich zu ermutigen, ihre schöne Sprache zu erlernen. Oft saßen wir im kühlen Flur oder wandelten durch den Garten. Unbeschreiblich war der Blick auf das Meer in der Abendstunde, wenn die Sonnenglut Himmel und See in rotbrennendes Feuer verwandelte. Als ich, vergeblich nach Worten für meine Stimmung ringend, einmal ausrief: »Es ist ein Unglück, daß ich nicht gut Italienisch sprechen kann,« sagte Emilia rasch: »Auch sein ein Unglück, wenn man nicht kann Deutsch.«

Durch dieses ungesucht herzliche Wort verband uns junge Menschen bald eine unausgesprochen empfundene Freundschaft; hätte mich nicht das Schicksal so bald wieder fortgerissen, diese Empfindung würde bedeutend und mächtig für mich geworden sein. Emilia war eine bezaubernde, madonnenhafte Gestalt mit blassem Gesicht, dunklem Haar und großen, himmelblauen Augen.

Erst viel später erkannte ich, daß hier, wenn auch noch ungeahnt, in meiner Seele das Urbild meiner »Sulamith« entstand. Ich besaß damals in meinem Reisekoffer nur ein einziges Buch. Die deutsche Bibel von Martin Luther. Oft las ich darin. Aber nicht aus Andacht, sondern aus Freude an der alten Sprache des Reformators. Und da las ich denn auch das »Hohe Lied«. Ist es da zu verwundern, wenn in der Schönheit dieses Gartens, in der Stille dieses Hauses, in der Nähe dieses märchenhaft holden Mädchens, bei all dieser im Herzen verschlossenen Träumerei das »Hohe Lied« zur Ahnung einer Tragödie wurde, die ich viel später erst und unter viel herberen Lebenskümmernissen zu gestalten vermochte und als mein Erstlingswerk Heinrich Laube in Wien überreichte?

War es da ein Wunder, daß ich, der eigentlich heimatlos geworden, dessen Gegenwart mit allem Vergangenen gebrochen hatte, dessen Zukunft uferlos war, in eine um so tiefere Schwermut versank, als mir allmählich das Mißverhältnis zwischen den Zielen der unbewußt doch nur künstlerischen Lebenssehnsucht meiner Seele und den rein drillmäßig materiellen Anforderungen des Verwaltungsdienstes täglich klarer wurde? Nicht die kümmerliche künftige Besoldung, nicht die Aussicht, jahrelang an den Kiel eines Fahrzeugs gefesselt zu sein, ohne die Hoffnung, die fremde Welt mit Nutzen für mein Bildungsbedürfnis und mit Freiheit studieren und genießen zu können, sondern das Oede eines aus Mischlingen meist undeutscher Nationen ohne jedes Ideal nur durch ein – im Grunde doch etwas laxes Reglement zusammengehaltenen Beamtenwesens, das vom Offizierkorps doch nicht gleichwertig geachtet wurde, verleidete mir gründlich den planlos ergriffenen Beruf, über dessen Anforderungen ich persönlich jedoch nicht zu klagen hatte. Im Gegenteil, je hoffnungsärmer das Amt war, ich fühlte mich, wie später unter ähnlichen Verhältnissen, aufs lebhafteste zu meinen Arbeitsgenossen hingezogen. Es gibt überall gute Menschen, wirklich gute Menschen, die im Getriebe des Alltags, in der Beschränktheit des ihnen zugewiesenen herben Loses das Herz nicht einbüßen. Ja, es ist rührend zu sehen, wie diese Glücksstiefkinder in ihrer Armut noch den innern Reichtum besitzen, am Schicksal fremder Menschen teilzunehmen, zu raten und zu warnen.

Hätte mir eine gütige Natur nicht das Auge und das Ohr verliehen, diese Gestalten und diese Stimmen in mich aufzunehmen oder zu verstehen, bei ihnen Aussprache, ja Trost zu finden, ich wäre viel ärmer geworden, als ich war. Ich wäre bestärkt worden, die Straße des Pessimisten zu wandeln und das Licht der Welt nur nach meiner eigenen trüben Brille zu beurteilen.

Die Mühseligen und Beladenen, um ein Wort der Bibel zu gebrauchen, sind es von jeher gewesen, die mir die getreuesten, mitunter die erheiterndsten Begleiter auf dem Pfade des Lebens wurden. Ihre Grillen und Schnurren, der einzige Luxus, den sich die Armut gönnen darf, befruchteten meine empfängliche Phantasie, und ihre Wünsche und Hoffnungen förderten meine eigene Neigung zum Baue von Luftschlössern. Ich ahnte damals freilich nicht, daß solche Gesellschaft eine Vorschule von Aktstudien wurde, die ich allerdings nur so nebenher betrieb, die aber meine Menschenkenntnis heilsamer förderten, als später die meisten Gestalten der sogenannten guten Gesellschaft und der vollkommenen Bildung, deren Glanz mir vielfach als Firnis, deren Kultur mir noch häufiger als Genußsucht, Eitelkeit und Selbstüberhebung sich entpuppte.

Da war in unsrer Triester Amtsstube ein alter Mann, dessen Gestalt und Wesen mir unvergeßlich bleibt für alle Zeiten. Er hieß Seubowitz und war Kanzleidiurnist unsrer Verwaltung. Wir saßen im gleichen Zimmer der Villa Necker. Wir grüßten uns freundlich, sprachen wenig und hatten viel Arbeit. Er schien mir deutscher Abkunft zu sein, zeigte aber hohe Achtung vor allem, was französisch war, besonders vor dem Zeitalter Napoleons des Ersten, und erinnerte mich mit Vorliebe daran, daß Triest und diese Küsten einstmals zur »illyrischen Provinz« geschlagen wurden. Das hätte mich ihm, bei meinem fast krankhaften Deutschtum, nicht näher gebracht. Meine gute Mutter, die aufs zärtlichste ihr Leben lang um mich besorgt war, schrieb mir regelmäßig von acht zu acht Tagen einen ausführlichen Brief. So hat sie es bis an ihr Ende gehalten. Ebenso regelmäßig pflegte ich ihr zu antworten. So brachte mir denn wöchentlich der Postbote ins Amt den mütterlichen Brief, der heiß und andächtig gelesen, vorher ersehnt, hinterher entsprechend nachgenossen wurde. Was gibt es Schöneres, als den Brief einer Mutter? Der alte Mann beobachtete mich schweigend und nicht ohne Teilnahme an den Ausbrüchen meiner Freude über die ersehnten Briefe. Einmal aber sagte er plötzlich: »Das ist schön, daß Sie Ihre Mutter so verehren.« Ganz erstaunt gab ich ihm zur Antwort: »Wie sollte ich sie denn nicht verehren?« Da beugte er sich tief über seine Schreibarbeit und sagte mit leiser Stimme: »Auch ich habe einen Sohn. Er lebt in Kairo; es geht ihm sehr gut. Aber er hat seinen einsamen Vater ganz und gar vergessen.« – Als ich betroffen nach ihm hinüberblickte, sah ich seine Augen gerötet. Aber, ohne sich's merken zu lassen, daß ihm der Schmerz die Tränen in die Augen getrieben hatte, bezwang er sich, trocknete seine Brille mit dem Sacktuch und murmelte: »Daß denn immer mein Glas so trüb ist!« – Lieber, guter, alter Seubowitz! Du wirst ja längst nicht mehr auf Erden wandeln, aber ich wünsche und hoffe, daß dein Grab nicht einsam und ungeschmückt von Kindeshand geblieben sei. Tausende von Menschen habe ich vergessen – dich nicht!

Und so kam denn auch der Tag, wo ich einsah, daß es besser sei, meine Lebenshoffnung nicht auf das Meer, nicht auf den einförmig mühevollen Dienst der Seeverwaltung, sondern wieder nach dem Norden zu verlegen auf das feste Land. Der Kriegskommissar, dem ich meinen Wunsch mitteilte, drückte mir die Hand und sagte: »Ich beglückwünsche Sie zu diesem Entschluß. Bei uns hätten Sie trostlose Aussichten als geistig selbständiger Mensch von akademischer Bildung.« Um einen Scherz zu machen, fügte er bei: »Sie würden sich auch schlecht mit dem Schnaps befreunden.«

Das Hafenadmiralat stellte mir sofort in freundlichster Weise ein lobendes Zeugnis über Wohlverhalten und Fleiß aus, und ich verabschiedete mich für immer von meinen Vorgesetzten und liebgewordenen Kameraden.

Nun begann die traurigste Zeit meines Lebens. Meine Eltern übergaben das mit Bauschulden belastete Haus meinem Bruder, der eine übereilte, kümmerliche Ehe einging, und retteten sich nur ein ärmliches Wohnungsrecht im Hinterhofe. Meine Schwester Luise verehelichte sich mit einem Privatmanne aus Neigung, folgte aber ein Jahr darauf der älteren Schwester Amalie im allzu frühen Tode nach.

Nach Wien zurückgekehrt, ohne hilfreiche Verbindungen, ohne materiellen Halt, wäre ich wohl körperlich und geistig bald zugrunde gegangen, wenn ich nicht großmütige Gastfreundschaft in einer wohlhabenden und gebildeten Familie gefunden hätte, deren Söhne mir von der Mittelschule her befreundet waren. Die Mutter des Hauses, eine geistig vornehme Natur, reich belesen und von gediegenem Urteil, stellte mir ihren Bücherschatz zur Verfügung und förderte dadurch meine literarische Ausbildung in unvergleichlicher Weise. Mit Ausschluß alles gewöhnlichen Lesefutters genoß ich die Meisterwerke der Vergangenheit wie der Gegenwart und schärfte meinen Blick für das Große und Dauernde, ohne blind zu sein für die Unterströmungen der Zeit.


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