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IV.

Am Morgen nach der Sitzung, in der Woolf den Stein ins Rollen gebracht hatte, erschien zu sehr früher Stunde ein Bote im Laboratorium auf dem Friedenshügel. Er hielt eine rote Ledermappe sorgfältig unter den Arm gepreßt. In dieser Mappe befand sich eine Aufforderung des Azoren-Gerichts an Woolf, unverzüglich vor dem Gericht zu erscheinen, um seine Aussage zu machen.

Das Laboratorium war offen, aber es war niemand darin. Man wies den Boten in die Wohnung des Woolf. Sie war versperrt. Auf kein Klopfen wurde geöffnet. Der Bote schien sehr besorgt. »Vielleicht ist ihm etwas zugestoßen? Ich höre, daß er nur einen blinden Diener hat. Man müßte die Türe sprengen.«

Man tat es nach einigem Zögern. Die Wohnung stand so da, als hätte man sie für einen kurzen Spaziergang verlassen. Es war niemand darin.

Die Menschen stellten besorgte Vermutungen an. Aber der Bote drehte sich brüsk um, preßte die Mappe unter dem Arm fester an sich und lief spornstreichs den Hügelweg hinunter. In der dritten Kurve, unter den überhängenden Zweigen einer alten Kastanie, hielt ein großes geschlossenes Auto. Der Schlag wurde von innen aufgestoßen und ein gewaltiges, fettes Gesicht mit hängenden roten Backen schaute heraus. »Alleine? Was ist los?«

Der Bote warf die rote Mappe mit einem ärgerlichen Schwung in den Wagen. »Umsonst gefälscht! Das Nest ist leer!«

Der Dicke streckte zwei prankige Hände vor. In der einen hielt er eine Gesichtsmaske, in der anderen eine Glastube mit langer Spitze. Er schnaufte apoplektisch. »Schade um die schöne Entführung. Ich hätte so gerne diese neue Narkose ausgeführt. Sie hat nämlich sehr lustige, sozusagen hilarische Nachwirkungen ...«

Der Bote unterbrach ihn. »Lieber Paracelsus, halten Sie jetzt keine medizinischen Vorträge. Überlegen wir lieber ...«

Paracelsus lachte. »Mein Gott, Gunner, Sie sind noch ein stürmischer Knabe. Nur wenn man nicht an die Dinge denkt, fallen sie einem ein. Also fahren wir heim. Zum Regierungsgebäude!« rief er dem Chauffeur zu.

Gunner saß steif und nachdenklich da. »Wir müssen sofort Odoaker benachrichtigen« sagte er.

Paracelsus erstickte beinahe vor Lachen. »Sofort! sagt der Knabe. Um 8 Uhr früh! Wollen Sie etwa in seine Villa gehen und riskieren, daß Frau Vesta Sie die Freitreppe hinunterwerfen läßt? Zur Not wird sie es auch eigenhändig besorgen, wenn jemand darauf besteht, politische Angelegenheiten in ihr friedliches Heim zu bringen.«

»Ich kann doch telefonieren« sagte Gunner ganz kleinlaut.

Paracelsus klopfte ihm väterlich auf die Schulter. »Eben nicht, mein Sohn. Ab zehn Uhr morgens verleiht Frau Vesta ihren Gatten an die Regierung von Goethanien. Nicht eher. Lassen Sie lieber nachforschen, wo Woolf ist. Wir brauchen ihn, Gunner. Es kann uns Kopf und Kragen kosten, wenn wir Woolf nicht finden!«

Als sie in das Regierungsgebäude kamen, ging Grimm in dem kleinen Sitzungszimmer in verbissener Erregung auf und ab. Als er die beiden eintreten sah, blieb er stehen. Paracelsus fiel schwer atmend in einen Sessel. Gunner trat an das Fenster und trommelte aufgeregt gegen die Scheiben.

Grimm lachte höhnisch. »In der ersten Runde also geschlagen, wie es scheint! Dann haben wir noch vier Stunden Galgenfrist.«

»Wieso vier Stunden?« fragte Paracelsus. »Ich bereite mich schon auf die zweite Runde vor.«

»Vier Stunden« beharrte Grimm. »Hier ist ein Telegramm. Das Azoren-Gericht trifft um Mittag ein. Gunner, Sie werden wohl die nötigen technischen Vorbereitungen treffen müssen.«

Gunner straffte sich. »Ja. Ich habe eine ganze Menge Vorbereitungen zu treffen. Ich bin um zehn Uhr wieder hier. Dann wird Frau Vesta ja wohl ...«

Paracelsus warf wortlos einen schweren bronzenen Tintenlöscher nach ihm. Gunner sprang erschreckt durch die Türe davon.

Grimm sah ihm nach. »Ein tüchtiger Junge. Was bedrohen Sie ihn?«

Paracelsus war unwillig. »Er ist noch viel zu jung und unerfahren, um Zyniker sein zu dürfen. Er hat noch die Pflicht, an Ideale zu glauben.«

»Wollen Sie damit sagen, daß wir Älteren zynisch sein dürfen und nicht mehr an Ideale glauben?«

»Richtig. Wir leben aus Unmut und Ärger weiter, und daß wir es wissen und entsprechend handeln, ist unser Zynismus. Ich hätte große Lust, dem Azoren-Gericht davon eine Probe zu geben.«

»Wie wollen Sie das machen?«

Paracelsus erhob sich schnaufend. »Indem ich mich für eine Stunde in meine Hexenküche zurückziehe.«

Als Odoaker endlich kam, waren seine Mitarbeiter vollzählig da. Er grüßte mit loyaler Freundlichkeit. »Nun, Gunner, wie ist das Programm des Tages?«

Gunner hielt einen Notizblock vor sich hin. »Unübersichtlich« sagte er. »Programmpunkt eins: Fortsetzung der Suche nach dem verschwundenen Professor Woolf ...«

Odoaker sprang auf. »Wieso verschwunden?«

Gunner zog ungerührt einen Aktenbogen aus seiner Mappe. »Hier der Bericht, einschließlich genauer Beschreibung der Örtlichkeit, von der aus er vermutlich mehrere Besprechungen im Zimmer des Regierungschefs belauscht hat. Programmpunkt zwei: Empfang des Azoren-Gerichts auf dem Flugplatz durch Regierungs-Kommissar Gunner, pünktlich 12 Uhr.«

Odoaker stützte nachdenklich den Kopf in die Hand und sagte nichts. Paracelsus seufzte tief: »Punkt drei: Lunch für die Mitglieder des Azoren-Gerichts unter chemischer Mitwirkung des Ministers für Volksgesundheit Paracelsus.«

»Immer noch zum Scherzen aufgelegt?« fragte Odoaker böse.

Paracelsus nickte melancholisch.

Ein Bote trat ein und übergab Gunner eine Mappe mit Schriftstücken. Er warf einen Blick darauf. »Gute Nachricht« sagte er erfreut. »Woolf und seine blinde Kreatur sind an der Grenze auftragsgemäß angehalten worden und sind umgekehrt. Wir werden sie also bald haben.« Er blätterte weiter und erbrach ein Telegramm. »Und hier ...« er ließ das Blatt sinken. »Das verstehe ich nicht. Was ist das? Demosien kündigt fristlos alle Darlehen und verlangt Rückzahlung binnen einem Monat!«

Grimm blickte düster. »Da haben wir es.«

»Was haben wir?« schrie Odoaker.

»Die Folge der hemmungslosen Ausgaben! Die Pleite, Herr Regierungschef! So wie ich es vorausgesagt habe.«

Odoaker winkte ärgerlich mit der Hand ab. »Das ist ganz nebensächlich. Zahlen werden wir so oder so nicht. Ich möchte viel lieber wissen, warum diese demotischen Spießbürger so plötzlich ihr Geld haben wollen. Meine Herren, es muß doch etwas durchgesickert sein, was ihnen einen Schock versetzt hat.«

»Grenzen sind nicht wasserdicht« sagte Gunner trocken. »Ich habe längst vorgeschlagen, daß wir uns einen guten Propaganda-Apparat schaffen, mit dem man Überzeugungen und Wahrheiten produzieren kann. Es ist immer noch nicht zu spät. Geben Sie mir ein kleines Budget, meine Herren. Es kommt ja jetzt sowieso auf ein par Kreuzer nicht mehr an.«

»Zu spät!« schrie Odoaker. »Unser Geheimnis schwimmt schon in der Welt herum. Morgen wird die ganze Meute über uns herfallen, und wir sind verloren.«

Grimm sah ihn beinahe mitleidig an. »Sie gehören doch noch zur alten romantischen Schule, lieber Odoaker. Sie haben sich an den Formalismus der neuen Ordnung noch nicht gewöhnt. Was ist Meute? Das sind Gesinnungsjäger. Die gibt es heute garnicht mehr. Es gibt nur ganz genaue juristische Formeln: was ist ein Angreifer?, was ist ein Vertragsbrüchiger?, was ist ein souveräner Staat? und so fort. Sie verstehen? Alle haben nämlich Angst, daß man ihnen einmal ins Herz gucken könnte, wie es da mit der Gesinnung aussieht. Darum stellen sie Kataloge von objektiven Tatbeständen auf, die erfüllt sein müssen, ehe man jemandem zu Leibe rückt. Also keine Aufregung. Lassen wir erst mal das Gericht kommen.«

In diesem Augenblick wurde ein Telegramm in das Zimmer gebracht. Odoaker griff darnach, ehe Gunner es öffnen konnte. Er las und seine Augen wurden noch unruhiger. »Es ist etwas faul im Staate Dänemark, meine Herren. Das Gericht teilt mit, daß es erst nachmittags kommt. Das muß seinen guten Grund haben.«

Grimm vermerkte: »Seinen bösen Grund. Aber wir können im Augenblick nichts tun. Wir müssen uns auf das Improvisieren verlegen. Vergeuden wir keine Energie mit Nachdenken. Es ist besser, wenn wir uns bis zum Nachmittag vertagen.«

Sie folgten seinem Rat. Aber am Nachmittag war die Situation noch unübersichtlicher und beängstigender geworden. Man hatte Woolf und Caliban nicht gefunden, wohl aber das Auto an der Grenze bei den drei Steineichen. Und bald darauf lief die Nachricht ein, daß Waggons mit Stahl, die von Demosien kamen, dicht vor der Grenze angehalten und zurückgerufen worden waren. Da wurde das Budget für ein Propaganda-Amt beschlossen. Gunner begab sich auf den Flugplatz, Paracelsus in sein Laboratorium, und Odoaker und Grimm in einen kleinen Raum, der an den Bankettsaal des Regierungsgebäudes anschloß. –

Als die Mitglieder des Azoren-Gerichts auf dem Flugplatz eintrafen, fanden sie sich einer Situation gegenüber, die von der in Demosien völlig abwich. Dort standen neben dem Flugzeug Automobile bereit, die sie geradenwegs zum Sitzungssaal brachten. Hier stand eine Kette von Menschen bereit, die sie an ihren Ort fesselten und die sie zwangen, Eindrücke in sich aufzunehmen. Ein alter würdiger Mann mit der Miene eines Geistlichen und ein bescheidener junger Mann begrüßten sie. Ein Mädchen in hellem Kleide überreichte ihnen Blumen. Alles trug die Note der Frömmigkeit, der Friedlichkeit, der gesegneten Ruhe. Die Stratosphären-Gestalten runzelten die Stirne. Das waren unsachliche Dinge. Aber vielleicht machte sie die Kälte, aus der sie kamen, unbewußt empfänglich für die natürliche Wärme des Empfangs. Sie hatten nicht den Eindruck, zu einem Volke zu kommen, das so verderbt war, daß es sich tief unten unter der Erde ein Arsenal der Vernichtung baute.

Das wird auch der Grund gewesen sein, daß sie nicht ablehnten, als man sie zunächst in den Bankettsaal führte und sie bat, sich nach ihrer langen Reise erst etwas zu stärken. Gunner bat lächelnd um Verzeihung, daß man ihnen zu dem einfachen Imbiß keinen Wein reiche, sondern das gute, gesunde Mineralwasser des Landes. Dann ließ er sie allein.

Sie aßen schweigend. Das Essen war gut. Das Wasser hatte einen merkwürdig prickelnden, angenehmen Geschmack. Einer konnte sich nicht enthalten, zu sagen: »Beinahe wie Wein. Sehr erfrischend und anregend.«

Die anderen nickten Zustimmung. Sie aßen und tranken und verspürten eine seltsame Unlust, sich zu erheben und an ihr Amt zu gehen. Sie beendeten das Mahl in gehobener Stimmung. Als sie sich zurückzogen, um ihre ernste Richtertracht anzulegen, waren sie beinahe in einem Zustand der Euphorie. Sie tauschten unter sich kleine, humoristische Bemerkungen aus, was sie sonst um der Würde ihres Amtes willen streng vermieden. Sie hatten wohl das unbestimmte Gefühl, daß sie etwas Ungewöhnliches taten, aber der Drang, es dennoch zu tun, ergriff auf seltsame Weise von ihnen Besitz. Sie hatten wenig Neigung, sich in die schwarze Robe zu kleiden, als vertrage die basaltene Farbe sich nicht mit dem Hellrosa ihrer Stimmung. Sie gingen verzerrt lächelnd im Zimmer auf und ab. Wenn einer sie unauffällig beobachtet hätte, hätte er Spuren einer leichten Trunkenheit bei ihnen feststellen können.

Sie wurden beobachtet. In einem Nebenraum stand Odoaker an einem Prismenteleskop und schaute sich die lächelnden und tänzelnden einundzwanzig Azoren-Richter an. Er hatte Mühe, ein lautes Lachen zu unterdrücken. Er stieß Grimm, der neben ihm stand, in die Seite. »Die sind so weit. Die werden heute keine Schwierigkeiten mehr machen. Jetzt werden wir ihnen noch einen kleinen Chok versetzen, damit sie sich nicht allzu behaglich fühlen.«

Er setzte plötzlich und mit aller Kraft die Alarmglocke in Bewegung, die den Beginn der Sitzung ankündigte. Die Einundzwanzig stoben auseinander wie ein Vogelschwarm. Sie lachten und waren zugleich erschreckt. Sie stolperten über die kleinen Handkoffer. Sie saßen blöd grinsend auf dem Boden. Sie umarmten sich und suchten Halt an einander. Sie kicherten und schlugen fassungslos um sich. Noch einmal ließ Odoaker die Alarmglocke ertönen. Er tat es um seines privaten Vergnügens willen, denn er wollte es voll genießen, wie die gefürchteten Einundzwanzig von ihrer Höhe herunter purzelten und ein harmloser Schwarm von Schwächlingen wurden, die ein wenig gute chemische Beimengung zum Gesundbrunnen des Landes nach Belieben erzeugen konnte.

Aber damit hatte er das Maß zu voll gemacht. Vom Klang des zweiten Alarms erschreckt und in die Höhe gerissen, griff die Blutige Flamme automatisch nach der basaltschwarzen Robe, und mit einer Bewegung, die nicht Absicht, sondern Gewohnheit war, zog er sie sich über den Kopf. Der Stoff floß an seinem Körper herunter. Und dieser Stoff war so durchtränkt von dem Geiste, den er umschloß, er war so Bestandteil des Wesens, das Jahr um Jahr über die schwarzen Aktendeckel gebeugt saß, er war so Teil der Persönlichkeit geworden, daß er die schwanken, unsicheren Glieder wie mit einem plötzlichen Ruck zusammenriß und ihnen die Sicherheit, die Starrheit, die Unbeweglichkeit einer Basaltsäule verlieh. Im Bruchteil einer Sekunde war die Benommenheit des Gehirns verflogen. Die Trunkenheit war verjagt. Das Erwachen war blitzschnell und von einer ungeheuren Nüchternheit. Mit kalten, bösen Augen sah er auf die Gefahr zurück, der er im letzten Augenblick entronnen war. Er wußte jetzt, was ihm geschehen war, was man ihm und den zwanzig Anderen zugedacht hatte. Mit einer gewaltsamen Bewegung stülpte er die blutrote Kappe über den kahlen Schädel und stand groß, böse, nach Rache verlangend im Raum.

Von seiner dürren, aufrechten Gestalt floß Wirkung aus, die wie mit Krakenarmen über den Boden tastete und die zwanzig verschlungenen, trunkenen Gestalten erfaßte und an sich saugte. Sie entwirrten sich, richteten sich mühsam auf, standen da und kämpften um ihr Gleichgewicht. Die Blutige Flamme ging vom einen zum anderen und zog ihm das schwarze Gewand über den Kopf. Und wie die Falten fielen, rieselte die große Ernüchterung über sie, standen sie beschämt und erschreckt da, blickten sie aus offenen, kalten Augen einander an und bekannten sich stillschweigend den Abgrund, aus dem sie in letzter Sekunde gerettet waren. Als das dritte Glockenzeichen ertönte, setzte sich ein dunkler, ernster, harter Zug von einundzwanzig Menschen in Bewegung. An der Spitze ging eine schwarze, unbarmherzige Basaltsäule, mit einem blutigen Haupt ohne Mitleid.

Im Saale waren die Regierungsmitglieder von Goethanien schon versammelt. Sie sahen der kommenden Sitzung wie einer vergnügten Schaustellung entgegen. Aber wie die einundzwanzig Gestalten wie ein antiker Chor den Saal betraten und an dem langen Tisch Platz nahmen, wie sie – ohne die Versammlung auch nur eines Blickes zu würdigen – die schwarzen Aktendeckel öffneten und die Schreibstifte zur Hand nahmen, überkam die Versammelten ein unbehagliches Gefühl. Da war irgend etwas Unvorhergesehenes geschehen, das nicht in ihrem Plan stand. Sie begannen sich zu fürchten. Aber als die Blutige Flamme aufsah und mit seiner rasselnden, knochigen Stimme zu sprechen begann, erstarrten sie.

»Wir sind von der internationalen Kommission für Erfindungen ersucht worden, eine Untersuchung darüber anzustellen, ob in Goethanien Dinge geschehen, die gegen die Friedensordnung der Welt verstoßen. Wir haben dementsprechend unsere Erhebungen begonnen. Wir sind jetzt hier, um sie fortzusetzen.«

Odoaker erhob sich zögernd. »Wir haben angenommen, daß das Hohe Gericht gekommen ist, um die Erhebungen zu beginnen, nicht sie fortzusetzen ...«

»Das Gericht ist in seiner Prozedur an keine Formalitäten gebunden« unterbrach Blutige Flamme ihn. Wir können unsere Erhebungen beginnen, wann und wo wir wollen.

Odoaker zuckte die Achseln. »Wenn das Hohe Gericht an keine Vorschriften gebunden ist ...«

Wieder wurde er unterbrochen. »Wir sind nur an eine einzige Vorschrift gebunden: daß Zeugen, die nicht die Wahrheit sagen, die etwas verdrehen oder verschweigen, der sofortigen Todesstrafe verfallen. Jetzt nennen Sie mir bitte die Zeugen, die aussagen sollen.«

Grimm erhob sich. Sein Haß gegen die mächtigen Einundzwanzig war grenzenlos, und der tiefste Grund seines Hasses war, daß man ihn, den bedeutenden Rechtsgelehrten, nicht in das Azoren-Gericht gewählt hatte. Er sagte: »Es ist in der Rechtspraxis der Welt üblich, daß der Ankläger seine Zeugen benennt, aber nicht der Angeklagte.«

Die Blutige Flamme blieb unbewegt. »Es gibt hier keinen Ankläger, sondern nur einen, der seine Pflicht zur Mitteilung erfüllt hat. Und ob es einen Angeklagten gibt, wird der Vormund der Nationen auf Island entscheiden. Aber wir sind bereit, Ihnen den Vorgang zu erleichtern und selber die Zeugen zu benennen. Der erste ist der Leiter Ihres Staates, Herr Odoaker. Der zweite würde Herr Grimm sein, aber das können wir nicht verantworten.«

Grimm sprang auf. »Ich übernehme selber die Verantwortung für meine Aussage!«

»Eben das befürchten wir« sagte Blutige Flamme. »Die besonderen Umstände in denen Sie sich befinden, könnten Sie vielleicht – natürlich ganz unbewußt – dazu verführen, von der Wahrheit abzuweichen. Und das würde Ihr Tod sein.«

»Darf ich erfahren« sagte Grimm höhnisch, »worin das Hohe Gericht diese besonderen Umstände sieht?«

»In der Tatsache, daß Sie möglicherweise der intellektuelle Anstifter zum Mord an dem Chemiker Shellhammer sind ...«

Da erhob sich Odoaker. Er war sehr blaß und hatte die Zähne aufeinander gepreßt. »Ich bitte das Hohe Gericht um die Erlaubnis, daß wir uns zu einer kurzen Beratung über die Benennung der Zeugen zurückziehen.«

Blutige Flamme sah ihn an, lange, sehr lange und sehr nachdenklich, so lange und dringlich, daß Odoaker den Ablauf der Gedanken hinter seiner Stirne spüren konnte. Als Ergebnis dieses langen Nachdenkens sagte Blutige Flamme endlich: »Wir sind einverstanden. Aber ich empfehle Ihnen, die Beratung kurz zu machen. Wenn wir nicht binnen zwei Stunden Nachricht nach Kreta gesandt haben, daß wir unsere Erhebungen in Ruhe beendet haben, daß niemand uns bedroht oder beeinflußt oder uns gar der Freiheit beraubt hat, daß kein Angriff in irgend einer Form gegen uns versucht worden ist – dann sind eine Stunde später die ersten Bombenflugzeuge von Kreta über diesem Lande.«

Es lag eine beklemmende Stille über dem Saal. Odoaker verneigte sich stumm und verließ mit den anderen den Saal. Aber kaum waren sie im Beratungszimmer, als er in einen Paroxismus der Wut ausbrach. »Dieser rote Fuchs weiß alles! Er ist in Demosien gewesen, und die Demoten haben sich von Woolf aufhetzen lassen!«

Grimm winkte ungeduldig mit der Hand. »Bitte zur Sache. Wir haben zwei Wege: entweder wir verweigern die Aussage, oder wir sagen die Wahrheit. Wenn wir die Aussage verweigern, wird das Gericht sich mit dem begnügen, was es in Demosien gehört hat. Und wir wissen nicht, wieviel das ist, weil wir nicht wissen, was Woolf ihnen erzählt hat.«

»Und wenn wir die Wahrheit sagen« warf Odoaker scharf ein, »haben wir morgen ganz Kreta und seine Söldner auf dem Halse.«

Grimm lachte. »Keineswegs! Zunächst muß die Sache mal nach Island gehen und in Island können wir uns verteidigen. Denn wenn wir die Wahrheit zugeben, so heißt das nur, daß wir die äußeren Tatsachen zugeben. Gut, wir haben unterirdische Rüstungsfabriken. Aber sagt das, daß wir gegen irgend jemanden Krieg führen wollen? Oder irgend jemandem etwas zuleide tun wollen? Nein, es ist einfach ein Programmpunkt in der Erziehung unserer Jugend. Die entsprechende Ideologie werden wir uns bis dahin schaffen. Das ist viel leichter, als es aussieht. Eine Budgetfrage.«

Odoaker wiegte den Kopf. »Es sieht so aus, als wäre das wirklich der einzige Ausweg. Nur für Sie persönlich ... ich meine, was Shellhammer angeht ...«

Grimm sagte ruhig: »Das ist eine rein interne Angelegenheit unseres Staates. Wenn unsere eigenen Gerichte da nicht eingreifen ...« Er sah sich lächelnd rings um, und auch die anderen lächelten.

Dann kehrten sie zum Gericht zurück, ein feierlicher, ernsthafter Zug von Staatslenkern, die im höchsten Interesse ihres Staates etwas getan haben, was sie vor aller Welt verantworten können. »Wir benennen uns alle als Zeugen« sagte Odoaker, »einschließlich des Herrn Grimm.«

Und so senkten sich die Schreibstifte und notierten eine endlose Reihe von Tatsachen. Unter der Paradiesheide, deren Betreten man jedem Uneingeweihten verboten hat, wurde in den letzten zehn Jahren eine unterirdische Stadt aufgebaut. Diese Stadt ist in vier Bezirke eingeteilt. In dem einen sitzt die Verwaltung, die mit der Staatsverwaltung teilweise identisch ist. Im zweiten Viertel befinden sich die Institute für die Erziehung der Jugend. Da diese Erziehung sich noch im Stadium des Experiments befindet, hat man es vorgezogen, diese Jugend von der anderen grundsätzlich zu trennen. In dem dritten Viertel befinden sich chemische Versuchsanstalten. Der Fortschritt der Chemie in den letzten dreißig Jahren hat sich als so vehement und zugleich als so gefährlich herausgestellt, daß der Staat beschlossen hat, im Interesse seiner Mitbürger die gefährlichen Versuche an einen Ort zu verlegen, wo er das Leben und die Gesundheit der Mitmenschen am wenigsten gefährdet. Auch diese Experimente befinden sich noch im Stadium des Versuchs. Und endlich das letzte Viertel, das dem Umfang nach das größte ist, enthält Stahlwerke, Eisengießereien, Walzwerke, mechanische Werkstätten, Montagehallen, Motorenfabriken, kurzum: im verkleinerten Maßstabe alles das, was man früher einmal als eine Waffenfabrik bezeichnet hat. Es werden hier – natürlich im verkleinerten Umfange – so ziemlich dieselben Waffen hergestellt, die vor 50 Jahren in dem damaligen Weltkriege benutzt wurden.

»Das ist« sagte Odoaker, »im wesentlichen der Tatbestand.«

Blutige Flamme hob den Kopf. »Im wesentlichen? Wir möchten noch Einzelheiten wissen. Wieviel Menschen sind bislang bei der Erziehung, bei den chemischen Versuchen, bei der Fabrikation und bei anderen Gelegenheiten ums Leben gekommen?«

Von der Zeugenbank erhob sich Paracelsus. Trotz seiner ungewöhnlichen Leibesfülle agierte er mit der Gelenkigkeit eines Jünglings. Sein Gesicht war eine ungeheure Wölbung strahlender Zufriedenheit und Jovialität. Sein Ausdruck war ein wenig apoplektisch und gelegentlich ging ihm der Atem etwas kurz. Aber das minderte nichts an der intensiven Lebensfreude, die von ihm ausstrahlte. Er sah die Einundzwanzig an, als habe er ihnen das Glück der Welt zu verkünden. »Die Zahlen sind erfreulich gering« keuchte er. »Dank der allgemeinen gesunden und hygienischen Erziehung unserer Kinder sind bei Sport, Spiel und Geländeübung in den letzten fünf Jahren nur 420 Menschen gestorben. Aber das hätte auch über der Erde geschehen können. In der allgemeinen Fabrikation ist die Zahl geringer als in anderen Betrieben, da wir sehr für die Arbeiter sorgen. Es sind etwa 2000 in 5 Jahren. In der chemischen Abteilung sind es in der gleichen Zeit 17 Menschen.«

Blutige Flamme hob den Kopf. »Habe ich recht verstanden? Nur 17?«

Paracelsus strahlte. »Ja, nur 17 Menschen.«

Er legte auf das Wort ‚Menschen‘ eine kaum hörbare Betonung. Aber Blutige Flamme, in dem der kalte Zorn noch nicht abgeklungen war, vernahm ihn sehr deutlich. Er fragte: »Und wie groß ist die Anzahl der Nicht-Menschen, die dabei zugrunde gegangen sind?«

Paracelsus begann zu stottern. »Was meinen der Herr Präsident damit?«

Aus diesem Stottern entnahm Blutige Flamme, daß er auf dem richtigen Wege war. Er sagte: »Der Ausdruck ist willkürlich, das gebe ich zu. Wie pflegen Sie sie zu nennen? Ich meine: wie heißen sie in ihrer Terminologie?«

Paracelsus wollte den Mund öffnen, aber Grimm zupfte ihn energisch am Rock, und er schwieg. Der Vorgang war dem Gericht nicht entgangen. Blutige Flamme hob leicht die Hand und sagte trocken: »Ein Zeuge, der auf eine direkte Frage schweigt oder falsch aussagt, bedroht sein Leben. Also: wie nennen sie jene Anderen?«

»Staatssklaven« sagte Paracelsus mit blaurotem Gesicht.

»Woraus rekrutieren sie sich, und wieviele sind bislang ... verbraucht?«

»Es sind Strafgefangene ... unheilbar Geisteskranke ... und Menschen, deren Fortpflanzung das Gesundheitsamt nicht wünscht ... und ... das ist alles ...«

Blutige Flamme hob wieder leicht die Hand und ließ sie wortlos, blicklos, vollkommen kühl und unbeteiligt eine Weile in der Luft schweben. Die Hand war eine unaussprechliche Drohung. Sie schien sich Paracelsus um den Hals zu klammern, daß ihn ein Gefühl der Erstickung ankam. »Hier und da« sagte er mühsam, »auch einige politische Gefangene ... Gegner unserer neuen Ideologie ... Unzuverlässige ... Indiskrete. Die Anzahl?« Er zuckte die Achseln. »Darüber führen wir keine Statistik. Es mögen rund zehntausend sein. Vielleicht etwas mehr ...«

»Ich habe noch eine letzte Frage« sagte Blutige Flamme. »In welche Kategorie haben Sie den Chemiker Shellhammer eingereiht?«

Die bedrückten und verängsteten Gesichtszüge des Paracelsus belebten sich. Treue, kindlich unschuldige Augen sahen den strengen Richter an. »Shellhammer? Der fällt unter keine der genannten Kategorien.«

»Also hat man ihn außerhalb der Kategorien getötet?«

Paracelsus hob beschwörend die Hände. »Aber man hat ihn garnicht getötet! Er lebt natürlich noch.«

Blutige Flamme hatte funkelnde Augen. »Können Sie ihn kommen lassen?«

Paracelsus bäumte sich vor Stolz und Bereitschaft. »Gewiß. Sofort werde ich das veranlassen.«

Ein Saaldiener wurde hinausgeschickt. Nach wenigen Minuten erschien er wieder und trieb eine seltsame Gestalt vor sich her. Es war ein Mensch in jüngeren Jahren, aber der Ausdruck seines Gesichtes war greisenhaft, uralt, wie dem Tode nahe. Die Schultern hingen herab und die Hände waren in einer ständig zitternden Bewegung. Der Gang war unsicher. Die Augen waren unstät und konnten keinen Gegenstand fixieren. Aber dennoch wirkten sie wie erloschen. Das war Shellhammer. Paracelsus wies mit einer großen Gebärde auf ihn und sagte: »Da ist er.«

Blutige Flamme sah ihn starr und aufmerksam an. Er erkannte sofort, was mit diesem Manne geschehen war. Aber auch die Mitglieder der Regierung saßen wie erstarrt da. Sie übersahen noch nicht, welchen Streich ihnen der immer zum Scherzen aufgelegte Paracelsus da gespielt hatte. Aber er hätte dem armen Grimm die Aufregung sparen können.

Shellhammer ging wie nachtwandelnd durch den Saal, bis er den langen Tisch der Richter als eine undeutliche Grenze vor sich sah. Er blieb stehen, gesenkten Hauptes, schwankend, und begann mit schleppender Stimme, eintönig und ausdruckslos Sätze daher zu plappern. »Das Gamma-Gas ist eine Erfindung des Professor Woolf ... geheim gehalten ... geheim gehalten und Zusammensetzung ... hat mich unter Drohungen gezwungen ... gezwungen ... hat mich gezwungen. Er hat sie an verschiedene Staaten verkauft ...«

»Danke« sagte Blutige Flamme. »Das Gericht braucht Ihre Aussage nicht.«

Aber Shellhammer war nicht aufzuhalten. Ein Uhrwerk lief in ihm ab. Ein Mechanismus, den er nicht beherrschte, ein Gehirn, das er nicht mehr kontrollierte, gab Wortgefüge von sich, so wie sie in ihn hineingelegt worden waren. Er plapperte weiter: »... gegen die neue Entwicklung ... gegen die Ideen von Goethanien ...« Er verwirrte sich. Der Mechanismus begann von neuem abzulaufen: »Das Gamma-Gas ist eine Erfindung des Professor Woolf ...«

Blutige Flamme erhob sich. »Ich sehe, daß Herr Shellhammer lebt. Es ist nicht unsere Sache, zu entscheiden, ob man das noch leben nennt. Jedenfalls scheint er seine Rolle noch nicht genügend gelernt zu haben. Ich schließe die Sitzung.«

Die einundzwanzig Säulen erhoben sich, schlossen die schwarzen Aktendeckel und verließen ohne Blick und Gruß den Saal. Wenige Minuten später surrte das riesige Flugzeug über der Hauptstadt von Goethanien davon.

Die Mitglieder der Regierung standen an den Fenstern des Sitzungssaales und sahen in den Himmel hinein. Paracelsus seufzte: »Da fährt es hin. Unangenehme Leute. Nicht einen Funken Humor. Ich wette, es wird keine Woche dauern, bis wir eine Einladung nach Island bekommen. Und gegen die Eisheiligen von Island ist kein Kraut gewachsen.«

Odoaker sagte entschlossen: »Dann muß dieses Kraut gezüchtet werden. Wir können nicht mehr zurück. Unser Unglück ist, daß die Sache zu früh publik geworden ist. Wir können uns jetzt noch nicht den Luxus leisten, die Kreta-Truppen hier zu haben. Wir wissen nicht einmal, über welche Waffen sie verfügen. Aus diesen elenden internationalen Söldnern ist nichts herauszubekommen. Wir müssen Zeit gewinnen.«

»Nein« sagte Gunner, »wir müssen Gehirne gewinnen. Wir müssen eine allgemeine Stimmung in der Welt schaffen, die unser Unternehmen mit ganz anderen Augen ansieht als diese internationalen Kommissionen. Die haben doch keine Ahnung von dem Leben eines Volkes. Die kennen nur eine mechanische Ordnung. Und mit der wollen wir nicht leben. Nationen sind keine Wirtschafts-Vereine. Sie sind Lebewesen, und die haben ihre eigenen Lebensäußerungen. Wenn wir den Mut haben, das auszusprechen, das zu propagieren – glauben Sie mir, meine Herren, dann werden wir bald einen großen Teil der Welt auf unserer Seite haben.«

Paracelsus keuchte. »Meine Herren, Propaganda ist ein schlechtes Geschäft. Aber Gehirne ist ein gutes Geschäft. Gehirne gewinnen, sagt Gunner. Variieren wir: Gehirne umbauen. Beispiel: Shellhammer ...«

»Stümperleistung« sagte Grimm verächtlich.

»Glanzleistung« sagte Paracelsus ruhig. »Ich habe doch keine 24 Stunden Zeit dafür gehabt ...«

»Versuchen Sie Gehirntransplantationen« sagte Grimm bösartig.

»So weit sind wir noch nicht ganz. Leider. Aber immerhin können wir schon einige Reflexe beeinflussen, ich meine: Reflexe im weiteren Sinne. So ein klein wenig Elektrizität, richtig appliziert, kann optische Vorstellungen in höchst sonderbare Erinnerungsbilder verwandeln. Diese Versuche will ich fortsetzen.«

»Ausgezeichnet« sagte Odoaker. »Aber machen Sie das in Ihrer Freizeit. Mir scheint, keiner der Herren hat sich überlegt, welches Risiko wir im eigenen Hause laufen. Wir wollen etwas vor der Welt zugeben, das wir noch nicht einmal unserem eigenen Volke zugegeben haben. Wir haben bislang zehntausend Menschen herangezüchtet. Auf diesem kleinen Bestand ruht die ganze Idee. Zum Glück ist die Intelligenz auf unserer Seite. Die Kirche wird gegen uns sein, aber wenn man die Leute nur frei predigen läßt und keine Märtyrer aus ihnen macht, sind sie unschädlich. Die Ethik und der liebe Gott haben noch nie gegen die Politik aufkommen können. Aber gefährlich ist der kleine Mann. Der redet sich nämlich ein, er hätte vor fünfzig Jahren Revolution gemacht, er hätte den großen Krieg beendet und die Segnungen des Friedens herbeigeführt. Einen Dreck hat er! Er hat etwas Wirtschaftsgeschichte getrieben und seinen Standard verbessert. Gönne ich ihm. Aber die Welt hat er unverändert gelassen. Was wollen wir dem sagen? Er wird anfangen zu schreien: der Friede ist in Gefahr! Und wird meinen: mein Butterbrot ist in Gefahr.«

»Lächerlich, sich darüber Sorgen zu machen« sagte Gunner. »Machen Sie ihm klar, daß Andere sein Butterbrot gefährden, dann wird er schon mit uns gehen. Verstehen Sie doch, daß die Vorsehung uns in die Hand arbeitet. Demosien hat uns die Darlehen gekündigt. Also sind wir gezwungen, alle sozialen Leistungen auf das äußerste zu beschränken. Demosien hat uns die Stahllieferungen aufgesagt. Ein zureichender Grund, zehntausende von Arbeitern einstweilen außer Beschäftigung zu setzen. Ist alles nicht unsere Schuld. Nicht umsonst war ja das Azoren-Gericht hier. Es müßte ja sonderbar zugehen, wenn da nicht etwas gegen uns und gegen das Butterbrot des kleinen Mannes geplant wäre! Und ist es da nicht die Pflicht eines Staates, sich auf alle Möglichkeiten vorzubereiten? Meine Herren, das Schicksal fordert uns förmlich dazu heraus, dem Volke die Wahrheit zu sagen. Und diese Wahrheit wird unsere beste Verteidigung sein, wenn wir vor dem Vormund der Völker in Island stehen.«

Sie nickten Beifall, denn vor Island hatten sie alle Angst. Daß man sie zur Wahrheit zwang, ließ sie leichten Herzens vergessen, daß diese Wahrheit auf einer Lüge beruhte.

Odoaker strich sich über die Stirne. »Wir wollen morgen weiter beraten. Es war etwas viel Aufregung für einen Tag. Gehen wir.«

In diesem Augenblick trat ein Sekretär herein. Er war sehr aufgeregt. Er hielt einen großen Briefumschlag in der Hand. »Herr Präsident« sagte er beinahe flüsternd, »ein Mann ... ein Bote ...«

Es war an diesem Tage schon so viel auf sie eingedrungen, daß sie diesem erschreckten Flüstern hemmungslos erlagen. Paracelsus schloß die Augen und rang nach Luft. Odoaker wagte nur flüsternd zu fragen: »Was für ein Bote?«

»Aus Demosien. Hier ist ein Brief.«

Odoaker zog die Hand zurück. Er hatte Angst vor dem Brief aus Demosien. »Gunner, Sie ...« sagte er mühsam.

Auch Gunner zögerte. Er nahm den Brief mit spitzen Fingern und öffnete ihn langsam. Er las: »P. A. X. Labienus, in spezieller Mission entsandt und beglaubigt vom Rat des freien Volksstaates Demosien.« Er ließ das Blatt sinken. »Ich vermute« sagte er mit mühsamer Beherrschung, »daß er uns ein Ultimatum bringt ... oder eine Kriegserklärung.«

»O Gott!« stöhnte Paracelsus. »Kein Krieg!«

Es herrschte eine Weile Schweigen im Raum. Dann sagte Odoaker: »Wir müssen ihn empfangen. Nehmen Sie sich zusammen, meine Herren.« Und zum Sekretär gewandt: »Wir lassen bitten.«

Es vergingen zwei Minuten, in denen die Spannung sie wie mit stählernen Drähten einschnürte. Dann betrat ein Mann den Raum, hochgewachsen, mit langem, schwarzem Bart, mit großen, verträumten, dunklen Augen und einem breitrandigen schwarzen Filzhut in der Hand. Er verneigte sich leicht und sagte langsam und dröhnend: »Labienus!« Es klang, als sei eine Orgel in seinem Brustkasten eingebaut.

Sie hielten alle den Atem an. War das ein Popanz, oder war das ein abgefeimter, bösartiger Komödiant, der Fangball mit ihnen spielen wollte, ehe er ihnen die Kehle zudrückte?

Odoaker verneigte sich gemessen. »Was bringen Sie uns, Herr Labienus?« fragte er beklommen.

Labienus breitete die Arme aus, daß der schwarze Filzhut einen schwingenden Bogen beschrieb. Die Orgel in ihm dröhnte einen vollen Akkord. »Eine Botschaft des Glaubens, der Demokratie und des Friedens auf Erden.«

Ein verkrampftes Lachen der Erlösung staute sich in ihnen allen. Während sie sich ernsthaft verbeugten, tobte in ihnen die befreite Angst. Paracelsus lief blau an. Seine Augen weiteten sich und drohten aus den Höhlen zu treten. In dieser Sekunde beschloß er, sich für die Minuten der Panik und Lebensangst an dem Seelsorger aus Demosien zu rächen. –


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