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XI.
Eskapismus.

Als sich die Nachricht verbreitete, das Azoren-Gericht halte in Goethanien eine Sitzung ab, hielt die Welt, diese behagliche, geordnete Welt, den Atem an. Sie tat es aus verschiedenen Gründen. Die einen waren überrascht, erschreckt, verstört. Sie witterten Gefahr. Andere waren neugierig und erwartungsvoll. Sie ahnten Möglichkeiten einer neuen Entwicklung. Und andere wieder zuckten belustigt die Achseln: der homo sapiens, dieser unausrottbare Romantiker, spielt schon wieder.

Dann kam die Nachricht: Freispruch in Island. Die Meinungen teilten sich. Die Optimisten und Feiglinge, die das Wort erfunden hatten, daß der Mensch gut sei, lachten erlöst auf: na also! Blinder Alarm! – Die mißtrauischen, die mit dem schlechten Gewissen herumlaufen, spitzten die Ohren. Ihnen schwante Unheil. Aber dann wurden beide unsanft in die Wirklichkeit gestoßen: der Wettlauf der zwei revoltierenden Massen nach den Werkstätten unter der Paradiesheide fand statt. Und das Aufregende war nicht, daß er stattfand. Das hätte man zur Kenntnis nehmen und entsprechend ignorieren können, denn es war trotz der »Neuen Welt« Niemandem eingefallen, auf das Prinzip der Nicht-Einmischung in fremder Leute Angelegenheiten zu verzichten. Das Aufregende war vielmehr, daß hier dieses Prinzip bereits durchbrochen war. Thomas Baker & Sons waren schon in die Erscheinung getreten, und während niemand offiziell zu wissen hatte, was das bedeutete, wußte es inoffiziell jeder. Also bestand beinahe eine Notwendigkeit der Einmischung, um nicht dem Common Sense Club einen kostbaren Vorsprung zu lassen.

Aber noch einmal lächelte ihnen die Sonne der Verantwortungslosigkeit. Odoaker hatte sich vor das Mikrophon gestellt und wie ein zorniger Hund das nachbarliche Demosien angekläfft. Also bestand die begründete Hoffnung, daß diese beiden kleinen Staatengebilde sich so lange angeifern würden, bis ihnen in ihrer Machtlosigkeit nichts anderes übrig blieb, als die üblichen Instanzen der neuen Weltordnung anzurufen.

Es war Caliban, der ihnen diese Hoffnung trübte. Was er durch das Mikrophon den friedlichen und gleichmütigen Ätherwellen anvertraute, war von einer klugen, fast bösartigen Berechnung. Die Bösartigkeit lag darin, daß er die Menschen und die Staaten zwang, über den Zusammenhang zwischen den Ereignissen nachzudenken und sich Vorstellungen darüber zu machen, was sich morgen daraus ergeben könnte. Schon die bloße Zumutung, über neues Geschehen nachzudenken, enthielt ja einen Zweifel an der Endgültigkeit und Stabilität der neuen Ordnung. Und selbst damit hätte man sich ja noch abfinden können, da es der neuen Welt ja Gottseidank nicht an berufsmäßigen Denkern fehlte, die die neue Ordnung jeweils neu motivierten. Aber da ließ Caliban eine kleine Bombe explodieren, und so klein sie war, rollte doch das Geräusch wie die Erschütterung eines fernen Erdbebens durch die Neue Welt. Am Tage nach dem Balkonsturz des Außenministers Petros erschien in den Straßen Demosiens eine Proklamation, die von der Präsidentin Betrix unterzeichnet war. Sie stellte in lakonischen Ausdrücken fest, daß die Oberste Beamtin des Gemeinwesens sich entschlossen habe, dem Willen des Volkes nachzugeben und die Leitung des Staates in dieser schweren Zeit alleine in die Hand zu nehmen. Der Große Rat hatte sich dem Gebot der Stunde gefügt und hatte sich selber aufgelöst. Die Demokratie war nicht etwa in eine Diktatur verwandelt worden, sondern sie war zu einem Gipfelpunkt hinaufgetrieben worden, da das Volk freiwillig alle Macht in die Hände seiner geliebten Führerin gelegt hatte.

Diejenigen Massen, die an dem Marsch zum Regierungs-Palast teilgenommen hatten – und nur von diesem Vorgang war weiterhin die Rede; Petros war so aus den Gesprächen und Gedanken ausgelöscht, wie er körperlich ausgelöscht worden war – diese Massen empfingen die Proklamation mit Genugtuung und Beruhigung. Sie überzeugten auch diejenigen, die von dem schnellen Gang der Ereignisse überrascht waren und noch in den überkommenen Geleisen einer altväterlichen Demokratie dachten. Trotzdem waren sich alle einer Schwierigkeit bewußt: daß diese Änderung der Regierungsform eigentlich ungesetzlich war. Es war ein Fundament der Neuen Ordnung, daß es Staaten nicht erlaubt war, mit der Form der Regierung zu experimentieren. Jede Änderung im System war zuvor dem Bund der Nationen zu unterbreiten und mußte von ihm genehmigt werden. Wenn die Genehmigung verweigert und die Änderung trotzdem durchgeführt wurde, trat automatisch der alte Instanzenzug in Tätigkeit: Azoren-Gericht, Vormund der Völker, Kreta.

Einige Wohlmeinende und Besorgte schrieben einen zögernden Brief an Betrix: ‚Begeben wir uns hier nicht in eine große Gefahr?‘ Betrix unterschrieb voll Vertrauen die Antwort, die Caliban gab: »Ich bin fest entschlossen, mich um den Instanzen-Weg dieser unehrlichen Welt nicht zu kümmern. Sorgt euch nicht. In wenigen Tagen werdet ihr sehen, daß man keine Richter, sondern Bittsteller zu uns schicken wird.«

Betrix Stellung erfuhr eine ungeheure Stärkung, als sich schon nach einer Woche die Wahrheit dieser Behauptung erwies. Zwar trat der Bund der Nationen sofort zu einer Sitzung zusammen, aber seltsamerweise wurde kein Beschluß gefaßt. Es herrschte bei den meisten Mitgliedern eine flaue, unlustige Stimmung. Die Abgeordneten von Neo-Mundania erklärten rund heraus, daß die Sitzung übereilt sei. »Wie kann man Anträge stellen, ehe man den Tatbestand untersucht hat?« Und die Insel-Regierung von Imperia nahm ihre Zuflucht zu dem bewährter Mittel, sich auf ihre Dominions zu berufen, ohne die sie garnichts beschließen könne.

Der Erfolg dieser unlustigen Beratung war, daß die Sitzung nicht in das Register eingetragen wurde. Das bedeutete: sie hatte überhaupt nicht stattgefunden. Draußen auf den Korridoren besprachen die Mitglieder privatim, ob es vielleicht ratsam sei, zwecks Information und Beratung Vertreter nach Demosien oder nach Goethanien zu entsenden. Einige taten daraufhin garnichts, andere sandten Telegramme nach Demosien, und andere nach Demosien und Goethanien gleichzeitig. Die Welt des alten politischen Spiels dämmerte wieder auf.

Caliban saß mit stillen, leuchtenden Augen da, als Betrix ihm die Telegramme und zugleich die Geheimberichte aus Goethanien vorlas. Sein Gehirn arbeitete wie eine große, klar aufgebaute Maschine. Was er geahnt hatte, wurde ihm durch einen Bericht bestätigt, den Philippos ihm über die Vorgänge auf Island geschickt hatte. Er holte mit sicherem Instinkt das Schicksalhafte heraus, das darin verborgen lag: den Zusammenbruch der Autorität von Island. Er war entschlossen, diesen Zusammenbruch in vollem Maße auszunutzen, denn er war nichts als die formale Kehrseite jenes anderen, jenes inneren Zusammenbruches, den er überall spürte. Und so, hinter Betrix verborgen, machte er sich über Nacht zum eigentlichen Diktator von Demosien. Er bemächtigte sich dieses Amtes so, wie er sich Betrix bemächtigt hatte: mit einem dämonischen Willen zum Leben. Er wußte mit visionärer Sicherheit, daß am Ende dieses Lebens die große Zerstörung stehen würde. Aber bis dahin riß er das Leben an sich heran und glich die Jahrzehnte der Dunkelheit aus, durch die er gegangen war. Er liebte sein Amt, wie er Betrix liebte: angreifend und hingegeben, bereit, zu vernichten und vernichtet zu werden.

Er drängte Betrix, ein genaues Programm für die Zusammenkunft, mit den Abgeordneten auszuarbeiten. Sie sagte mit einem stillen Lächeln: »Die Sitzung wird in dem runden Saale sein, wo du zum ersten male zum großen Rat gesprochen hast.«

»Ja. Gut. Und weiter?«

»Dann werde ich den Abgeordneten sagen: ich bin Betrix, die Präsidentin von Demosien. Und dieses hier ist Caliban, der für Demosien denkt. Morgen wird er für die ganze Welt denken ...«

»Du bist wahnsinnig! Ich werde überhaupt nicht in die Erscheinung treten!«

Ihr Lächeln vertiefte sich. »Du wirst nicht nur in die Erscheinung treten, sondern auch die Verhandlung leiten. Du sagst, die Welt sei unehrlich. Dann wollen wir anfangen, sie wieder ehrlich zu machen. Bekenne dich zu dem, was du bist.«

Caliban atmete tief auf. Er faltete die Telegramme zu ganz kleinen Quadraten zusammen. Jede Ader auf seinen Händen war sichtbar. Seine Stimme war ganz sachlich. »Ich werde sie alle für den gleichen Tag und die gleiche Stunde einladen. Einzelbesprechungen lehne ich ab. Das ist Zeitvergeudung. Jeder auf seine Art wird dasselbe wollen: nichts.«

Er ließ sechs Einladungen ergehen; die eine an Neo-Mundania, den selbstgenügsamen Kontinent zwischen dem Atlantik und den Pazifik. Und fünf an die großen Kollektiv-Staaten, die fast ganz Europa beherrschten: den Ostblock, der das ehemalige Russland nebst einem Teil des einstigen Rumänien und Ungarn vertrat; den Bollwerk-Staat, der das zusammenfaßte, was einmal Polen, Czecho-Slowakei, Littauen, Lettland und Finnland war; den Nordring, der Dänemark, Norwegen, Schweden, Island, Grönland und Irland umfaßte; den Südring, der alle Staaten einbegriff, die das Mittelmeer berührten, soweit sie nicht von semitischen und nichteuropäischen Völkern bewohnt waren; und endlich den kleinen, aber wichtigen Insel-Staat Imperia, der die Dachorganisation der Angelsächsischen Freistaaten in der Welt darstellte. In jeder dieser Einladungen war das Ersuchen enthalten, nur einen Vertreter zu entsenden.

Betrix blinzelte mit den Augen. »Klingt das nicht etwas unhöflich?«

»Für Höflichkeiten ist die Zeit zu knapp« erklärte Caliban. »Wenn mehrere kommen, veranstalten sie sofort Kommissions-Sitzungen. Und das will ich nicht.«

Es erschienen wirklich nur sechs Flugzeuge mit sechs Staats-Vertretern. Aber jedem Flugzeug entstiegen außerdem 15 bis 20 andere Menschen. Es waren, wie sich bald herausstellte, Sekretäre und Sachverständige. Caliban begegnete diesen Massen auf die einfachste Weise. Die Staatsvertreter fanden ihre Namenskarten auf dem großen runden Tisch in der Mitte des Saales; die Sekretäre und Sachverständigen in einen Nebenraum, zu dem man die Türe offen gelassen hatte.

Es kam zu keinem Protest. Die Regie, die Caliban veranstaltete, ließ das nicht zu. Betrix stand in dem großen blauen Empfangszimmer, als der Vertreter von Neo-Mundania gemeldet wurde. Die ersten Höflichkeiten waren kaum ausgetauscht, als der Vertreter des Ostblocks erschien. Die beiden musterten sich mit höflichem Unbehagen. Das Erstaunen addierte sich mit jedem neuen Ankömmling. Der Vertreter des Südringes wäre am liebsten wieder davon gelaufen. Nur der Vertreter von Imperia zeigte Sportsgeist. Er lachte leise vor sich hin.

Die zweite Überraschung erfuhren sie, als sie um den runden Tisch Platz genommen hatte. Da trat Caliban ein, sein Schritt lang und federnd, sein Kopf etwas aufgereckt. Er verbeugte sich leicht in die Runde und setzte sich zur Linken von Betrix. Mit einer Geste, die schlicht und zwingend war und jede Frage von vornherein ausschloß, sagte sie: »Das ist Caliban.« Dann lehnte sie sich zurück, mit einer Gebärde der Endgültigkeit, die besagte: ‚Jetzt hört euch an, was er zu sagen hat.‘

Vom ersten Worte an leitete und beherrschte Caliban die Versammlung. Er neigte sich gemessen höflich nach allen Seiten. »Erledigen wir erst die Frage, die Sie alle bedrückt: warum hat Demosien seine Staatsform geändert? Ich erkläre hiermit, daß keine Änderung der Staatsform stattgefunden hat. Es handelt sich lediglich um eine technische Vereinfachung der Verwaltung. Die erwies sich als notwendig. Denn die Welt ist in ein Stadium der Unsicherheit getreten, die schnelle Entschlüsse notwendig macht. Sprechen wir also darüber, woher diese Unsicherheit kommt und ob man sie beseitigen kann.«

So direkt angesprochen und direkt auf das Wesentliche gestoßen, versuchten sie noch ein letztes Ausweichen. Der Mann von dem Nordring sagte: »Vielleicht können wir eine technische Vorfrage lösen, die uns alles leichter macht. Wir unterstellen, daß alles richtig ist, was wir kürzlich am Rundfunk von Ihnen gehört haben. Dann ist die Schlußfolgerung für uns klar. Aber die Entscheidung von Island zieht einen entgegengesetzten Schluß. Es wäre also richtig, Island zu fragen, wie es zu seinem Schluß kommt.«

Caliban antwortete prompt: »Nach dem Statut von Island ist es unzulässig, nach Gründen des Urteils zu fragen.«

Aus dem Nebenzimmer sekundierte die Stimme eines Sachverständigen: »Zutreffend!«

Der Mann vom Nordring schaltete sofort um: »Dann wird es notwendig sein, den ganzen Instanzenzug noch einmal in Gang zu bringen, damit Island noch einmal eine Möglichkeit zur Entscheidung bekommt.«

»Unmöglich« sagte Caliban trocken. »Es liegt res judicata vor.«

Aus dem Nebenzimmer kam ein Echo: »Judicata.«

Imperia sagte: »Es sei denn, es lägen ganz neue Tatbestände vor.«

Caliban wandte sich mit einer schnellen Bewegung zu ihm hin. »Richtig. Wissen Sie etwas neues? Haben Sie Nachrichten von Thomas Baker & Sons?«

Imperias Gesicht erstarrte vor kühler Ablehnung. »Wir lehnen jede Beziehung zu dieser Firma ab.«

»Das wissen wir« sagte Caliban entgegenkommend, und auf den Gesichtern der übrigen fünf Staatsvertreter leuchtete ein Lächeln auf. »Aber die Firma selbst stellt zur Zeit ein interessantes Problem dar, und das könnte man vor das Azoren-Gericht bringen. Thomas Baker & Sons sind Staatsangehörige von Imperia. Sie haben im eigenen Namen, aber für Rechnung des Common Sense Club in Imperia, den Waffenbestand aus Goethanien aufgekauft.«

Das Gesicht Imperias blieb gleichmütig. »Wir haben durch Ihre Radio-Sendung von diesem Vorfall Kenntnis erlangt. Wir haben sofort eine Kommission eingesetzt, die Dinge zu prüfen.«

Caliban unterbrach ihn. »Und Sie haben sich zu aller Vorsicht von jeder Waffengattung einige Muster schicken lassen, die zur Zeit in den Staatswerkstätten von Imperia untersucht, geprüft ... und nachgeahmt werden.«

Soweit man bei einer Anzahl von sechs Menschen von einem Rauschen sprechen kann, ging ein solches Rauschen durch die Versammlung. Imperia strich sich langsam zweimal über den kahlen Schädel. Der Sekretär im Nebenzimmer sah es und notierte: ‚feststellen, woher Demosien seine geheimen Nachrichten bezieht.‘

Caliban hob leicht die Hand. »Es wäre natürlich vollkommen überflüssig, deswegen etwa Anzeige beim Azoren-Gericht erstatten zu wollen. Denn wer wollte es tun? Alle anderen Staaten, deren Vertreter hier zu unserer großen Freude unsere Gäste sind, haben ja längst Beauftragte nach Goethanien gesandt und verhandeln wegen Überlassung von Mustern oder von Konstruktionsplänen, und haben teilweise bereits gekauft.«

Sie schwiegen. Man hörte sie denken. Nur der Vertreter des Südrings nahm die Brille ab, sodaß seine dunklen, ehrlichen Augen sichtbar wurden, und sagte mit aufrichtiger Bewunderung: »Sie müssen einen herrlichen Geheimdienst haben.«

»Ja« sagte Caliban. »Er ist ausgezeichnet. Aber bleiben wir bei der Sache. Dieses Verhalten der Staaten ist durchaus verständlich. Es ist so verständlich, daß es die Kompetenz des Azoren-Gerichtes einfach überflüssig macht. Wir wissen alle, daß in Goethanien Dinge geschehen sind, – und daß sie jetzt noch geschehen – die einen klaren Bruch der Weltordnung darstellen. Demgegenüber hat Island, die höchste Instanz der staatlichen Ordnung, versagt. Die Gründe gehen mich nichts an. Ich sehe nur das Ergebnis: das große Bindeglied des Weltfriedens weist einen Riß auf, eine Bruchstelle. Das Sicherheitsventil der Welt funktioniert nicht mehr. Jetzt haben Sie zwei Wege vor sich, meine Herren. Sie können auf der äußeren oder auf der inneren Linie denken. Das Denken auf der äußeren Linie sähe etwa so aus: es ist die Stunde gekommen, in der wir selber an Vorkehrungen für unsere Sicherheit denken müssen. Wir sind waffenlos. Wir sind es im Vertrauen auf Island und Kreta. Jetzt stellt sich heraus, daß Goethanien seit Jahren Waffen produziert. Das ist eine Ungerechtigkeit und eine Bedrohung zugleich. Kreta sichert uns nicht dagegen. Kreta hat keinen Befehl von Island bekommen, uns zu sichern. Also entsteht die Frage, ob wir uns selbst bewaffnen sollen. Aber gerade das ist uns verboten. Uns ist verboten, was Goethanien straflos tun durfte. Hier ist ein Dilemma geschaffen worden, das beseitigt werden muß. Ist es so, meine Herren?«

Sie nickten zufrieden und erlöst. Caliban hatte die Drohung des Azoren-Gerichtes von ihnen genommen. Er hatte zugleich das wahre Problem auf die einfachste Linie gebracht.

Der Ostblock fragte: »Also befürworten Sie die individuelle Bewaffnung der einzelnen Staaten?«

»Ich nehme an« sagte Caliban, »daß hier jeder Staat tun wird, was er für zweckmäßig hält.«

Imperia sagte – und jedes Wort war gesättigt mit der Genugtuung, daß er jetzt einen Hieb zurückgeben konnte –: »Vermute ich richtig, daß der Staat Demosien sich dann auf die Fabrikation seines Demos-Stahles konzentrieren wird?«

Caliban nickte gelassen: »Auf das und auf noch einige andere Dinge.«

»Ist der Stahl bereits bei der Erfinderkommission angemeldet?« fragte Neo-Mundania.

Caliban schüttelte nachdenklich den Kopf. »Nein. Wir haben auch nicht die Absicht, das zu tun. Zur gegebenen Zeit werden wir den Stahl zum Verkauf freigeben.«

Er ließ ihnen eine Sekunde Zeit, nachzudenken und ihre Phantasie wuchern zu lassen. Im Nebenzimmer raschelten die Füllfederhalter. Dann nahm er den Faden wieder auf.

»Aber diese Linie ist sehr simpel und uninteressant. Bewaffnung ist ein rein technisches Problem. Wichtiger scheint mir die innere Linie, und das Denken auf ihr sieht etwa so aus: was in Goethanien geschehen ist, hätte bei uns auch geschehen können. Hier und da ist es beinahe geschehen. Wir haben alle die Möglichkeiten im Auge behalten, uns einmal selber zu helfen, wenn die Instanzen versagen. Wir leben alle mit dem Gefühl des Abwartens, des Provisorischen. Was hindert uns daran, ruhig, friedlich und gelassen zu werden? Warum sind wir nicht glücklich in unserer Ruhe und Ordnung? Was führt zu Dingen wie denen, die sich in Goethanien ereignet haben? Wo liegt der Rechenfehler in der Bilanz der neuen Welt?«

Caliban sah sich rundum. Sie schwiegen erwartungsvoll. Er lächelte: »Meine Frage ist keine rethorische Frage, meine Herren. Ich habe eine These aufgestellt, von der ich ausgehe wie von einem Axiom. Es ist ein Rechenfehler in der Bilanz der Neuen Welt. Wir müssen Ihn finden und beseitigen. Oder wir müssen bankerott anmelden.«

Neo-Mundania begann langsam und systematisch zu denken. »Es ist eigentlich kein Grund vorhanden, unglücklich zu sein. Vor 50 Jahren ist die Lehre von den vier Freiheiten aufgestellt worden: Freiheit der Religion, Freiheit der Meinung, Freiheit von der Furcht vor der geheimen Polizei, und Freiheit von Not und Mangel. Geben Sie zu, daß die Freiheit der Religion verbürgt ist?«

»Ja« sagte Caliban. »Religionen sind so nebensächlich geworden, daß es niemanden interessiert, was der andere glaubt.«

»Immerhin. Und weiter: geben Sie zu, daß die Meinungsfreiheit gewährleistet ist?«

»Zweifellos, wir stehen ja erst heute vor dem Problem, wie es ist, wenn freie Meinungen sich auch betätigen und nicht nur Meinungen bleiben.«

»Immerhin. Und glauben Sie, daß es noch Furcht vor der geheimen Polizei gibt?«

»Ich glaube nicht. Sie ist vollkommen ersetzt worden durch den Geheimdienst, mit dem die Staaten einander ausspionieren.«

»Immerhin« sagte Neo-Mundania. »Und was das Problem des Mangels anlangt: wir haben die Frage der Ernährung der Welt im Prinzip gelöst. Niemand muß mehr hungern. Niemand wird mehr vom Mangel bedroht, wenn er nur arbeiten will. Arbeit kann er finden, denn wir haben auch das Problem der Verteilung der Rohstoffe im Prinzip gelöst. Also braucht niemand müßig gehen und verarmen.«

»Es scheint demnach« sagte Caliban, »daß es außer den vier Freiheiten und außer Hunger und Armut noch andere Triebkräfte im Leben von Völkern gibt.«

Der Mann von Nordring sagte trocken: »Ja, Herrschaftsideen. Nach dem Muster des alten Imperium Romanum. Die Welt beherrschen wollen oder wenigstens Europa, oder das Mittelmeer, oder wenigstens doch die Ozeane ...«

Der Vertreter von Südring fühlte sich sofort auf den Plan gerufen. »Das sind legitime Ansprüche. Sie ergeben sich aus der seelischen Verknüpfung zwischen Volk und Boden. Die braucht ein natürliches Ventil, so wie der Einzelmensch etwas haben muß, was er beherrscht.«

Imperia sekundierte ihm. »Und die neue Ordnung hat das auch rechtlich sanktioniert. Jeder hat seinen Bezirk, den er meistern darf, und den er nicht überschreiten darf.«

Ostblock sagte nachdenklich: »Seelische Verknüpfung zwischen Volk und Boden ... ob es so etwas auch für eroberten Besitz im Ausland gibt? Nehmen wir an – ich spreche jetzt rein theoretisch – ein Volk stiehlt sich ... pardon: erwirbt sich tausende Meilen entfernt ein reiches Stück Land. Woher bekommt es dann die sogenannte seelische Verknüpfung?«

»Aus seinen gesellschaftlichen Ideen« sagte Imperia scharf.

»Zum Beispiel?« fragte Ostblock mit naivem Ausdruck.

»Zum Beispiel aus der Idee der Demokratie« warf Neo-Mundania ein.

»Welche Demokratie?« fragte der Bollwerk-Staat. »Diejenige, die Herrschaft des Volkes innerhalb eines Staates meint, die Herrschaft eines Volkes über andere Völker meint ... und sie zuweilen für das Allgemeinwohl opfert?«

»Sehr begründete Frage« sagte Ostblock. »Was ist Demokratie?«

Neo-Mundania wurde ungeduldig. »Negativ gesehen ist es zunächst einmal das Gegenteil von Kommunismus.«

Ostblock nickte. »Das leuchtet ein, denn ich habe schon einmal gehört, daß Demokraten sich fremde Länder angeeignet haben. Von einem kommunistischen Staat habe ich so etwas noch nicht gehört.«

»Er würde es gerne, wenn er es könnte« zischte Neo-Mundania.

Aber Imperia lenkte würdig ein. »Diese Eroberungen sind Vergangenheits-Geschichte. Heute ist längst das Prinzip anerkannt, daß die Demokratien hier große und neue Aufgaben zu erfüllen haben: das geistige und wirtschaftliche Niveau der zurückgebliebenen Völker zu heben ...«

»Damit ihre Bedürfnisse steigen und man ihnen mehr Industrie-Güter verkaufen kann« warf Bollwerk verbissen ein.

Betrix sah zu Caliban hinüber. Er lächelte vor sich hin, so zufrieden, als habe er seine Gäste da, wohin er sie haben wollte. Er sagte: »Wir sehen also, daß es noch andere Kräfte im Leben der Völker gibt. Es genügt schon, Begriffe wie Demokratie und Kommunismus in die Debatte zu werfen, und schon tun sich die Abgründe auf ...«

Neo-Mundania unterbrach ihn: »Und schon ist man bei der Frage angelangt, was ein Volk glaubt.«

»O nein« sagte Caliban nachsichtig. »Demokratie ist kein Glaube und Kommunismus ist es auch nicht. Es sind nur wirtschaftliche Denkformen. Und wenn man sie sehr gut frisiert, sind es gesellschaftliche Denkformen. Darauf werden mir beide Vertreter antworten, daß ihre gesellschaftliche Denkformen eben die soziale Gerechtigkeit garantieren. Nehmen wir einmal an, das wäre der Fall. Müßte ein solches Leben in Gerechtigkeit dann nicht eine Grundstimmung zwischen den Völkern erzeugen, daß sie unter einander in Gerechtigkeit leben?«

Imperia sagte: »Für die Gerechtigkeit unter den Völkern ist durch Statuten und Verordnungen im vollsten Maße gesorgt.«

»Das eben ist es!« sagte Caliban. Er reckte sich auf, und in seiner Stimme klang eine dunkle, drohende Glocke. »Durch Statuten und Verordnungen erzeugt Ihr soziale Gerechtigkeit. Durch Statuten und Verordnungen schafft Ihr internationale Gerechtigkeit. Was steckt aber hinter diesen Statuten und Verordnungen? Ihr sagt: ein Glaube. Aber an was glaubt ihr? Ihr glaubt daran, daß jeder seinen fairen Anteil an den Lebensgütern bekommen soll. Man dividiert die Weltgüter durch die Zahl derer, die davon essen sollen. Das ist das Prinzip der sozialen Gerechtigkeit. Wenn dann nach der Verteilung noch ein Überschuß bleibt, dürfen die Geschickten und Flinken und Kapitalkräftigen sich darum raufen. Das ist das Prinzip der freien Initiative ...«

Der Vertreter von Imperia unterbrach ihn mit eisiger Höflichkeit. »Haben Sie uns nach hier eingeladen, um Prinzipien zu diskutieren?«

Das Murmeln der Zustimmung drang bis in den Nebensaal. Es war ein Ausdruck der allgemeinen Unlust, die Zeit mit Abstraktionen zu vergeuden. Aber Calibans Lächeln war voller Unschuld und Treuherzigkeit. »Im Anfang allen Tuns steht ein Gedanke. Wenn man die Gedanken der Menschen kennt, weiß man, was sie tun wollen ... oder tun können. Und da Sie alle so bereit waren, meine Einladung anzunehmen, habe ich mir gedacht: sie haben alle das Entscheidende verstanden, daß sie nämlich nicht mehr unter dem Schutz der ‚Neuen Ordnung‘ leben; daß sie alle nicht mehr in der bequemen Zeit leben, wo einem jede Entscheidung durch ein System, durch einen Paragraphen abgenommen wird. Sie haben alle verstanden, daß in dem verzwickten System von Drähten und Kabeln ein Kurzschluß stattgefunden hat. Sie sind sich alle darüber klar, daß man neue Sicherungen einbauen muß, und daß man sie gerade da einbauen muß, wo die unterirdischen Kräfte die Ordnung gesprengt haben. Darum ist es so brennend interessant für mich, zu hören ... daß Ihnen nichts neues eingefallen ist, was Sie nicht auch schon gestern gedacht haben. Ich danke Ihnen, meine Herren.«

Sie saßen eine Sekunde fassungslos da. Meinte er es? Meinte er es nicht? Was das Naivität? War das eine provokante Frechheit? Der einzig Unbefangene war der Vertreter von Neo-Mundania. Ihm kam dieser Abschluß sehr gelegen. Sein selbstgenügsamer Kontinent war längst an der Neuen Ordnung, die im wesentlichen eine europäische Angelegenheit war, uninteressiert. Der glatte, geräuschlose Gang der wirtschaftlichen Ordnung ließ garkeinen Raum mehr für Initiative und Tüchtigkeit. Er lähmte die Phantasie, die Unternehmungskraft, die Smartheit, die durch Erfindung immer neuer Bedürfnisse eine immer höhere Zivilisation erzeugt. Die Welt war langweilig geworden, und ein wenig Aufrüttelung konnte ihr nicht schaden. Er faltete bedächtig seine Papiere zusammen und sagte: »Nun ja, und da sich ja im Prinzip doch nichts ändern wird ...«

»Richtig« unterbrach ihn Caliban. »Bis auf die Tatsache, daß wir in einem Monat Krieg haben werden.«

Jetzt waren sie alle wieder bei der Sache, denn jetzt fühlten sie sich auf sicherem Grunde. Imperia sagte nachsichtig: »Meine Phantasie reicht nicht aus, mir vorzustellen, wer unter den heutigen Bedingungen Krieg machen sollte. Goethanien mit seiner Spielzeug-Ausrüstung gewiß nicht. Der Krieg ist nicht mehr der Vater aller Dinge. Lassen wir uns nicht einschüchtern.«

Caliban schwieg. Sie sahen ihn alle an und erwarteten von ihm eine Antwort oder einen Einwand. Aber er schwieg. Es war eine verlegene Situation, ohne Ende und ohne eigentlichen Abschluß. Das bedrückte sie. Der Mann vom Ostblock sagte endlich: »Und ich finde, daß der Begriff Krieg seinen Schrecken verloren hat. Die Wissenschaft hält ihn in Schach, so wie sie sich selber in Schach hält.«

Caliban schwieg immer noch. Seine Haltung, der Ausdruck seines Gesichtes ließen deutlich erkennen, daß er zur Sache nichts mehr zu sagen hatte und die Sitzung für ihn beendet war. Sie raschelten mit den Papieren und konnten sich nicht entschließen, aufzustehen. Der Vertreter des Südrings putzte eifrig seine Brille. »Warum sollen wir Entscheidungen vorwegnehmen, die möglicherweise nie eintreten? Wer sagt uns denn, daß die Neue Ordnung bankerott ist? Das ist eine Übertreibung. Wir sollten uns lieber bemühen, die bestehende Ordnung aufrecht zu erhalten.«

Caliban schwieg. Er schien entschlossen, an den Verhandlungen nicht mehr teilzunehmen. Südring, da er keinen Einwand hörte, fuhr fort: »Darum scheint es mir zweckmäßig, an Kreta das Ersuchen zu richten, eine Studien-Kommission nach Goethanien zu entsenden und die Verhältnisse an Ort und Stelle zu prüfen. Das wird als moralischer Druck und als gründliche Einschüchterung seinen Dienst tun.«

Studien-Kommission! Welch ein hoffnungsschwangeres Wort! Sie streichelten es und hielten es behutsam in der Hand. Wie gut hatte es ihnen immer gedient, ihre Seele vom Unbehagen zu erlösen! Lieber Gott, was wäre aus der Krone deiner Schöpfung geworden, hättest du ihr nicht die Kommission gegeben, den Begräbnisplatz für die vielen Taten, die ihre schöpferische Seele sie sonst zu tun gezwungen hätte!

Und jetzt versammelten sie sich fröhlich um diesen Begräbnisplatz. Südring stellte den formalen Antrag. Sie gönnten sich alle eine würdige Sekunde des Nachdenkens, um sich nicht durch unziemlichen Eifer vulgär zu machen. Dann hoben sich die Hände in Zustimmung. Nur Calibans Hand hob sich nicht. Trotzte er? Wollte er sich der Stimme enthalten? Oder gar dagegen stimmen? Wie sollte man das Protokoll formulieren?

Caliban der Blinde hatte in dieser Sekunde hundert helle Augen, mit denen er sie durchdrang und in den dunklen Winkeln ihrer Seele die Angst kauern sah. Er hatte sie jetzt da, wohin er sie haben wollte. Aber es freute ihn nicht. Es bedrückte ihn. Es machte ihm die Kehle eng. Er hatte beschlossen, ein Satan zu sein. Aber der Glanz, aus dem jeder Satan in die Tiefe fällt, war noch über ihm, stärker und mächtiger als je. Er war nicht in die Tiefe gefallen. Er hatte sich fallen lassen, mit Willen und Absicht. Und jetzt schlug das Licht nach ihm mit tausend Flügeln. Es zerrte ihn hinauf aus dem selbstgewählten Abgrund und hielt ihn hoch oben über der Erde fest, daß er sie wie einen Ball vor sich liegen sah. Und er sprach aus diesem Anblick heraus. »Wir sind auf diesem Planeten eingesperrt. Wir sind von Gott auf diesem Planeten eingesperrt. Wohin sollen wir? Wir haben keinen anderen Raum ... weder oberhalb noch unterhalb ...«

Sie starrten ihm an. Sie spürten ein Unbehagen. Er stand da und war viel größer als sie. Die Hände, die er gegen sie ausstreckte, waren die beschwörenden Hände eines Propheten. Sie suchten etwas im Raume, fanden es endlich und schlossen sich darum. Er hielt es ihnen entgegen. »Habt ihr immer noch nicht gelernt, mit dem Herzen zu denken? Gibt es immer noch für euch einen Kompromiß zwischen Gut und Böse? Ist Euer Gott immer noch ein schlecht gezähmter Teufel?« Und er schrie ihnen ins Gesicht, was ihn in dieser einen, in dieser endgültigen Sekunde zum letzten male in seinem Leben überwältigte: »GOTT!!«

Sie horchten erschreckt auf wie unter einer fernen Erinnerung. Sie blinzelten mit den Augen und wandten sich verlegen hin und her. Wer wird so schreien? Wer wird so tief aufstören? Es murmelte einer: »Gott ... nun ja ... gewiß ...«

Da wandte sich Caliban und verließ mit langsamen und sicheren Schritten den Raum. –


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