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VI.

Wenn man in der Gesellschaft von Goethanien über die Ehe sprach, versäumte man nie, auf den Staats-Präsidenten Odoaker und seine Frau, Vesta, hinzuweisen. »Das ist eine vorbildliche Ehe« sagte man, und manche sagten es mit einem Gefühl des Neides. Denn imgrunde stand diese Generation des totalen Friedens dem Problem der Ehe so ohnmächtig gegenüber wie die Generation des totalen Krieges. Es braucht eben mehr als nur einen Generationswechsel, um zu lernen, wie man für einander lebt und nicht gegen einender.

Aber diese gepriesene Ehe war ein Trugbild. Vor mehr als zwanzig Jahren, als sie noch jung waren, standen sie beide im Strudel der neuen Zeit. Da frohlockte die Jugend: »Wir bauen die Welt neu auf!« Niemand wollte alleine bleiben. Jeder wollte eine Zelle der neuen Welt aufrichten. Und nach zehn Jahren langweilten sie sich. Die Frauen wurden Mütter und verstanden nicht, warum die Männer im Glück der Familie nicht ruhig wurden. Und die Männer verstanden nicht, warum die Frauen in der Erziehung von Kindern den Sinn ihres Lebens fanden. Dabei waren die Frauen der Idee der Zukunft viel treuer als die Männer. Die Frauen meinten, es genüge, wenn etwas werde. Die Männer meinten, es müsse etwas geschehen. So wandten sich viele dem großen Hazard-Spiel zu, das man Politik nennt.

Als in der Ehe Odoakers dieses Stadium erreicht war, resignierte Vesta nicht. Sie zog mit ungewöhnlicher Kraft die Konsequenz. »Dieses Haus« erklärte sie ihm, »ist die Welt unserer Kinder. Wir haben einmal gemeinsam beschlossen, wie diese Welt aussehen soll. Jetzt willst du sie verraten. Ich werde dir das nicht erlauben. Treib deine Politik soviel du willst. Aber nicht in diesem Hause ...«

»Wie kann man das trennen?« sagte er ungeduldig.

»Indem man sich darüber klar ist, daß ich in dem Augenblick mit den Kindern fortgehe, in dem auch nur ein Wort, ein Hauch von deinem politischen Handwerk über die Schwelle kommt. Zerstöre die Welt, wenn du willst. Aber diese Welt hier wirst du in Frieden lassen!«

Er versuchte zu spotten. »Du bist imstande, zur Gewalt zu greifen ...«

Sie trat dicht vor ihn hin und sah ihn mit den großen braunen Augen an. »Ja!« sagte sie. Er wurde blaß, preßte die Lippen zusammen und schwieg.

Damit war der Pakt geschlossen ... und die Ehe beendet. Aber das Haus und seine Welt blieben. Es war wie eine Festung. Sie wurde bewohnt von Vesta, ihren drei Söhnen, und von Philippos, dem Erzieher ihrer Söhne. An jedem Abend wurde Odoaker in diese Festung hineingelassen, und er hielt sich streng an die Bedingungen, die ihm den Einlaß verschafften. Er tat es, weil er sich in seinem politischen Amt vor der Welt keine Blöße geben durfte. Aber mit den Jahren tat er es auch, weil er fernhin etwas von der stillen Kraft dieses ruhigen, mit Kultur gesättigten Lebens verspürte.

Nur selten wagte er es, Gäste in das Haus zu bringen, denn Vesta war unerbittlich und rücksichtslos in ihrer Kritik. Aber Labienus, der Bote aus Demosien hatte ausdrücklich darum gebeten, in das Haus des Staatspräsidenten eingeführt zu werden. »Ich habe besondere Grüße von Frau Betrix an Ihre Gattin zu überbringen« sagte er feierlich. »Ich weiß, daß Beide in Briefwechsel stehen und in ihren Ideen sehr verwandt sind.«

Odoaker wollte sagen: »Leider!« Aber er durfte es nicht. Die Erregung, die ihn den ganzen Tag hin und her geworfen hatte, ließ einen verwegenen, trotzigen Gedanken in ihm aufkommen: Vesta mit diesem Besucher zu überfallen. Er war ja ein Bote ihrer Freundin Betrix, die seinem Staate das Darlehen gekündigt hatte. Mochte sie sich mit dem Boten abfinden.

Vesta saß, wie gewohnt, mit ihren Söhnen und Philippos in der Halle des Hauses. Es gehörte zum Zeremoniell des Tages, Odoaker hier abends zu empfangen. Odoaker hatte heimlich eine Bezeichnung dafür: die abendliche Fesselung. Er haßte sie, aber er konnte sie nicht abstreifen. Er konnte sie nur – wie heute – ein wenig lockern, indem er nicht alleine erschien. Er wies mit großer Gebärde auf Labienus: »Ein Gast aus unserem lieben Nachbarstaat Demosien und ein Bote deiner Freundin Betrix.«

Mit einer unwillkürlichen Bewegung stellte Betrix sich vor ihre Söhne. Sie kam dem Gast keinen Schritt entgegen. Sie prüfte ihn sorgfältig und argwöhnisch. Es dauerte nur eine Sekunde. Dann wußte sie: das ist kein Politiker. Das ist nur ein Gelehrter. Nein, nicht einmal ein Gelehrter. Sein Gesicht war nur ernst, aber es war nicht ausgefüllt. Es waren leere Flächen darin. Und über diese Flächen war eine salbungsvolle Frömmigkeit ausgebreitet. Vesta kannte diese Männer, die das neue Zeitalter geboren hatte: kleine Gläubige, die jede Idee zu Tode reiten, weil sie von keiner Idee wirklich besessen sind. Der Mann war unschädlich, und als er seine Orgel spielen ließ, lächelte sie nachsichtig. Sie schüttelte ihm die Hand. Dann trat sie zur Seite und wies auf ihre Söhne. Als Labienus diese stattlichen Burschen sah, ging ein Leuchten über sein Gesicht. »Das verspricht eine schöne Zukunft« sagte er.

Da trat aus dem Hintergrunde Philippos hervor, jung, schmal, ernst. »Das wissen wir heute noch nicht, Herr Seelsorger« sagte er mit leiser Stimme. »Die Welt ist nicht normal. Darum liegt unsere Zukunft nicht bei der Jugend, sondern bei denen, die schon altern und die nicht dazu gekommen sind, die Träume ihrer Jugend zu gestalten. Das versuchen sie jetzt, wo sie beginnen, grau zu werden. Unsere Zukunft liegt bei alternden Führern der Gemeinschaft und bei Seelenhirten, die nie jung waren.«

Odoaker lachte verlegen. Labienus sah betroffen vor sich hin. Vesta nickte dem Philippos ermunternd zu. Für sie bestand der Wert der Wahrheit nicht darin daß sie irgendwo bestand, sondern daß einer wagte, sich zu ihr zu bekennen.

Diesem ersten Besuch des Labienus folgte ein zweiter. Aber diesesmal erging die Einladung von Vesta aus. Philippos hatte es so gewünscht. Er sammelte in ihrem Hause von Zeit zu Zeit eine Gruppe von Menschen um irgend ein Problem, das ihn beschäftigte, oder von dem er wollte, daß die Menschen sich damit beschäftigten. Diese Begegnungen hatten einen guten Ruf. Sie zogen Teilnehmer aus der ganzen Welt an. Diesesmal hatte Philippos an Menschen in zwanzig verschiedenen Ländern die Frage gestellt: »Was treibt Ihre Jugend? Was denkt sie? Wohin will sie? Kommen Sie am ersten Sonntag im Mai und berichten Sie uns darüber.«

Um über das Land Demosien zu berichten, hatte Philippos sich den Seelsorger Labienus ausgesucht. »Und wer wird für Goethanien berichten?« fragte Vesta.

Philippos lächelte seltsam. »Ich werde mir das Opfer aus der Versammlung selber aussuchen.«

Der Tag des Zusammentreffens war so warm und heiter, daß Vesta die Sessel unter den großen Blutbuchen im Park aufstellen ließ. Mehr als vierzig Menschen waren erschienen, bekannte Gesichter und unbekannte, auf die man noch neugierig sein konnte. Philippos hatte seine eigene, stille Art, aus ihnen unmerklich eine Einheit zu machen. Sie fühlten sich bald als Freunde, die einander etwas zu berichten hatten.

Als erster berichtete ein Mann aus dem Ostblock, Karpa, ein Hüne, der sich mühsam in europäische Kleidung gepreßt hatte. »Unsere Jugend hat eine klare Linie. Sie setzt den Weg fort, auf dem ihre Väter groß und unbesiegbar geworden sind: Arbeit und Hingabe für die Völker der Union. Was einer an Kraft hat, gibt er der Gemeinschaft, als Arbeiter, als Künstler, als Denker. Das Individuum ist unwichtig geworden. Es hat ein ungeheurer Wettbewerb eingesetzt, wer am meisten leistet und am meisten gibt. Man hatte im letzten Weltkrieg Prämien für gute Leistungen ausgesetzt, als Ansporn für den Sieg. Man hat das System fortgesetzt, als Ansporn für den Wiederaufbau des Zerstörten. Und man hat es beibehalten, weil die Eifrigen und Begabten im Volke es verlangt haben.«

»Warum haben sie es verlangt?« fragte Philippos. »Sind nicht die Hingabe an die Gemeinschaft und die Idee der Gleichheit Lohn genug?«

»Lohn muß sichtbar sein« sagte Karpa. »Die innere Befriedigung ... das ist eine Sache für sich.«

»Also vertritt die Jugend nicht mehr die Idee der Gleichheit aller?« fragte Vesta.

»Aber gewiß doch. Es sind ja alle gleich. Jeder hat das Recht, viel zu leisten. Und dann bekommt er viel Lohn. Das ist nur gerecht.«

Philippos wollte wissen: »Also gibt es eine reiche und eine arme Jugend?«

»Das ist nur relativ« sagte Karpa. »Die einen haben ein Lebensminimum, und die anderen ... nun, sehen Sie: die vielen hohen Löhne steigern natürlich den Lebensstandard, und damit wird das Leben teurer. Und das wirkt wieder als neuer Anreiz. Und daraus entstehen wieder Erfinder, Spezialisten, Rekord-Arbeiter. Es steigert eines das andere.«

Es fragte einer: »Was wird aus denen, die bei dieser Steigerung nicht mitkommen können? Erliegen die nicht dem Gefühl der Minderwertigkeit?«

Der Hüne Karpa zuckte die Schultern. »Den Begriff kennen wir nicht. Es handelt sich um eine Auslese der Tüchtigen. Wie in der Natur. Und die Unterlegenen ... nun, viele ziehen die Konsequenzen ... und gehen beiseite.«

»Sie begehen Selbstmord?«

Der Mann aus dem Ostblock nickte gelassen. »Das kommt vor. Aber der Weg unserer Jugend ist klar.«

Nach einer Pause sprach ein kleiner, rundlicher Mann mit melancholischem Gesicht. »Unsere Jugend in der Neuen Welt ist in zwei Lager geteilt. Die einen sind zufrieden. Es wird für sie gesorgt. Sie haben gute Schulen, in denen sie Tüchtigkeit lernen. Sie haben in hunderten von Berufen genügendes Einkommen. Sie haben von Staatswegen Versicherungen gegen alles. Unsere Wirtschaft und Industrie werden vom Staat kontrolliert. Wir erzeugen billig und in Massen. Jeder kann alles haben, wenn er nur den kleinen Finger rührt. Das alles schafft eine zufriedene Jugend: sie kennt keine Not.«

»Warum ist dann der andere Teil der Jugend unzufrieden?« fragte Karpa erstaunt.

Der Melancholische lächelte. »Weil sie undankbar sind. Weil sie diese wunderbare Ordnung und Fülle und Bequemlichkeit und Sorglosigkeit nicht wollen. Weil sie behaupten, sie hätten in dieser vollkommenen Maschinerie des Lebens nichts mehr zu tun. Es gäbe nichts mehr zu wollen, zu sagen, zu gestalten, wenn man nicht zufällig ein bedeutender Wissenschaftler ist. Es sind prächtige Burschen und Mädel darunter. Aber ich sage Ihnen: es sind Narren. Wo jeder vier Anzüge im Jahr haben kann, wollen sie nur einen. Wo sie einen Posten auf Lebenszeit in einem Industrie-Kollektiv haben können, wollen sie Lehrling bei einem kleinen Handwerker werden. Sie könnten jeder ein Auto haben. Und was wollen sie statt dessen? Es hat sich eine Gruppe gebildet – glauben Sie mir oder nicht – die es sich zur Aufgabe gesetzt hat, die Sahara zu kultivieren!«

Es lachte niemand außer ihm. Aber wie ein Echo von hinter den Bäumen her kam ein anderes Lachen. Alle wandten sich unwillkürlich um. Drei Gestalten kamen über den Rasen gegangen. Einige Schritte voraus ging Odoaker. Er sah sehr zufrieden aus. Sein Lächeln, mit dem er die Versammlung grüßte, war von höflicher Überlegenheit. Hinter ihm ging Paracelsus, schnaufend ob der ungewohnten Wärme, aber sprühend vor Lebendigkeit. Er hatte seine dicke Hand auf Labienus Schulter gelegt und schob ihn sachte vor sich her.

Philippos und Vesta sahen sich an. Was war aus dem ernsten, würdigen Seelsorger geworden? Er hatte alle Feierlichkeit abgestreift. Er sprach halblaut vor sich hin und lachte zuweilen auf, als ob eine Vorstellung ihn amüsiere. Seinen großen Filzhut schwang er unternehmend hin und her. Er war offenbar in einem hilarischen Zustand. Er verbeugte sich vor der Versammlung mit der Gebärde eines schlechten Schauspielers. Seine Orgel klang um eine halbe Oktave höher.

»Ich weiß, ich komme zu spät. Ich bitte den erlauchten Kreis um Verzeihung. Aber der Tag ist so schön ... und es gibt so viele Themen auf der Welt, die anziehender sind als die Jugend, über die ich Ihnen berichten soll. Die Jugend in Demosien ... wie weit liegt das zurück ... Was soll ich Ihnen von dieser Jugend sagen? Nun ja: sie ist ein Muster von Ordnung und Nüchternheit. Sie ist vegetarisch und antialkoholisch in ihrer seelischen Konstitution. Sie wird geboren, bekommt eine Beschäftigung zugewiesen, ißt, trinkt, erfüllt die vom Staat vorgeschriebene Aufgabe der Zeugung von Kindern, und produziert neben Industrie-Produkten genau die gleiche Jugend wie sie selbst in Kontinuum. Sie glaubt an die Menschlichkeit ... wie alle schwachen Völker, und sie liebt und vergöttert die Rente, die ein fleißiges Leben einträgt. Im Ganzen: zum Sterben langweilig.«

Er sah zu Boden und schüttelte den Kopf. Die Versammlung saß schweigend da. Die einen waren peinlich berührt, die anderen waren erstaunt. Paracelsus legte die Hand über den Mund und hustete, weil das Lachen seine Kehle kitzelte. Aber Philippos sagte mit vollkommener Ruhe: »Sehr interessant, Herr Labienus. Sie haben uns vor etwa 14 Tagen das genaue Gegenteil erzählt. Wir müssen also annehmen, daß Ihre Jugend sich inzwischen geändert hat. Denn wir können doch nicht gut annehmen, daß Sie, ein Seelsorger, sich in 14 Tagen in Ihr Gegenteil verkehrt haben.«

Paracelsus sprang für ihn ein. »Warum sollte er nicht?« platzte er kampflustig heraus. Aber Odoaker gebot ihm mit einer Gebärde Schweigen. Labienus hielt den Kopf gesenkt, als müsse er auf etwas angestrengt lauschen. Die Heiterkeit fiel langsam von ihm ab. Er sah auf und seine Augen trafen Philippos. Sein Gesicht war gequält. »Herr ... Herr Philippos ... wenn ich recht erinnere ...« sagte er stockend.

Philippos krampfte seine Hände über die Lehne des Sessels, daß die Knöchel weiß hervortraten. Er sah Paracelsus an, starr, unendlich böse und drohend. Er sagte: »Es ist sehr liebenswürdig, Herr Doktor, daß Sie uns Ihren Patienten zur Verfügung gestellt haben. Aber wir haben wohl alle den Eindruck, daß er noch ... sehr ruhebedürftig ist.«

Paracelsus polterte: »Er ist durchaus nicht mein Patient ...«

Vesta sagte still: »Herr Philippos hat Recht, und ich hoffe, Sie haben ihn richtig verstanden.«

Paracelsus wurde blutrot und verneigte sich stumm vor Vesta. Er nahm Labienus beim Arm und ging mit ihm über den Rasen fort. Die Menschen starrten ihm beklommen nach. Auch Odoaker wollte sich entfernen. Da erhob sich Philippos. »Ich möchte Herrn Odoaker im Namen der Versammlung bitten, nicht fortzugehen. Es ist so wünschenswert, daß wir diesen ... diesen Zwischenfall vergessen, und etwas angenehmes hören ...«

Odoaker drehte sich in höchster Überraschung um. »Und was kann ich dazu tun?«

»Die Versammlung erwartet von Ihnen einen Bericht über die Jugend in Goethanien.«

Odoaker zog ironisch die Augenbrauen hoch. »Wären Sie dafür nicht viel geeigneter? Sie sind doch ...«

Vesta unterbrach ihn. »Er ist nicht Staatsoberhaupt und nicht Vater dreier Söhne, so viel ich weiß.« Sie lächelte ihren Gatten an, und auch er lächelte. Es war ein Bild vollkommenen Einverständnisses. Die Gäste klatschten Beifall. Es war nicht recht erkenntlich, wem sie Beifall zollten. Aber Odoaker begriff die Situation. Mit einer ritterlichen Gebärde zu Vesta hin sagte er: »Ich bin besiegt und gehorche. Und ich glaube, daß ich nichts besseres tun kann, als wenn ich mein eigenes Haus als Beispiel nehme. Da sind einige gesunde, frische, junge Menschen, deren Erziehung in der Familie liegt. Sie bekommen ein gutes Gleichgewicht zwischen Sport und Bildung, das sie einmal dazu bringen wird, für alles in der Welt offen zu sein, was Kultur heißt, und doch mit beiden Beinen im Leben zu stehen. Ich würde sagen: es ist ein guter goldener Mittelweg ... nichts Außergewöhnliches, aber solide ... das, was die Zeit braucht.« Er sah sich im Kreise um. »Ich weiß, es ist ein etwas dürftiger Bericht. Aber ich bin kein Mann der Rede.«

Philippos hatte, wenn er leise sprach, eine besondere Art, Aufmerksamkeit zu erzwingen. Mit dieser leisen Stimme sagte er: »Sehr schade. Ich dachte, Sie würden uns noch etwas über die charakteristischen Organisations-Formen der Jugend berichten.«

Odoaker wurde vorsichtig. »Ich wüßte nichts von besonderen Organisations-Formen. Was meinen Sie?«

Philippos wandte sich zu den Gästen, als habe er Odoakers Antwort nicht gehört. Es lag etwas bewußt Verletzendes in der Art, wie er es tat. »Es ist Ihnen ja aus der Literatur bekannt, wie man in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts die Jugend dazu mißbrauchte, sie schon im Säuglingsalter in politische Organisationsformen hinein zu zwingen; wie man sie vergewaltigte und verdummte; wie man Marionetten aus ihnen machte, die zu einem Leben des Stumpfsinns eben so geeignet waren wie zu einem Leben der Brutalität. Ich habe bis jetzt von keinem Lande gehört, daß man zu diesem System zurückgekehrt ist. Vielleicht erfahren wir von Herrn Odoaker, wie dieses Problem hier in Goethanien gelöst ist.«

Jetzt wußte Odoaker, woher der Wind wehte. Er reckte den Kopf hoch und sagte gelassen: »Das gehört weder zu meinen Obliegenheiten noch ist es mein Ressort.«

»Das verstehe ich durchaus, Herr Präsident. Aber sagen Sie uns bitte, wer uns über die geheime Organisation berichten kann, in der die Jugend Goethaniens ihre militärische Ausbildung bekommt ...«

Unter den Gästen entstand Unruhe. Man hörte erstaunte Rufe. »Militärische Ausbildung?« Viele standen auf. Odoaker trat drohend einen Schritt auf Philippos zu. Auch Vesta stand auf, blaß und ratlos. Aber dann zuckte ein Instinkt durch sie hin. Sie ging auch einen Schritt vorwärts, drohend, auf Odoaker zu. Philippos war bleich. Er erhob die Stimme und sagte: »Wir sind dazu hier, einander die Wahrheit zu sagen. Die Wahrheit muß in die Welt hinaus. Und die Wahrheit ist, daß in Goethanien tausende von jungen Menschen zum Kriegshandwerk erzogen werden ... da unten neben den unterirdischen Waffenfabriken von Goethanien ...« Er hob beide Hände hoch und rief leidenschaftlich: »Geht und sagt es der Welt! Die Wahrheit muß in die Welt!«

Durch den Tumult hörte man Odoaker lachen. »Er hat den Verstand verloren! Er ist nicht zurechnungsfähig ...!«

Da schrie von weit her eine entsetzte, aufgescheuchte Stimme: »Nein! ... Nein!!! ...« Es klang wie der Schrei eines Ertrinkenden. Labienus kam über den Rasen gelaufen, den Rock offen, das Haar zerzaust. Hinter ihm her sprang Paracelsus. Er holte ihn mitten im Sprung ein, drückte ihm die Hand auf den Mund, warf ihn mit einem Schwung herum und schleppte ihn fort.

Das war eine Sekunde, in der alles erstarrte. Dann löste sich die Versammlung in einer wilden, fassungslosen Unruhe auf. Es war kein Abschied, sondern eine Flucht. Sessel flogen zur Seite. Sie traten achtlos über die schönen Blumeneinfassungen am Wege. Sie liefen vor einem Grauen davon, das sie angeweht hatte.

Vesta und Philippos blieben alleine zurück. Sie hielt sich verzweifelt den Kopf. »Aber Philippos, was für ein Unheil haben Sie da angerichtet!«

Er mühte sich um Fassung und Haltung. »Es tut mir leid, für Sie ... aber der Wahrheit ... darf man doch nicht Gewalt antun ...« Und dann brach er zusammen. Er schlug die Hände vor das Gesicht und zitterte. » Er wird mir jetzt Gewalt antun ... wie dem Labienus ... seine Leute mit den Giftspritzen und den Totschlägern ... und niemand schützt mich ...«

In Vesta stritten Furcht und Erbarmen. Sie packte seine Schultern. »Ist alles Wahrheit, was Sie gesagt haben? Ist keine Lüge dabei, kein Vorurteil?«

Er stammelte: »Noch nicht einmal ein Irrtum. Ich weiß alles. Heute ist Goethanien vorgeladen worden, nach Island, vor der Vormund der Völker ... um sich zu verantworten.«

Sie strich ihm über das Haar. »Wenn es so ist, will ich Sie schützen ... als wären Sie eines von meinen Kindern. Sie werden jetzt das Haus nicht mehr verlassen. Sie werden hier wohnen. Kommen Sie.«

Sie gingen beide in das Haus hinein, zögernd, so wie man einer Zeit entgegen geht, die man nicht kennt, und der man nicht traut. –

Am Abend bestand Vesta darauf, daß das Zeremoniell aller Tage eingehalten werde. Sie saß, wie immer, mit den drei Söhnen und Philippos in der Halle, um Odoaker zu erwarten. Er blieb länger aus als sonst. Die Spannung wuchs, wie die Minuten dahin schlichen. Einmal öffnete sich die Türe, zögernd, einen Spalt breit. Ein Brief flatterte hindurch. Dann schloß sie sich wieder. Vesta lachte nervös auf. »Ganz wie im Theater!« Einer der Jungen sprang hinzu und hob den Brief auf. »Für Philippos!« sagte er triumphierend.

Philippos öffnete ihn zögernd. Er las langsam, zwei, drei mal. Dann riß er sorgfältig einen Streifen unten vom Blatt ab, wo mit steilen, großen Buchstaben ein Name geschrieben stand, und gab den Brief zu Vesta hinüber. »Für den Inhalt bürge ich« sagte er. »Der Name tut nichts zur Sache.«

Vesta nahm den Brief zögernd. »Ich liebe kein Theater« murmelte sie.

»Wir werden nicht mehr gefragt, ob wir spielen wollen« sagte er mit ungewohnter Schärfe. »Es kommt nur noch darauf an, ob wir unsere Rolle gut oder schlecht spielen.«

Sie empfand – seltsames Gefühl – zum ersten male seine Überlegenheit ... und ihre Bereitschaft, sich ihr zu fügen. Sie las. Sie blieb lange über den Brief gebeugt. Dann wußte sie, welche Rolle sie zu spielen hatte. Sie schickte die Kinder fort, damit das Spiel nicht gestört werde.

Aber auch Odoaker wußte, welche Rolle er zu spielen hatte. Sie war an diesem Nachmittag in gemeinsamer Beratung unter der Paradiesheide festgelegt worden. Das Ziel war, Philippos in die Hand zu bekommen.

Er trat etwas zögernder und formeller ein als sonst. »Die Kinder sind nicht da?« war seine erste Frage.

»Gewiß nicht. Denn ich nehme an, du hast mir etwas zu sagen, was sie nicht hören müssen.«

»Richtig ... Ich bedaure ... diesen Vorgang von heute Morgen sehr. Ich persönlich habe mich durchaus an unseren Pakt gehalten: jeder seine Welt für sich. Aber du hast dich nicht daran gehalten.«

»Es kam mir durchaus überraschend« gestand Vesta. »Ich habe nichts dazu getan.«

»Ich glaube es dir« sagte er verbindlich. »Aber Tatsache bleibt, daß dieser ... daß Herr Philippos die Politik in das Haus getragen hat. Du wirst mir nicht einwenden wollen, daß ihm erlaubt ist, was mir nicht erlaubt ist.«

Sie gab keine Antwort. Sie sah ihn nur an. So mußte er weiter reden. »Es ist also nur recht und billig, daß ... diese Quelle der Störung ... diese Gefahr für den häuslichen Frieden beseitigt wird.«

»Das heißt?« fragte sie.

»Nun, daß er in diesem Hause nicht mehr Hauslehrer sein kann.«

Vesta stand auf. Sie ging zu Odoaker heran und sah ihn mit diesem Blick aus braunen Augen an, den er so fürchtete. »Hör gut zu, Odoaker. Philippos wird nicht geopfert, weder deinem Ehrgeiz, noch eurer wahnsinnigen Idee. Er bleibt. Der Kinder wegen ... und der Sache wegen. Und damit du nicht unnötige Vorbereitungen triffst: er wird das Haus einstweilen nicht verlassen, aus Gründen der Sicherheit.«

Odoaker wußte nicht, wie er seine Rolle fortsetzen sollte. Diese Möglichkeit war nicht beraten worden. Er verlor die Fassung und begann zu schreien: »Dann gehe ich!« – Vesta hob beschwörend beide Hände gegen ihn: »Tue es! Tue es!«

Da verließ Odoaker schweigend das Haus. Er betrat es nicht wieder, bis er nach dem großen Kriege gelähmt, ein lebendiger Leichnam, wieder hineingetragen wurde. –


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