Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

II.

In der fallenden Dämmerung fuhr Woolf langsam und vorsichtig aus der Paradiesheide heraus. In einem Wäldchen zwischen zwei Dörfern hielt er den Wagen an, um die überraschenden Eindrücke und Erfahrungen dieser letzten Stunden zu ordnen. Obgleich ihm die letzten Zusammenhänge noch fehlten, war das Bild doch schon in seinen Umrissen erschreckend klar: im Staate Goethanien bestand eine geheime Organisation. Sie hatte unterirdische Werke angelegt. Sie sammelte Menschen um sich, und noch mehr: sie sammelte zu dunklen und gefährlichen Zielen Material.

Das war eine so unfaßbare Entdeckung, daß er immer wieder erstaunt den Kopf schüttelte. Lebte das Ideal nicht mehr, mit dem seine Jugend aus dem Grauen des letzten Krieges herausgewachsen war: daß ein Volk nur dann ein Recht auf Leben und Existenz hat, wenn es die Menschheit als eine große Einheit aller Kreaturen empfindet und ihr mit allen Kräften dient? Wurde schon wieder mit dem alten Feuer gespielt, von dem die kleinen und die großen Nationen sagten, es sei das Feuer auf dem Altar von Weltideen, während es doch nichts war als das Steppenfeuer unrastiger Barbaren? Waren sie nicht mit dem Los zufrieden, das die Vereinigten Nationen ihnen zugewiesen hatten? Was fehlte ihnen, um glücklich zu leben? Gewiß: man hatte ihnen alle Erzgruben genommen, damit sie nie wieder in die Versuchung kämen, die Pflugschar zum Schwerte umzuschmieden. Aber man hatte ihnen für das ganze mittlere Europa beinahe ein Monopol gegeben, Wirkwaren, Farben, Porzellan, Buchdruckerzeugnisse, Uhren, optische Instrumente und Werkzeuge herzustellen. Zehntausende von Musterfabriken spien Waaren aus und zogen Reichtum ins Land. Man hatte ihnen ungeheure Mittel zur Verfügung gestellt, eine Getreidezone anzulegen und die Ernährung des Volkes zu sichern. Sie waren fleißig und strebsam, und beinahe schien es so, als lebe die künstlerische Kraft in ihnen wieder auf, die sie selbst in den vergangenen Generationen der Vernichtung preisgegeben hatten. Was war es, das da jetzt wieder im Untergrund wühlte?

Er fuhr erschreckt aus seinem Nachdenken auf, als plötzlich ein Mann neben seinen Wagen auftauchte. »Ach Sie sind es, Persing. Sie haben mich erschreckt. Was gibt es?«

»Ich war so beunruhigt ... wegen des Briefes. Ist alles in Ordnung?«

Woolf lächelte traurig. »Es ist garnichts in Ordnung, lieber Persing. Ich fürchte, wir gehen einer großen Unordnung entgegen. Aber den Brief können Sie vernichten. Haben Sie Dank für den Dienst, den Sie mir erwiesen haben, und leben Sie wohl.«

Der junge Arzt sah ihn überrascht an. »Das klingt so ... soll das ein Abschied sein? Wollen Sie uns verlassen?«

Woolf reichte ihm die Hand. »Ich glaube, ich werde für einige Zeit ... verreisen müssen. Hören Sie nicht auf, Persing, ein Arzt zu sein, der mit den Geschöpfen leidet.«

Dann fuhr er davon. Persing rief ihm etwas nach. Er hörte es nicht mehr. Seine Gedanken kreisten wieder um die brennende Frage: was geschieht hier und warum geschieht es? Aber er hatte keine Zeit dafür. Er hatte dringende Dinge zu tun, und sie mußten gründlich getan werden. Zunächst mußte er zu dem alten Adam fahren und ihn beruhigen.

Adam saß in seinem kleinen Studierzimmer und las in einem großen Buch mit schwerem Lederdeckel. Als Woolf eintrat, versuchte er es schnell zu verstecken. Woolf lachte. »Laß die Bibel nur liegen, Adam. Sie ist ein sehr nützliches Buch. Ich bin nur auf einen Sprung gekommen, dir zu sagen, daß du dich wegen der Fische nicht zu beunruhigen brauchst. Die Erscheinung wird zurückgehen.«

»Und was war es eigentlich?«

»Gas« sagte Woolf ruhig. »Ein von mir selber erfundenes Gas.«

Adam erhob sich langsam. »Wie kommt es in den Fluß?«

»Diebe haben versucht, sich seiner zu entledigen, da sie nicht damit umzugehen verstehen. Mehr darf ich dir nicht sagen.« Er wandte sich zum gehen. In der Türe zögerte er. »Adam, wie alt bist du?«

»Zweiundneunzig Jahre.«

Woolf beschrieb mit der Hand einen unbestimmten Kreis. »Dann bist du mit den Menschen jung gewesen, die vor einer Generation hier gelebt haben. Dann mußt du sie kennen. Sag mir eines: warum können sie nicht mit sich und der Welt in Frieden leben? Was treibt sie, immer wieder auszubrechen?«

Adam ging zu einer großen Landkarte, die an der Wand hing. Er zeigte auf eine rote Fläche. »Was ist das geographisch, Woolf?«

»Eine Insel.«

»Menschen, die auf einer Insel leben, bekommen eine Inselseele. Rund um sie her ist der Horizont. Darum glauben sie, sie seien der Mittelpunkt der Welt.«

»Aber Goethanien ist keine Insel« warf Woolf ein.

»Schlimmer als das« sagte Adam. »Schau hier: ein Meer von anderen Völkern ringsum. Und es sind nicht stumme Wasser, sondern lebendige Zuschauer. Das macht sie unruhig. Sie denken immer darüber nach, wie sie sich vor diesen Zuschauern behaupten können. Und das macht sie böse.« Er ging zum Tisch zurück und legte die Hand auf das große Buch. »Und sie haben das da nicht im Herzen. Sie sind heute noch Heiden der Urzeit. Ringsum sind noch böse Geister, Dämonen und Teufel, die sie bekämpfen müssen.«

»Wenn dem so ist« sagte Woolf, »dann muß ich mich selber anklagen. Ich habe mich nur um meine Wissenschaft gekümmert. Ich hätte mich auch um das Denken dieser Menschen kümmern müssen. Man darf sie nie aus dem Auge lassen, weil man immer die Taten ihrer Unreife zu fürchten hat. Aber was ich tun kann, sie unschädlich zu machen, das werde ich tun. Leb wohl, Adam.«

Es war schon dunkel, als er auf dem Friedenshügel ankam. Er ging in sein Laboratorium, ohne Licht zu machen, aber auch ohne die Fensterläden zu schließen. Er hatte das sichere Gefühl, daß er beobachtet würde, und er wollte, daß der Beobachter, wer er auch sei, ein deutliches Bild von dem bekäme, was er sich entschlossen hatte, jetzt zu tun. Er sperrte seinen Schreibtisch auf. Da lagen, in Fächern mit pedantischer Sorgfalt geordnet, zahllose Bogen mit Aufzeichnungen. Sie enthielten das Werk seines Lebens, die vollendeten und die unvollendeten Arbeiten, die Experimente und die Entwürfe für morgen. Er nahm sie alle aus den Fächern heraus. Er hatte ihnen allen ein besonderes Schicksal zugedacht: sie sollten einmal seinen Schülern als Grundlage für weitere Forschungen dienen. Er hatte nicht damit gerechnet, daß man sie einmal dazu mißbrauchen könnte, Waffen für den Kampf gegen Menschen daraus zu machen. Dieses Schicksal wollte er ihnen ersparen. Er wollte sie vor der Entweihung schützen.

In dem kleinen Verbrennungsofen, der der Fensterreihe gegenüber lag, häufte er Manuskripte auf. Dann steckte er sie in Brand. Die Flamme, vom Luftzug genährt, stieg blau und rot auf. Sie erhellte das ganze Laboratorium. Sie hüllte seine Gestalt in eine unheimliche, fanatische Aureole. Sie drang nach außen durch die großen Scheiben bis in den stillen, mit Rasen bewachsenen Hof. Sie zeichnete die schwachen Umrisse eines Mannes ab, der jenseits des Rasens in einem Torbogen stand und sich nervös auf die Lippen biß. Sie wurde immer wieder von neuen Blättern und Bogen genährt. Sie brannte fast eine Stunde lang. Dann war das Lebenswerk des Arnold Woolf vor der Profanierung beschützt.

Als Woolf sich von seiner Arbeit aufrichtete, war er aschgrau im Gesicht. Aber er war vollkommen ruhig und gesammelt. Sein Plan stand fest. Er ging durch den gedeckten Gang zu seiner Wohnung hinüber. Als er vor der Haustüre stand, öffnete eine unsichtbare Hand sie vor ihm. Woolf trat ein. »Guten Abend, Caliban« sagte er und ging an ihm vorüber. »Ich möchte heute Abend nichts essen.«

Caliban schloß die Türe und ging hinter ihm her. Er überragte Woolf um Haupteslänge. Er war von athletischem Wuchs und trug den Kopf merkwürdig aufgereckt. Sein Gang war gelassen und sicher. Seine Augen waren hell und durchscheinend. Aber er war blind. Er war an dem Tage erblindet, als das alte Laboratorium unter einer furchtbaren Explosion zusammenbrach. Damals hatte er Woolf aus den rauchenden Trümmern gerettet, aber ihm selbst hatten giftige Dämpfe die Sehnerven zerstört. Seit dem Tage bestand die Freundschaft zwischen dem Gelehrten und dem Laboratoriumsdiener. Caliban besorgte den kleinen Haushalt und alles, was das Privatleben Woolfs anging. Er hing an ihm mit einer unerschütterlichen Treue und einer fanatischen Hingabe. Er sagte mit seiner tiefen Stimme: »Sie werden essen, denn Sie haben nichts zu Mittag gegessen. Und um neun Uhr ist Sitzung der Kommission für Erfindungen.«

Woolf wußte, daß es gegen Anordnungen Calibans keinen Widerstand gab. So ging er gehorsam in das kleine Eßzimmer. Als Caliban ihm ein Glas Wein einschenkte, sagte er plötzlich: »Sie haben etwas verbrannt. Sie haben Papiere verbrannt.« Die Flasche begann in seiner Hand zu zittern. »Es müssen sehr viele Papiere gewesen sein ...«

Woolf antwortete nicht. Er konnte sich auf Calibans Instinkt verlassen. Er hatte es hundertfach erfahren, daß er aus dem kleinsten Anhaltspunkt, den seine geschärften Sinne ihm gaben, zu Schlüssen von unheimlicher Folgerichtigkeit kam. Und auch ein Schweigen konnte Caliban richtig deuten. Er sagte: »Haben Sie nichts übrig gelassen?«

»Nichts, als was ich im Kopfe mit mir trage.«

»Das ist genug« sagte Caliban. »Daraus werden Sie von neuem aufbauen. Wann werden Sie fortgehen?«

Woolf wandte sich um und starrte ihn an. »Woher weißt du ...?«

Caliban lächelte traurig. »Was bleibt Ihnen anders übrig? Sie haben Ihren Lieblingsschüler als Spion entlarvt. Sie haben Ihre Brücken verbrannt. Das kann nur einer tun, der nicht mehr bleiben will ... der fliehen muß. Und wenn ein Woolf flieht, ist die Gefahr sehr groß. Werden Sie mich mitnehmen?«

»Ich werde dich nicht alleine lassen. Ich weiß noch nicht, wann und wie ich gehe. Vielleicht ergibt sich schon auf der Konferenz heute Abend irgend etwas.«

Caliban sagte entschlossen: »Dann werde ich für heute Nacht alles vorbereiten.«

»Gut. Wieviel Geld habe ich noch auf der Bank?«

»Fast nichts« sagte Caliban.

Woolf zog die Augenbrauen hoch. »Das ist ... unangenehm.«

Aber Caliban lachte leise. »Im Gegenteil. Es ist besser so. Es liegt nämlich alles im kleinen Schreibtisch. Ich habe lange schon eine böse Ahnung gehabt und habe es aufgespeichert, statt es auf die Bank zu legen. Guten Appetit.«

Calibans Gelassenheit, seine Umsicht und Vorsorge machten Woolf ruhig und zuversichtlich. Er war fest entschlossen, die Aufmerksamkeit der Erfinder-Kommission auf die unterirdischen Vorgänge in Goethanien zu lenken, denn diese Kommission war ein wichtiges und einflußreiches Element der neuen Ordnung. Sie war eines der Sicherheitsventile, die die Vereinigten Nationen sich geschaffen hatten. Denn zwei Dinge waren immer unerträglicher geworden. Es waren zahllose Erfindungen gemacht worden, die das Leben der Menschen hätten einfacher, behaglicher und sorgloser machen können. Ein Teil davon hatte nie das Licht der Welt erblickt, weil man den Erfinder oder seine Arbeit unterdrückt hatte, und ein Teil war von Industrien aufgekauft worden, die ein Interesse daran hatten, daß sie nie ausgenutzt wurden. Und andere Erfindungen waren gemacht worden, um für die Menschheit ein Segen zu werden, und man hatte Werkzeuge der Vernichtung daraus gemacht.

Um das eine wie das andere zu verhüten, war eine internationale Kommission eingesetzt worden. Jede Erfindung, die irgendwo in der Welt gemacht wurde, mußte ihr vorgelegt werden. Was gut war und sich nur zum Guten auswirken konnte, wurde zur Ausführung freigegeben. Wenn der Staat, in dem der Erfinder lebte, nicht binnen einer bestimmten Frist an die Ausführung gegangen war, wurde sie für die ganze Welt freigegeben. Diejenigen Erfindungen aber, die sich verhängnisvoll auswirken konnten, wurden nach Kreta überwiesen. Dort, wo die Polizeitruppe der Welt saß, war auch das große, gefährliche, geheime Arsenal der Welt; jene gigantischen Werkstätten, die dafür sorgten, daß zur Drohung und Warnung für Kriegslustige alles vorbereitet war, was eine fortgeschrittene Welt an Werkzeugen der Zerstörung und Vernichtung produzieren konnte.

Die Sitzung hatte schon begonnen, als Woolf den Saal betrat. Er ließ seinen Blick über die Halbkreise der Bänke gleiten. Da saßen die Mitglieder der Kommission, die Vertreter der Regierungen und die Sachverständigen. Es war eine Sammlung von klugen und aufmerksamen Gesichtern. Selbst Shellhammer, der auf der Bank der Sachverständigen saß und den er durch seinen Einfluß selbst in diese Versammlung hineingebracht hatte, sah klug aus. Aber der gespannte Zug in seinem Gesicht, den er bislang immer für ein Zeichen starker innerer Aufmerksamkeit gehalten hatte, enthüllte sich jetzt als verbissen, hinterlistig, feige.

Woolf nahm seinen Platz am Tische des Präsidiums ein. Es wurde gerade ein Referat verlesen, dem alle nur mit halber Aufmerksamkeit zu folgen schienen. »Um was geht es?« fragte Woolf einen Beisitzer.

»Eine uninteressante Erfindung. Da will einer aus Baumrinde ein wasserdichtes Gewebe herstellen. Ganz unnötig.«

Plötzlich fuhr Woolf auf. Von der Bank der Regierungsvertreter hatte sich ein Mann erhoben und sprach. Die Stimme traf ihn wie ein Schlag. Er hatte sie wenige Stunden zuvor gehört. Er sah auf. Da stand ein Mann mit einem schweren, halbkahlen Schädel, dessen rote Ohren merkwürdig grell vorstanden. Woolf hatte ihn nie gesehen, aber die Stimme war die des Mannes in Uniform, des geheimnisvollen Siebenundneunzig aus dem Raum unter der Paradiesheide! Woolf neigte sich zum Präsidenten: »Wer ist der Mann?«

»Das ist Odoaker, der neue Regierungsvertreter von Goethanien. Finden Sie nicht, daß er aussieht, als ob er unter seinem Anzug eine Uniform trüge?«

Woolf nickte zustimmend. Seine Gedanken arbeiteten schnell und exakt. Odoaker befürwortete die Erfindung und erklärte, daß Goethanien bereit sei, sie auszuführen. Der Vorsitzende unterbrach ihn höflich. »Sie haben doch eben aus dem Gutachten gehört, daß das Verfahren sehr unökonomisch ist. Die Referenten versprechen sich garkeine Vorteile von dem Verfahren.«

Odoaker erwiderte: »Es kommen zwei Gesichtspunkte dafür infrage. Es gibt Länder, die keine Baumwolle haben. Was sollen sie machen, wenn einmal die Baumwollernte mißrät?«

Der Vorsitzende lächelte. »Das Welt-Versorgungs-Amt hat soviel Vorrat, daß keine Gefahr besteht.«

Odoaker hatte schon ein neues Argument vorbereitet. »Und man kann nicht jede Erfindung nach ihrer Rentabilität werten. Sagen wir: ich könnte mit einem Medikament ein Menschenleben retten. Soll da der Preis entscheidend sein?«

Woolf erhob sich. Er sagte mit höflicher Ironie: »Es bereitet uns allen tiefe Genugtuung, zu hören, wie besorgt der Vertreter meines Heimatsstaates um ein Menschenleben ist. Aber sagen Sie uns bitte: was hat das mit imprägnierten Stoffen zu tun? Wollen Sie etwa eine Kampagne einleiten, die Menschheit vor Erkältung zu schützen?«

Ein stilles, verhaltenes Lachen ging durch die Versammlung. Odoaker lief rot an vor Wut. »Es sterben an Erkältungen weit mehr Menschen in der Welt als an ...«

Woolf unterbrach ihn schnell: »Als an heimlichen und verbotenen Experimenten. Das wollen Sie doch sagen, nicht wahr?«

Odoaker sah ihn mit weit aufgerissenen Augen an. Eine plötzliche Unsicherheit befiel ihn. Was konnte dieser Woolf von heimlichen und verbotenen Experimenten wissen? Auch die Versammlung war unruhig geworden. Der Vorsitzende fragte befremdet: »Worauf wollen Sie hinaus, Kollege Woolf?«

Woolf sagte mit ernster und eindringlicher Stimme: »Wir haben bis jetzt in dem Vertrauen gelebt, daß jede Erfindung der Kommission vorgelegt werde. Es scheint mir wünschenswert, ernsthafte Nachprüfungen anzustellen, ob das wirklich der Fall ist.«

Der Präsident sah zu ihm auf. »Haben Sie Gründe, daran zu zweifeln?«

Woolf nickte. »Aber auch wenn ich keinen Grund hätte, sollten wir eine solche Vorsichtsmaßregel nicht vernachlässigen. Der neue Weg, den die Menschheit geht, ist noch nicht so tief in die Herzen und Gehirne eingegraben, daß nicht Irrtümer und Rückschläge vorkommen könnten. Es gibt überall Atavismen ...«

Odoaker erhob sich. Man sah ihm an, daß er einen Trumpf auszuspielen hatte. »Ich stimme mit dem Herrn Professor vollkommen überein. Er wird bestimmt der erste sein, der uns etwas über eine Erfindung sagen wird, die er der Kommission noch nicht vorgelegt hat: das Gamma-Gas.«

Ein Raunen der Aufregung ging durch die Versammlung. Aber Woolf stand ganz unbewegt da. »Herr Odoaker ist etwas voreilig, denn das Gamma-Gas befindet sich noch im Versuchsstadium. Er ist auch etwas unvorsichtig, denn er verrät Kenntnisse, die er normalerweise nicht haben kann. Wer hat Ihnen von dem Gas erzählt, Herr Odoaker?«

Odoaker brüstete sich. »Das ist unwichtig. Das Gas ist wichtig!«

Woolf stieß den Zeigefinger vor. »Woher wissen Sie das? Sind etwa die Versuche, die Sie hinter meinem Rücken angestellt haben, schon beendet? Erzählen Sie der Kommission, was Sie gefunden haben. Und da Sie uns heute Ihre zarte Liebe für Menschen und Menschenleben bereits demonstriert haben, werden Sie uns auch sagen, ob das Gamma-Gas nicht etwa gefährliche Eigenschaften entwickelt hat, ob es nicht etwa Menschen gefährdet, ob nicht etwa Opfer der Experimente zu beklagen sind, ganz gleich, ob es eines ist oder ...« er erhob die Stimme zu einem scharfen Flüstern: »... oder siebenundneunzig!«

Die Gesichter im Saal zeigten Bestürzung. Odoaker war aufgesprungen. Er war bleich. Er stammelte: »Was für Unsinn reden Sie da?«

Der Präsident fuhr ihm scharf in die Parade. »Das ist keine Ausdrucksweise für unsere Versammlung, Herr Odoaker. Ich frage Sie kraft meines Amtes: sind vonseiten der Regierung Versuche mit einem Gas angestellt worden, das Gamma-Gas heißt und das auf einer Erfindung von Herrn Woolf beruht? Ja oder nein?«

Odoaker sagte entschlossen: »Nein!«

Woolf wandte sich an den Präsidenten: »Bitte fragen Sie ihn, ob auf seine persönliche Anregung der Chemiker Shellhammer Versuche mit dem Gamma-Gas angestellt hat, ob er über den Ausgang der Versuche Bericht bekommen hat, und ob bei diesen Versuchen Menschen ums Leben gekommen sind.«

Die Spannung im Saal war atemlos. Alle Augen waren auf Odoaker gerichtet. Niemand außer Woolf nahm wahr, daß Shellhammer sich aus dem Saale fortschlich. Odoaker hatte eine rote Zornader auf der Stirne. Wieder sagte er entschlossen: »Nein! Wann und wo soll das gewesen sein?«

»Das ‚wann‘ der Versuche kann ich Ihnen nicht sagen. Aber ich werde Ihnen das ‚wo‘ sagen: in den Räumen der unterirdischen Waffenfabrik, die mit Ihrer Kenntnis unter der Paradiesheide besteht.«

Jetzt brach ein Tumult aus. Die Versammelten schrien in grenzenloser Erregung durcheinander. Nur mühsam konnte sich der Präsident Gehör verschaffen: »Herr Odoaker, was haben Sie zu antworten?«

Odoaker stand da wie eine Bildsäule. Er antwortete durch zusammengepreßte Zähne: »Nichts.«

Der Präsident stand auf. »Ich bitte die Versammlung, zu beschließen, daß diese Angelegenheit sofort dem internationalen Kriminal-Gericht auf den Azoren übermittelt wird, und daß wir die Mitglieder des Gerichts bitten, mit den schnellsten Flugzeugen hier einzutreffen.«

Die Hände erhoben sich zur Bestätigung. »Danke, meine Herren. Dann schließe ich diese Versammlung.«

In dem allgemeinen Aufruhr eilte Woolf aus dem Saale und lief wie gehetzt zu seinem Auto. Mit rasender Geschwindigkeit fuhr er die steilen Kurven vom Hügel hinunter. Am Fuße der Ebene wandte er den Wagen westlich und jagte durch die schlafenden Dörfer, bis er den Rand der Paradiesheide erreichte. Diesesmal wagte er es schon, ganz nahe bis an die Lichtung heranzufahren. Er stieg in den Schacht hinunter, als sei es ein gewohnter Weg. Schon vor der Wendeltreppe zog er die Schuhe aus, um schneller und ohne Geräusch gehen zu können. Er war überzeugt, daß diejenigen, die er hier zu finden hoffte, einen näheren und schnelleren Zugang zu den unterirdischen Anlagen hatten.

Er täuschte sich nicht. Das Viereck in der Decke leuchtete schon hell, und schon waren Stimmen hörbar, aufgeregte, tumultarische Stimmen, und darunter die dünne, grelle Stimme des Shellhammer. Woolf spähte über den Rand. Der Raum war voll von Menschen. Alle trugen Uniform. Nur Odoaker und Shellhammer hatten offenbar nicht Zeit gehabt, sich umzukleiden. Es schien, als habe Odoaker schon einen Bericht von den Ereignissen in der Sitzung gegeben. Er sagte: »Wir müssen sofort zu einem bündigen Ergebnis kommen. Herr Grimm, bitte äußern Sie sich.«

Grimm war ein kleiner, schmalbrüstiger Mann mit verbissenem, bösartigem Ausdruck. Er betonte seine Worte mit langen Spinnenfingern. »Als erstes werden wir gezwungen sein, ein Gericht gegen Herrn Shellhammer zu konstituieren. Wenn das erledigt ist, können wir unsere Aussage vor dem internationalen Kriminal-Gericht überlegen.«

Shellhammer sprang auf. In seiner Stimme war Todesangst. »Sie haben kein Recht, über mich zu Gericht zu sitzen. Aber wenn Sie ein Gericht wollen, dann verlange ich ein ordentliches Gericht, mit Verteidiger und Zeugen!«

Grimm lachte höhnisch. »Wir Juristen von Goethanien haben einen Begriff aufgestellt, gegen den Sie mit Ihrer dünnen Stimme nicht anschreien können: Staat in Not, Staatsnotwehr. Und wir, die wir hier sitzen, wir sind der Staat. Und Ihre Existenz ist für diesen Staat eine Lebensgefahr ...«

»Ich bin nicht schuldig!« schrie Shellhammer. »Ich habe nichts verraten!«

Grimm nickte. »Das ist sehr wohl möglich. Aber damit ist garnichts gedient. Allein die Tatsache, daß Sie vorhanden sind, daß Sie als Zeuge vor das Internationale Kriminal-Gericht gerufen werden – das ist schon eine ungeheure Gefahr für den Staat.«

Shellhammer erhob seine Faust. »Dann sparen Sie sich doch die ganze Gerichtskomödie. Dann lassen Sie mich doch gleich beseitigen!«

Grimm strich sich das dürre Kinn. »Beseitigen? Sagen wir: unschädlich machen. Und da die Anregung von Ihnen selbst ausgeht ...«

Die Versammelten lachten erlöst und zufrieden. Odoaker schlug einen kleinen Gong an. Er klang wie ein Armesünderglöckchen. Die Türe öffnete sich und zwei baumlange Männer in schwarzer Uniform traten ein. Odoaker wies stumm auf Shellhammer. Vier mächtige Hände griffen zu und trugen ihn aus dem Raum. Es war das Werk einer Sekunde. Woolf sah als letztes, wie Shellhammer als schmales, hülfloses Bündel hinausgezerrt wurde.

Odoaker setzte sich gelassen an seinen Platz zurück. »Das wäre erledigt. Aber damit ist noch nicht alles getan.«

»Nein« warf Grimm ein. »Der Woolf muß auch noch beseitigt werden.«

Odoaker lächelte ihn an. »Langsam, langsam, Herr Justizminister. Woolf ist kein kleiner Assistent, dessen Verschwinden nicht viel Aufsehen macht. Er ist ein Name in der Welt. Ich denke nicht daran, ihm auch nur ein Haar zu krümmen.«

»Sie wollen ihn ungehindert sein Wesen treiben lassen?« erboste Grimm sich.

»Keineswegs. Zunächst werde ich aus ihm herausbekommen, woher er seine Kenntnisse hat. Sie müssen aus erster Quelle stammen. Die Art, wie er das Wort siebenundneunzig herausbrachte, war die Provokation eines Menschen, der viel weiß.«

Grimm zuckte die Achseln. »Sie können ihm sein Wissen nicht entreißen.«

»Doch« sagte Odoaker. »Ganz ohne Gewalt, nach guter alter Methode: ein par Tage unfreiwilliger Schlaflosigkeit, und es ist viel erreicht.«

»Diese par Tage werden Sie nicht Zeit haben« warf Grimm ein. »Die Leute von den Azoren werden morgen hier sein.«

Odoaker nickte gelassen. »Ja, und ich werde sie selber empfangen. Ich werde auch als Zeuge erscheinen und beschwören, daß alles Erfindung und Phantasie ist. Und damit werde ich der einzige Zeuge sein. Denn kein anderer Zeuge wird den Sitzungssaal betreten. Dafür übernehme ich die Garantie.«

»Und wenn die Richter darauf bestehen, Woolf zu vernehmen?«

»Dann werde ich einverstanden sein. Leider wird man ihn nicht finden können. Es wird ein Brief von ihm eintreffen, in dem er mitteilt, daß er für einige Tage verreist ist, und daß er bittet, mit seiner Vernehmung zu warten. Bis dahin habe ich dann seine Aussage schriftlich vorliegen. Wenn sich andere Zeugen melden sollten, so wird ihr Weg zum Sitzungssaal der längste Weg ihres Lebens sein.«

Sie lachten wieder erlöst und zufrieden. Auf Odoaker konnte man sich verlassen. Er hatte für das weite Ziel, das sie sich gesteckt hatten, die nötige Kraft ... und die nötige Unbedenklichkeit. Sie gingen beruhigt schlafen.

Odoaker blieb noch eine Weile sitzen. Als alle Schritte verklungen waren, drehte er die Scheibe des Telefons. Nach einer Weile sprach er. »Ist dort die Wohnung von Professor Woolf? Kann ich ihn einen Augenblick sprechen? ... Er ist schon schlafen gegangen? ... O nein, wecken Sie ihn nicht. Nein, es ist nichts auszurichten. Ich rufe morgen früh wieder an.«

Beruhigt legte er den Hörer zurück und reckte sich. »Na, dann kann ich auch schlafen gehen« murmelte er vor sich hin und verließ den Raum. –

Eine Stunde später fuhren Woolf und Caliban in Richtung auf die Grenze Demosiens durch die Nacht. Sie war milde und erfrischend. Caliban trommelte mit den Fingern gegen den kleinen gelben Koffer, der neben ihm stand. »Fahren wir den direkten Weg?« fragte er.

»Ja« sagte Woolf, »den geradesten Weg.«

»Das gefällt mir nicht, Meister. Der kürzeste Weg ist immer der längste.«

»Orakel!« lachte Woolf.

Caliban nickte. »Sie werden schon sehen.«

Mit der Morgendämmerung kamen sie an die Grenze. Die Grenzen dieser neuen Zeit unterschieden sich vorteilhaft von denen der alten Zeit. Sie waren nur noch Grenzlinien zwischen Verwaltungsbezirken. Kein Aufgebot von Wächtern und Soldaten und Zöllnern. Kein Stacheldraht und keine militärische Prachtentfaltung. Keine Zollrevision, keine hartnäckige, verbissene Chikane gegen Reisende, und keine Pässe, die mit Geboten oder Verboten gefüllt waren. Der feindliche, haßvolle, rachsüchtige Abschluß von Land gegen Land war aufgehoben. Es gab nur für die, welche Grenzen überschreiten wollten, ein internationales Reisedokument. Der entwürdigende Anblick, daß Menschen elend und hülflos vor Grenzpfählen lagen, blieb den Zeitgenossen erspart.

Als sie die Grenze erreichten, kam aus dem kleinen Häuschen, in dem die Listen für die Reisedokumente geführt wurden, ein Mann heraus. Woolf reichte ihm sein Dokument. Der Mann warf einen Blick hinein, dann sagte er höflich: »Es tut mir leid, Ihnen sagen zu müssen, daß die Grenze aus sanitären Gründen bis heute Abend geschlossen ist. Vielleicht können Sie schon gegen Mittag weiter fahren. Wenn Sie in meinem Häuschen warten wollen ...« Er machte eine einladende Gebärde.

Woolf blieb vollkommen ruhig. »Vielen Dank. Ich komme dann gegen Mittag noch einmal wieder. Glauben Sie, daß ich um 12 Uhr passieren kann?«

»Ich bin beinahe sicher« lächelte der Beamte.

Woolf wandte den Wagen und fuhr zurück. Wie sie außer Hörweite waren, fragte er: »Und was nun?«

Caliban sagte: »Bei Kilometer 14 links einbiegen. Es ist ein schlechter Weg. Bei den drei Steineichen müssen wir aussteigen und zu Fuß weiter gehen. Dann sind wir in einer Stunde über die Grenze. Aber der Wagen geht verloren. Schade.«

»Du bist geizig« lachte Woolf.

Caliban sagte grimmig: »Ja, weil ich diesen Leuten nichts gönne. Aber lange werden sie ja an dem Wagen auch keine Freude haben. Die nächste Kanonenkugel wird ihn in Stücke reißen.«

»Du bist ein Phantast« sagte Woolf.

Aber Caliban hob den Kopf wie ein Tier, das eine Witterung aufnimmt. »Nein. Aber ich rieche Krieg!«

Eine Stunde später hatten sie die Grenze nach Demosien überschritten. –


 << zurück weiter >>