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V.

Im Staatspark von Demosien zerstreut stand eine Anzahl von Häusern, in denen Menschen wohnten, die der Gemeinschaft besondere Dienste geleistet hatten. Wer solch ein Haus bekam, hatte für den Rest seiner Tage ausgesorgt. In jedem Jahre bestimmte das Volk fünf neue Bewohner. Wenn aber der große Rat selber einen neuen Bewohner ernannte, gab er die Gründe dafür in der Radio-Sendung von Demosien bekannt.

Das geschah auch im Falle Woolf und Caliban. Aber diesesmal hatte das Volk eine Frage zu stellen. »Wir haben nichts gegen Ausländer einzuwenden, zumal nicht gegen einen Gelehrten, der in der ganzen Welt bekannt ist. Aber was ist mit Caliban? Und ist es richtig, daß er blind ist?«

Diese Frage klang grausam. Aber sie war es nicht. Sie kam aus einem humanen Grunde. Aus reiner Menschlichkeit und aus Liebe zu einem gesunden Geschlecht hatte man in Demosien längst den Brauch angenommen, ein Kind, das mit einem Mangel geboren wurde, nicht leben zu lassen. Diesem Beschluß waren lange Debatten voraus gegangen. Dabei waren die Sentimentalisten, die von der Heiligkeit alles Lebens predigten, in der verschwindenden Minderheit. Größer war schon die Minderheit, die einwandte, daß unter Umständen ein mit einem Mangel behaftetes Kind ein Genie werden könne. Aber die Mehrheit bekannte sich zu dem Gutachten des psychologischen Instituts, welches sagte: »Vom Volke aus gesehen sind Genies durchaus unerwünscht. Sie stellen nichts als eine Quelle von Unruhen dar. In dieser und der kommenden Generation zumindest ist ein normaler Durchschnitt der Welt viel zuträglicher.«

Die Antwort, die der demotische Rundfunk gab, war diesesmal nicht nur besonders ausführlich, sondern erfolgte auch in mehreren Fortsetzungen. Die erste Antwort gab einen dramatischen Bericht, wie die große Explosion im Laboratorium von Woolf den Erfinder beinahe das Leben und dem hingebungsvollen Freunde und Diener das Augenlicht gekostet hatte. Der zweite Teil war eine beinahe künstlerische Reportage der Flucht, zu der die beiden Goethanen sich gezwungen sahen. Dann folgten geheimnisvolle Andeutungen über wesentliche Dienste, die Beide dem Staate Demosien und der ganzen Menschheit geleistet hatten.

Um diese halb erfundenen, halb wahren Antworten hatten zwei redaktionelle Kräfte gekämpft: Betrix und Petros. Der Außenminister ging hartnäckig einem Gedanken nach: »Ich will verhindern, daß die Beiden wieder weggehen.«

»Sie können Sie nicht anbinden.«

»Aber ich kann ihnen den Rückweg nach Goethanien verlegen. Man muß andeuten, daß sie uns wichtige Geheimnisse aus Goethanien anvertraut haben. Dann stehen sie als quasi Hochverräter da und können nicht zurück. Und wir brauchen ein Gehirn wie Woolf.«

Betrix ereiferte sich gegen ihre Gewohnheit. »Wir brauchen auch Caliban. Gerade Sie hätten allen Grund, ihm dankbar zu sein. Wer hat Ihnen geraten ...«

»Gewiß, gewiß« sagte Petros eifrig. »Ich will ihn nicht kleiner machen als er ist ...«

»Aber Sie tun es!« beharrte Betrix. »In Ihrer Antwort fällt alles Licht auf Woolf, und Caliban bleibt im Schatten. Das Volk wird ihm nicht akzeptieren, wenn seine Bedeutung nicht klar wird. Und er wird kein Staatshaus bekommen können.«

Vor dieser Möglichkeit schrak Petros zurück. Er wagte nicht einzugestehen, wie sehr er Caliban brauchte. Und so schrieb er die Antworten an das Volk getreulich nach dem Diktat der Präsidentin Betrix.

Dann gab sie dem Staatsarchitekten beruhigt die Anweisungen für das Haus. »Man darf die Beiden nicht von einander trennen. Sie müssen unter einem Dache wohnen. Aber richten Sie zwei getrennte Wohnflügel her. Jeder muß sein Reich für sich haben. Sie sind Beide Denker, wenn auch jeder auf seine Weise.«

Die Räume wurden schön und behaglich, und Caliban genoß sie sehr. Aber Woolf war still und bedrückt. Er hatte mit der Vernichtung aller Notizen und der Flucht aus Goethanien den entscheidenden Teil seines Lebens abgeschlossen. Er stand jetzt in einem Nichts. Seine Arbeit war vernichtet und sein Weltbild zertrümmert. Während sein hungriges Gehirn rastlos weiter dachte, arbeitete es in einem leeren Raum, ohne die gewohnte Umgebung und sogar ohne jene Hülfsmittel, die ihm sonst als etwas Selbstverständliches zur Verfügung gestanden hatten. Er war wie ein Bildhauer, der vor einem Marmorblock steht und keine Werkzeuge hat.

Für Caliban bedurfte es hier keiner Worte. Er wußte das alles, weil alle Nervenenden es verspürten. Was Woolf bedrückte, belastete auch ihn. Also mußte Woolf wieder in Arbeit und Tätigkeit hineingezwungen werden, damit es Ruhe für Beide gab. Auch er, Caliban, brauchte diese Ruhe. Er brauchte sie, um die unendlichen Wege zu überdenken, die sich, aus den tiefen Wurzeln seiner Phantasie genährt, vor ihm auftaten. Denn er hatte nichts sonst zu tun. Er diente nicht mehr. Man diente ihm. Stille, fast lautlose Helfer sorgten für seinen kleinen Haushalt. Er kannte ihre leisen Schritte schon von weitem. Eine neue Welt aus unterschiedlichen Schritten baute sich um ihn auf. Er kannte Petros am Schritt. Er kannte auch Betrix daran. Er hörte ihren Schritt fast jeden Morgen, wenn sie in ihr Amt ging. Ihr Weg führte nicht notwendig an dem neuen Gasthaus vorüber. Aber sie liebte diesen kleinen Umweg. Zuweilen sah sie Woolf oder Caliban am Fenster oder im Garten. Dann wurde der feste, regelmäßige Schritt etwas zögernd, etwas fragend. Er wurde leise, stille, erwartungsvoll. Er brachte Caliban dazu, daß er den Atem anhielt, daß er mit jedem Sinne, der ihm noch diente, nachspürte: »Was geht hier vor?«

Zuweilen wechselten sie kleine, belanglose Bemerkungen aus. Aber eines Morgens, als Woolf zu einem Spaziergang fortgegangen war, rief er Betrix leise an. »Ich habe etwas Dringliches mit Ihnen zu besprechen. Können Sie mir eine Stunde Zeit gönnen, wenn Sie mit der Arbeit fertig sind?«

Betrix nickte eifrig. »Ich komme um fünf Uhr zu Ihnen.« Sie hatte sich soweit in der Gewalt, daß er nichts von der Erregung merkte, die ihr bis in die Kehle hinauf schlug.

Aber als sie am Nachmittag kam, spürte Caliban, daß sie unruhig war. »Ist Ihnen etwas?« forschte er besorgt.

»Amtssorgen« sagte sie. »Keine Nachricht von Labienus.«

»Er wird den geistigen Grund in Goethanien sondieren« sagte Caliban spöttisch. »Außerdem: sollte er wirklich verloren gehen ...« Er zuckte die Achseln: »Ich halte nichts von Seelsorgern.«

Betrix sah erstaunt und nachdenklich vor sich hin. Mit der ganzen Offenheit ihres Wesens sagte sie: »Wenn Sie solche ungeheuerlichen Dinge sagen, klingen sie sehr einleuchtend und einfach. Wer ist schon Labienus? Lassen wir ihn fallen. Wichtiger scheint mir, daß Goethanien nicht auf unsere Kündigung antwortet.«

»Warum die Eile?« sagte Caliban. »Sie werden antworten. Natürlich ablehnend.«

»Und was werden wir dann tun?« fragte Betrix besorgt.

»Vorsorge für die Zukunft treffen.« Er stand auf und tastete nach dem Theegeschirr. Es gab Betrix einen Stich ins Herz, diese fühlenden Bewegungen zu sehen. »O lassen Sie mich den Thee machen!«

Während sie im Raume auf und ab ging und das dünne Theegeschirr klirrte und das Wasser im elektrischen Kessel zu summen begann, saß Caliban in seinem tiefen Sessel, die Hände über die Lehne gehängt, den Kopf zur Seite geneigt. In ihm sammelte sich ein dumpfer Zorn. Bis jetzt war es der große Antrieb seines Lebens gewesen, zu dienen und sich in den Handreichungen des Dienstes seine Unabhängigkeit und Selbständigkeit zu beweisen. Jetzt tauchten rundum Menschen auf, die etwas für ihn taten. Er mußte nicht tasten. Man gab ihm. Man versklavte ihn. Er ahnte: noch einmal, noch zweimal so dasitzen und warten, bis jemand etwas an dich heranbringt ... und du wirst beim dritten male wollen, daß einer kommt und mit sehenden Augen die Dinge für dich tut, die du sonst mit fühlenden Händen tust. Darum zitterte seine Hand, als er die Tasse nahm. Er fühlte sich zornig und hülflos.

Dann reckte er sich auf. »Sie sind sehr gütig zu Woolf und zu mir. Aber diese Güte ist unbedacht ...«

Betrix wurde blaß. »Warum?«

»Weil Sie Woolf in einen goldenen Käfig setzen. So kann er nicht leben. So machen Sie einen Krüppel aus ihm. Sie müßten ihm die Möglichkeit geben, zu arbeiten und zu experimentieren. Er muß wieder sein eigenes Laboratorium haben!«

Sie lachte befreit auf. »Das ist das Wenigste, was wir für ihn tun können. Ich werde Ihnen morgen einen Staatschemiker schicken. Bereden Sie alles mit ihm.«

Caliban war mit seinem Angriff ins Leere gestoßen. Er saß eine Weile schweigend und hülflos da. Dann sagte er plötzlich: »Es ist nicht wahr!«

»Was ist nicht wahr?« fragte sie tief erschrocken.

»Daß ich nur für Woolf gebeten habe. Ich habe mehr als zwanzig Jahre den Geruch von Laboratorien geatmet. Ich kenne diese Atmosphäre bis in die Fingerspitzen. Ich brauche sie. Das Laboratorium ist die Grenze zwischen Schöpfung und Zerstörung. Das ist die Grenze, an der ich stehen möchte.«

Betrix stand auf und strich ihm zögernd über den Arm. »Hat Ihnen schon einmal jemand gesagt, daß Sie sehr große Möglichkeiten in sich tragen?«

Er lachte ironisch. »Ich. Ich selber. Und Sie sind der erste Mensch, dem ich das bekenne. Vergessen Sie es.«

»Ich werde alles tun« sagte Betrix, »es nie wieder zu vergessen ...« Sie sah zum Fenster hinaus. »Da kommt Petros. Will er zu Ihnen?«

Caliban zog eine Grimasse. »Wahrscheinlich. Wir spielen eine ewige Schachpartie: König gegen Bauer.«

Auch Betrix lachte. »Ich werde lieber gehen, sonst kann es geschehen, daß ich ihn aus Versehen mit Bauer anrede.« Als sie ging, hörte er, daß ihr Schritt leise lachte. –

Petros sah in dieser Zeit sehr ernst und bedrückt aus. Das hatte seinen Grund. Er hatte ein heimliches Leiden, das er ängstlich vor jedermann verbarg. Sein winziger Schädel, der auf dem massiven Körper saß, wurde immer kleiner. Vergebens ließ er sein Haupthaar in einem weiten Kranz frisieren, um die Diskrepanz weniger sichtbar zu machen. Aber vor sich selbst wußte er, daß der Schädel kleiner wurde, und die Folge war, daß ihm immer weniger Gedanken einfielen. Das berührte zwar die Routine des Regierens nicht, aber sobald besondere Aufgaben an ihn herantraten, die im Geschäftsgang nicht vorgesehen waren, geriet er in Verlegenheit.

Er war heimlich in das Ausland gereist und hatte einen berühmten Professor befragt, der der Vertrauensarzt vieler politischer Parteien war. Der hatte ihn getröstet. »Das ist ein bekanntes Berufsleiden, Herr Petros. Man kann sehr alt dabei werden. Man kann sogar sagen, daß die durch die Schädelverminderung bedingte Konzentration der Gehirnmasse zu einem geringeren Verbrauch geistiger Energien führt und so die anderen, biologischen Funktionen des Körpers stärkt. Aber wenn man ein übriges tun will, sorgt man für geeignete Hülfskräfte, um etwaige Ausfälle an originellen Einfällen auszugleichen. Sonst leben Sie weiter, wie Sie es gewohnt sind.«

Das tat Petros. Aber das ungemein Störende war, daß die Routine der Amtsführung täglich mehr in den Hintergrund trat, und es mehrten sich die Aufgaben, die Entscheidungen verlangten. Aber mitten im Denken stockte sein Gehirn. Er wußte nicht weiter. Dafür hatte er aber eine wichtige Entdeckung gemacht: wenn er mit Caliban sprach, fiel ihm meistens die Fortsetzung des abgerissenen Gedankens ein. Denn Caliban war sehr anregend und immer bereit, zu reden. Nur gut, daß der arme Blinde nicht merkte, daß er jene Hülfskraft geworden war, die der Arzt ihm empfohlen hatte.

In diesen Tagen war Caliban sehr beschäftigt. Er hatte alle Gedanken auf das Laboratorium konzentriert, und was Petros auch zu besprechen suchte: alles landete beim Laboratorium. Es packte ihn endlich selber, und sein ganzes Interesse war darauf gerichtet, das Laboratorium vollendet zu sehen. Er drängte förmlich, daß Unsummen ausgegeben wurden, um nur schnell, schnell alles herbeizuschaffen. Und als sie dann in dem fertigen Raum standen, war Petros vom Anblick der Instrumente und Gefäße und Apparate wie bezaubert. Er sah seine Kindheit wieder vor sich. Er fürchtete sich beinahe. Er sagte: »Da ist etwas von der Magie der alten Hexenküchen darin. Hier könnte ein Alchimist wohnen, der den Stein der Weisen und das Lebenselixier sucht.«

Caliban sagte ernsthaft: »Ich bin gegen das Lebenselixier. Stellen Sie sich vor, was für ein Gedränge das auf Erden geben würde. Wir werden schon heute mit der Menschheit nicht fertig. Wenn wir das Lebenselixier hätten, müßten wir zugleich zu einem Gegenmittel greifen: zur Einführung des Kannibalismus. Der Antropophage als Normalmensch ...«

Petros schauderte. »Nein nein. Man soll nichts gegen die Natur tun.«

»Richtig« sagte Caliban eifrig. »Darum soll man lieber den Stein der Weisen wieder suchen. Er ist nämlich schon einmal gefunden worden und man hat ihn wieder verloren. Wissen Sie, was er ist? Die Erfindung des Instruments. Die Technik. Der Urmensch, der zum ersten male einen scharfen Stein nahm, um den Mammutknochen aufzuschlagen und an das Mark zu kommen, hatte den Stein der Weisen. Der verlängerte Arm des Menschen – das ist es. Unsere heutige Technik ist einfach eine Fortsetzung dieses ersten Aktes. Aber sie ist unweise geworden. Sie hat die Funktion verlernt, dem Menschen zu dienen. Der Mensch dient ihr. Wenn wir diese Relation umkehren könnten, hätten wir wieder den Stein der Weisen in der Hand.«

Petros hatte angestrengt gelauscht. »Glauben Sie, daß man ihn wieder bekommen kann?«

Calibans Stimme wurde geheimnisvoll. »Man kann. Man muß nur die Technik auf das extreme Maß steigern. Man muß den zwei und neunzig Elementen der Natur ihre letzten Möglichkeiten ablauschen und sie in die Technik überführen. Man muß Gehirnen, die das können, die Möglichkeit geben, unbeschränkt zu arbeiten.«

»Gibt es solche Gehirne?« fragte Petros verwundert.

»Es gibt eines. Ihrer Einsicht ist es zu danken, daß es in Demosien ist.«

Petros sagte geistesgegenwärtig: »Ja, der Woolf. Darüber war ich mir schon lange klar. Sind Sie auch der Meinung, daß man ... hm ... daß er ... nämlich ...«

Er pausierte nachdenklich, weil er darauf wartete, daß Caliban die Fortsetzung des abgerissenen Gedankens einfalle. Das geschah. Caliban sagte: »Ganz recht. Man muß ihn an die Technik heranbringen. Sie haben vollkommen recht, wenn Sie sagen, daß für den Ausfall der Stahllieferungen an Goethanien irgend ein Ausgleich geschaffen werden muß. Das kann nur Woolf tun. Sehr richtig. Und stellen Sie sich vor, was aus dem Sparvermögen von Demosien wird, wenn die Goethanen das Darlehen nicht zurückzahlen. Dann werden die Demoten einfach Revolution machen.«

Petros rutschte unbehaglich auf seinem Sitz hin und her. Er zog einen Brief aus der Tasche. »Mein lieber Caliban, ich möchte Ihnen ganz unter uns ... streng diskret ... ich schätze Ihre Ansichten ... nämlich die Regierung von Goethanien hat geantwortet, daß sie zahlen will. Aber sie haben kein Bargeld. Sie wollen in Waaren bezahlen. Und wissen Sie, was sie anbieten? Kinderwagen und Mastvieh! Wo wir doch die besten Kinderwagen der Welt herstellen und Vegetarier sind! Ist das nicht ein unpraktischer Vorschlag?«

Caliban sagte gelassen: »Das ist eine grobe Provokation.«

Petros sagte gequält: »Ach, wollen wir es so scharf benennen?«

Caliban ließ sich nicht vom Wege abbringen. »Die Goethanen wissen genau, daß die Kinderwagen in Demosien mehr sind als ein Industrieerzeugnis, daß sie der Ausdruck einer ungewöhnlich produktiven Regierungspolitik sind. Und sie wissen auch, daß die fleischlose Kost nicht auf Armut beruht, sondern auf Weltanschauung. Man soll mit den heiligsten Gütern der Nation nicht Spott treiben.«

Petros nickte. »Das ist ganz mein Standpunkt. Man muß etwas gegen die Goethanen unternehmen.«

»Das muß man garnicht« sagte Caliban. »Sondern man muß etwas für Demosien tun. Über die Provokation kann man gelassen zur Tagesordnung übergehen. Aber man muß sich Mittel sichern, die Goethanien daran hindern können, mit ihren Provokationen Ernst zu machen. Wer provoziert, greift auch eines Tages an.«

»Aber wenn sie angreifen, haben wir doch die Truppen von Kreta!«

»Wenn Sie die Technik durch das größte Gehirn Ihres Landes erweitern lassen, können Sie die Ergebnisse Kreta zur Verfügung stellen und die Weltgeschichte beeinflussen.«

Petros saß nachdenklich da. »Ja ... wenn das durchführbar wäre ... Wenn man zum Beispiel ... hm ... sagen wir ...«

Caliban ergänzte: »Wenn man Woolf veranlassen könnte, sich um Ihre Industrie zu kümmern und daraus zu machen, was sich mit seinen ungeheuren Kenntnissen daraus machen läßt ... Gut, Petros, ich bin bereit, Woolf in Ihrem Namen darum zu bitten. Sie werden sehen, daß noch eines Tages in Demosien der Petros-Stahl erzeugt wird!«

Petros lachte. Es lag eine tiefe Genugtuung darin. Auch Caliban lachte. Sein Lachen galt nicht seinem Sieg über einen Außenminister mit vermindertem Gehirn, sondern der neuen Möglichkeit, die er vor sich sah. Aber auch diese Möglichkeit mußte erkämpft werden, und dieses mal war der Gegner beachtlich.

Woolf war schon in seinem neuen Laboratorium tätig. Aber es war ein Arbeiten ohne Antrieb und Eifer. Es war nur der Mechanismus einer rastlosen Denkmaschine, der da weiter ablief. Im Hintergrund aller Versuche stand eine quälende Frage: wozu eigentlich das Ganze? Ja, wenn man einer Erfindung den Willen des Schöpfers mit auf den Weg geben könnte, Gutes zu stiften und zum Guten verwandt zu werden ... Aber alle Erfindung geht in die Hände derer, die sie mißbrauchen, zum eigenen Gewinn oder zur Versklavung der Anderen. Wenn man das Rad der Erfindungen und des technischen Fortschritts rückwärts drehen könnte ... zurückkehren zu den primitiven Verrichtungen von einst ... Nein, auch das wäre zu gering. Mit den Werkzeugen von ehemals und dem Gedankengut von heute würde der Mensch den Faustkeil dazu benutzen, seinen Nachbarn zu töten, um seine Höhle, sein Weib und sein erlegtes Wild zu besitzen ...

Caliban kam jeden Tag in das Laboratorium. Die Gewohnheit von zwanzig Jahren ließ sich nicht ausrotten. Aber seine Hülfe war gering, da es wenig zu helfen gab. »Wenn der Herr träge wird« sagte er, »hat der Diener nichts, womit er sich abmühen kann.«

»Der Herr ist nicht träge« antwortete Woolf. »Er ist müde. Er hat keine Aufgabe mehr. Er hat den Glauben an die überragende Kraft der Ideen verloren.«

»Und den Blick für die Wirklichkeit« warf Caliban ein. »Wir sind aus Goethanien davon gelaufen, weil dort wieder das alte Lied von früher gesungen wird, wenn auch unterirdisch. Und was geschieht? Die Bürokratie arbeitet, Demosien protestiert und sendet Kündigungen und einen Seelsorger. Das Geld kommt nicht und Labienus schweigt. Es sind nur Berichte des Intelligence Service eingegangen, daß Labienus im Hause von Odoaker verkehrt. Er ist schon drei mal in die unterirdischen Werke eingefahren und äußert sich voll Begeisterung über das neue Erziehungswerk. Er hat sich jüngstens zu einer Erholungskur in das Sanatorium des Dr. Paracelsus begeben. Ich habe sehr trübe Gedanken, wie diese Mission auslaufen wird.«

»Aber das Azoren-Gericht hat getagt. Das ist ernsthaft.«

»Sehr ernsthaft, lieber Meister. Und dann wird die Sache nach Island gehen. Das ist noch viel ernsthafter. Aber das allerernsthafteste ist, daß es sich um einen Präzedenzfall handelt, daß das ganze Verfahren noch niemals ausprobiert worden ist. Das ganze kann sich als eine ohnmächtige Farce herausstellen.«

Woolf schüttelte den Kopf. »Die Sache wird funktionieren, weil im Hintergrunde die große Exekutivkraft steht: Kreta und sein neutrales Heer.«

Caliban zuckte verächtlich die Achseln. »Gehen Sie mir mit diesem Kreta. Wer hat es je gesehen? Wer kann sagen, welche Macht es wirklich darstellt? Ja, man hat ihm alle Erfindungen in der Welt überwiesen. Aber wirklich alle? Sie hätten allen Grund, daran zu zweifeln. Und wenn es alle Erfindungen sind: hat man sie ausgewertet? Kann man sie anwenden? Vielleicht ist Kreta garnicht so stark. Vielleicht ist es schwächer als das unterirdische Goethanien. Wir wissen das nicht. Wir wissen nur eines: Sie haben den Stein ins Rollen gebracht, und jetzt sitzen Sie mit gefalteten Händen da und lassen es darauf ankommen, daß die Bürokratie der Welt funktioniert.«

Woolf saß lange nachdenklich da. Dann sagte er mit einem stillen Lächeln: »Wohin willst du mich drängen, Mephisto Caliban?«

»Dank für den Beinamen« lachte Caliban. »Mephisto will Sie in die Phantasie drängen, und Caliban in die Wirklichkeit.«

Der Kampf ging durch Tage. Es war ein Kampf mit ungleichen Waffen, denn in Woolf selbst war alles zu der Einsicht bereit, daß man immer noch die Ideen, nach denen die Welt zu leben beschlossen hatte, gegen die Ideen des Verborgenen verteidigen mußte, nach denen sie in Wirklichkeit lebte. Und es war der Trick des Teufels, daß er nicht der Vernunft weichen wollte, sondern nur der Gewalt.

Caliban war überzeugt, er sei der Sieger geblieben. Er war es nicht. Sieger blieb die alte Vision vom schöpferischen Tun, die Woolf überfiel, als er eines Tages widerstrebend, von einen Stab von Technikern begleitet, durch die Industrie-Werke Demosiens ging. Er sah einiges, das ihm neu war, und vieles, das ihm lächerlich rückständig erschien. Seine Phantasie sprang an. Den Technikern stockte der Atem, als sie die Fülle seiner Hinweise und Anregungen hörten. Aber der Funke zündete, als er in den Stahlwerken war.

Die Stahlwerke Demosiens waren unmittelbar am Rande der großen Gruben errichtet, aus denen man das Eisenerz förderte. Es hatte keinen nutzlosen Weg zurückzulegen, ehe es über die großen Laufbrücken in die eisernen Karren und auf ihnen, die steile Böschung hinauf, in die Hochöfen kippte. Sie standen in langen, unübersehbaren Reihen, alle mit dem Supplement der Anlagen versehen, aus denen ihnen die Nahrung kam: Koks, Kalk, Zusatzmetalle, Chemikalien, heiße Luft, brennendes Gas. Sie hauchten Höllenatem von sich, wie das Gemenge von roter Glut zu weißer Glut hinüberwechselte und dann sickernd, tropfend, wallend in die Tiefe rann. Aber der Mensch bemächtigte sich dieses Höllenatems und ließ ihn nicht verloren gehen, fing ihn auf, ließ den Staub abfallen, reinigte ihn, jagte ihn in Richtung und Gegenrichtung durch Serien von Öfen, jagte ihn wieder zurück in den Hochofen, damit er sich an seiner ausgehauchten Glut von neuem entzünde und im Abstand von Stunden, Tag und Nacht, das Ergebnis seiner Gefräßigkeit ausspeie: rohes Eisen und schaumige Schlacke. Dann warteten am Fuße des Ofens die kleinen hungrigen, eisernen Töpfe, schluckten die heißflüssige, augenblendende Masse und glitten mit ihr, leise schwankend, mit erregt atmender glühender Oberfläche, über Schienen und Plattformen bis zu dem ungeheuren Mischtrog, der mit seinen Wänden aus Stahl und seinem Schutzkleid von feuerfesten Ziegeln das Gute mit dem weniger Guten gelassen mischte, und der die Mischung, noch glühend und doch schon hülflos gebändigt, feindselig in die Augen blendend und doch schon der letzten Bestimmung unterworfen, an andere Bottiche austeilte. Da ließ seine Glut schon nach, als sei es sich im Anblick der riesenhaften Stahlwerke seiner Minderwertigkeit bewußt. Denn immer noch war es Roheisen von geringem Wert und erheblicher Unreinheit. Würde man es in diesem Zustand erstarren lassen, so würde es seinem Namen keine Ehre machen. Es wäre schlechter als das Eisen, das frühe Menschen in den Anfängen der Technik gemacht haben. Aber freilich: damals war noch die gute Zeit des Eisens. Damals gab man dem Ofen ein Erz zu fressen, das reich war von Natur aus, und das nicht so mit allem Abfall der Erde beschmutzt war, daß man es erst waschen und sieben und klopfen und glühen mußte, um es vom gröbsten Schmutz zu erlösen. Und man gab ihm die reine, stille, saubere Kohle aus Holz, die schmiegsam ist und zu unterscheiden weiß zwischen dem, was sie in Rauch aufgehen und dem, was sie dem Produkt abgeben soll.

So geht die rohe Mischung ihren Weg weiter in das Stahlwerk. Das ist der Weg seiner seelischen Läuterung. Du hast zu viel Kohle in dir. Gib sie her, oder wir brennen sie dir aus dem Leibe. Es ist zu viel Schwefel in dir. Wenn du ihn nicht bis auf einen schwachen Hauch abgibst, wirst du nie den Adel des Stahls erreichen. Wie kannst du ein blankes Bajonett werden, bestimmt, sich durch Knochen und Eingeweide zu drehen, wenn du Schwefel oder Phosphor in dir hast? Was taugst du dann zum Gewehrlauf, zum kleinen polierten Rohr des Revolvers, aus denen die graziösen Projektile in den Nebenmenschen hineinspringen und sich dort ihren Weg suchen? Adel verpflichtet, und am Stahl klebt adliges Handwerk. Und so braust die heilige Flamme durch breite Öfen über die sich bäumende Glut, und damit sie ihre Bestimmung von morgen frühzeitig verstehen lernt, gibt man ihr Gesellschaft, die das Leben und die Erfahrung schon hinter sich hat: altes Eisen, das schon ausgedient hat; Waffen, die treu gedient haben; Werkzeuge, die der Rost erlegt hat, Maschinen, die erschöpft sind oder von neuer Technik zum Tode verurteilt. Und wenn das Unadlige in dir verbrannt oder in die Schlacke geflohen ist, darfst du überschäumen, ein geläuterter, schwammiger Klumpen, beinahe lebensreif. Beinahe – denn noch stehen dir die letzten Geburtswehen bevor. Der riesige Hammer schlägt auf dich ein und preßt die letzten Reste der unedlen Schlacke aus dir heraus, damit du fester, elastischer, adliger, damit du Stahl wirst, der dem Menschen dient und mit dem er sündigt.

Woolf ging immer wieder durch die Stahlwerke. Er stand vor den Bessemer-Birnen, vor den Siemens-Öfen, den großen elektrisch geheizten Öfen und den Walzmaschinen. Seine Phantasie arbeitete unablässig. »Zuende denken!« warnte er die Ingenieure. »Ihr redet euch ein, euer Stahl sei gewaltig stark und zäh. Ich werde euch Brisanzstoffe liefern, vor denen eure Stahlplatten wie Blechschachteln auseinander fliegen. Und ihr glaubt, ihr könntet mit euren technischen und chemischen Tricks für Jahrhunderte auf diese alte Weise Stahl produzieren. Ihr treibt Raubbau. Reines Eisenerz gibt es schon nicht mehr auf der Welt. Und wie lange werdet ihr mit den minderwertigen Erzen haushalten? Wenn die Produktion in diesen Tempo weiter geht, ist in hundert Jahren nichts mehr da. Und schon vorher werden die Preise ins Schwindelhafte steigen. Es wird der Tag kommen, da man aus Stahl Geldmünzen prägt, weil es ein seltenes Metall geworden ist. Und was macht ihr mit der Schlacke? Ihr kommt euch als große Pioniere vor, daß ihr Dünger daraus macht. Ihr gebt der Mutter Erde zurück, was ihr ohne Talent von ihr genommen habt. Ihr sagt, Eisen mit Schlacke sei unrein? Ich werde es euch so eisern machen, daß ihr keine Werkzeuge haben werdet, es zu schneiden. Wer dem Kristall sein Geheimnis abgelauscht hat, das Geheimnis seiner Struktur, wird es auch dem Eisen ablauschen, denn es ist auch nichts als Kristall. Es ist nur die Frage, ob ich hier die Menschen finde, die den Mut zu Versuchen heben.«

»Ist es gefährlich?« fragten die Ingenieure.

»Es geht auf Leben und Tod.«

»Dann müssen wir erst die Erlaubnis unserer Regierung einholen.«

»Schätzt man bei euch das Leben so hoch ein?« fragte Caliban.

»Nein. Man schätzt die Arbeitskraft ein, die jeder zu leisten hat. Bringen Sie uns die Zustimmung des Großen Rates, und Sie haben so viele Helfer, wie Sie wollen.«

»Ich werde es mir überlegen« sagte Woolf. Aber in Wirklichkeit war er entmutigt. Skrupel überfielen ihn. »Welches Recht habe ich« sagte er zu Caliban, »Menschen zu gefährden? Ich habe eine Vorstellung, wie das Experiment verlaufen wird. Aber ich habe keine Gewißheit. Und ich weiß nicht einmal, ob ich der Menschheit damit einen Dienst erweise. Je mehr und je stärkere Waffen der Mensch hat, desto böser und gewalttätiger wird er. Es wäre vielleicht am besten, wenn man den Verbrauch von Eisenerzen mit allen Mitteln beschleunigen würde, wenn man so viele Gruben wie möglich zum Einsturz brächte, Berge darüber wälzte, sie mit Säuren zur Auflösung brächte ... damit sie wieder schutzlos werden, denn erst dann werden sie friedlich ...«

Caliban lachte. »Die Menschen werden noch den Mittelpunkt der Erde anzapfen, um zu ihrem geliebten Eisen zu kommen. Sie werden den Meeresgrund abkämmen, um alle versenkten Schiffe wieder umzuschmelzen. Sie werden von der Epoche des Eisens nicht ablassen, solange sie keinen vollwertigen Ersatz gefunden haben. Und wenn sie ihn gefunden haben, wird der alte Gang weiter gehen ... bis die Not sie zur Vernunft bringt. Machen Sie Ihr Experiment, Meister. Die Erlaubnis dazu werde ich Ihnen verschaffen.«

Er verschaffte die Erlaubnis. Petros wagte nicht nein zu sagen, und Frau Betrix war hülflos, wenn er sie um etwas bat. Es war gleich, um was er bat, denn nicht die Bitte interessierte sie, sondern die Art, in der Caliban dachte und begründete. In diesem Gehirn arbeitete eine Welt, die sie nie vorher gekannt hatte. Alles, was ihr bislang selbstverständlich gewesen war, wurde hier bezweifelt, gewogen, verworfen. Und Dinge, die nie in den Kreis ihrer Vorstellungen eingedrungen waren, lebten hier als Alltag ein geheimnisvolles Dasein. Daß sie Menschen das Recht zugestehen sollte, sich zu gefährden, hätte sie früher aus der Fassung gebracht. Jetzt sah sie es schon mit Calibans Augen: wenn es einem Fortschritt dient, warum nicht Menschen gestatten, sich dafür zu opfern? Aber etwas anderes bewegte sie: »Ich weiß, daß Woolf ein großer Mensch ist, und ich will ihn nicht klein machen. Aber in Ihnen stecken so viel Gedanken, daß ich nicht verstehe ... warum Sie nichts sein wollen ... als sein Diener ...«

Caliban sah mit den blicklosen Augen in die Richtung, in der er das Fenster und das dämmernde Licht des Abends spürte. Er sagte leise: »Nur wer dient, kann sich zum Herren machen ...«

Woolf traf die Vorbereitungen für das große Experiment mit der größten Vorsicht, denn bislang kannte er die Wirkung seines Gamma-Gases nur, wenn es mit dem Sauerstoff der Luft oder des Wassers in die Atmungsorgane von Menschen, Tieren und Pflanzen eindrang. Aber was würde sein, wenn es sich Körpern, christallinischen Gemengen mitteilen sollte, die über tausend Grad hinaus erhitzt waren? Vielleicht würde es spurlos verbrennen. Aber vielleicht auch würde es zu einer gewaltigen Explosion führen. Oder es würde wie ein giftiger Schwaden durch die Luft streichen und rings Tod und Erstickung verbreiten. Darum war die erste Vorbereitung, daß ein kleines Stahlwerk mit einem hohen, leichten Gerüst eingehüllt wurde. Darauf lagen Sandsäcke und Glasballons mit Helium-Gas, dem einzigen neutralisierenden Mittel, das er gegen sein neues Gas kannte. Bei der geringsten Erschütterung mußte das Gerüst samt seiner Last zusammenfallen und den Herd der Gefahr ersticken.

In einiger Entfernung wurde für diejenigen, die sich an dem Experiment beteiligen wollten, ein Unterstand gebaut. Dorthin konnten sie sich zurückziehen, wenn sie ihre Arbeit beendet hatten. Aber zwei Menschen mußten bis zum letzten Augenblick und noch darüber hinaus bleiben und ihr Leben unbekannten Gefahren aussetzen. Der eine hatte das Amt, in der vorletzten Sekunde den unbekannten, geheimnisvollen Strom von Gas in das glühende Eisen hinein zu leiten. Es mochte sein, daß er diesen Augenblick überstand. Dann konnte auch der Letzte seine Arbeit verrichten: den großen schiefen Trog zum Umkippen bringen und den unbekannten Inhalt in den Bottich zu entleeren, in dem er sich abkühlen sollte, um seine wahre, seine noch unbekannte Gestalt zu enthüllen. Aber zwei Menschen – was ist das, wenn große Dinge auf dem Spiele stehen? Für Kleineres hat die Welt Hunderttausende bedenkenlos hingeschlachtet ...

Auf einem Förderturm in der Nähe war eine eiserne Kabine angebracht, mit schmalen Schlitzen, durch die man einen Blick auf die Versuchsstätte hatte. Dort saß der dritte Mann, der sich erboten hatte, sein Leben bei diesem Versuch zu gefährden: der Ansager des demotischen Rundfunks. Das war eine Idee von Petros, und sie war ihm gekommen, als er mit Caliban gesprochen hatte. »Man muß die Welt an dieser Sensation teilnehmen lassen« hatte Caliban gesagt, und das war auch die Meinung des Außenministers.

»Die Welt soll sehen, daß wir ein fortschrittliches Land sind« hatte Caliban gesagt, gerade als Petros selber es sagen wollte.

Und als Ergebnis dieser Übereinstimmung saß jetzt ein junger blonder Mensch in dem eisernen Kasten vor seinem Mikrophon und starrte durch die Ausschnitte in der eisernen Wand auf den Punkt, an dem die Dinge geschehen sollten. Und das ist es, was er den Hörern im Lande und einer erregt und mißtrauisch im Ausland lauschenden Menge zu sagen hatte:

»Ich sitze auf der obersten Plattform des Förderturms der Grube Pax Vobiscum. Es ist kalt und zugig. Ich fürchte, es wird Regen geben. Aber vielleicht ist mir nur besonders kalt, denn ich bin aufgeregt. Hören Sie das grelle Pfeifen? Das ist die erste Alarmsirene. Unter mir beginnen Ameisen zu kriechen. Wenn ich auch dort unten wäre, wo sie sind, wüßte ich, daß es Arbeiter sind, und dann würde ich mich genau so verhalten wie sie: ich würde weglaufen, was die Beine hergeben wollen. Aber ... zum Weglaufen ist es für mich zu spät ...

»Zweihundert Meter vor mir, genauer gesagt: mir gegenüber, aber unter mir, ist inmitten all der eisenfarbenen Gebäude ein weiß-grauer Komplex. Das ist das Schutzgerüst um die Versuchshalle. Es sieht aus wie eine schief geratene Riesenburg, die jeden Augenblick vor Altersschwäche einstürzen kann. Es sind zwei primitive Tore darin, eines mir gerade gegenüber, eines seitwärts links. Durch das Tor mir gegenüber wird eben jetzt auf einem schwankenden Eisenkarren eine glühende Masse Eisen gefahren. Das Tor hat sich wieder geschlossen. Jetzt kommen Menschen über dieselben Geleise gegangen. Sie sind unförmig angezogen, als stäken sie in Säcken. Aber es sind Asbest-Anzüge. Kein schöner Anblick. Alle haben etwas über der Schulter hängen. Wenn ich mich nicht irre, sind es Gasmasken. Auch kein schöner Anblick. Da vorne geht der Chefingenieur Lenglein. Ich kann von hier aus nicht genau sehen, ob er blaß ist. Ich an seiner Stelle würde es sein.

»Mitten unter ihnen geht Woolf. Er ist merkwürdig gebeugt, als drücke ihn etwas. Neben ihm geht ein anderer Mann, größer als er, breitschultrig, barhäuptig. Woolf hält ihn an der Hand. Das ist Caliban, der Freund und langjährige Vertraute des großen Erfinders.

»Sie stehen vor der Pforte. Die Pforte öffnet sich. Sie gehen hindurch. Die Pforte schlägt gleich wieder zu. Jetzt – hören Sie? – die zweite Sirene. Da drinnen scheint alles bis auf das Kleinste vorbereitet zu sein. Denn die zweite Sirene ist das Zeichen, daß drinnen mit dem Einguß in den großen Versuchsbottich, in die Birne, wie man es fachtechnisch nennt, begonnen wird. Ich muß sagen: schnelle Arbeit. Ich höre laute Stimmen, wie scharfe Kommandos. Was drinnen geschieht, kann ich nicht sehen. Das Schutzgerüst ist zu hoch. Aber ich sehe riesenhafte, schmutzig-graue Scheiben durchschimmern. Jetzt bekommen sie einen helleren Reflex. Licht springt von drinnen gegen sie an, ein rötliches, unreines Licht. Es ist ein leises Schwanken darin, als ob die Lichtquelle sich bewege, als ob sie schwer atme. Es ist ein unangenehmes Atmen. Aber verzeihen sie: vielleicht bin ich das selbst, der so schwer atmet ...

»Da ... die linke Pforte hat sich geöffnet. Zehn, zwölf Männer laufen heraus. Sie laufen wie die Hasen. Einer stolpert. Er hat sich hoffentlich nicht weh getan. Er ist schon wieder auf und humpelt hinter den anderen her. Da ... da verschwinden sie plötzlich alle in der Erde. Den kleinen Hügel da habe ich ganz übersehen. Er sieht aus wie ein Pilz aus Eisenbeton. Das ist der Unterstand. Nun, er sieht aus, als ob er einen Hieb vertragen könnte.

»Da ... jetzt ... jetzt geht es los! Die ganze Halle ist plötzlich brennend hell, weiß, grell, beißend hell. Die ganze Glaswand scheint zu brennen. Funken schießen bis unter das Dach. Ich kann das Fauchen bis hierher hören, das Fauchen der Luft, die durch die Glut gepreßt wird. Aber vielleicht ist das ein Irrtum. Vielleicht schnaufe ich selber nur etwas heftig.

»Sie wissen alle aus der Schule oder aus Ihrer Arbeit, verehrte Hörer, was dieser Vorgang in der Produktion des Stahls bedeutet. Normalerweise wäre in einer viertel Stunde alles zuende, und ich hätte garnicht auf den Turm klettern und in diesen kalten eisernen Kasten steigen müssen. Aber heute soll Anormales geschehen. Um was es eigentlich geht, werden wir Laien später einmal erfahren. Vorerst müssen Sie etwas Geduld aufbringen. Ich sehe, daß die linke Pforte sich wieder öffnet. Jetzt kommen die letzten Arbeiter heraus. Die Ingenieure kommen. Da sind Woolf und sein Freund. Aber Lenglein sehe ich nicht. Er scheint ... nein, er kommt nicht. Die Pforte wird geschlossen. Die Menschen laufen in den Beton-Pilz hinein. Jetzt sind noch zwei Menschen drinnen. Es muß ein unangenehmes Gefühl sein, so einsam in der großen Halle zu sein, mit den unbekannten Dingen vor sich, die jeden Augenblick geschehen können. Das Funkenlicht in der Halle wird schwächer. Es wird bald ganz zuende sein. Lange kann der Luftstrom nicht mehr hindurchblasen. Vielleicht jetzt schon ... Warten Sie geduldig einen Augenblick.«

Die Hörer saßen vor ihren Apparaten und hielten den Atem an. Lange Zeit – oder eine Zeit, die ihnen lang schien – hörten sie nichts. Dann ging plötzlich durch die ganze Stadt ein kurzes, unterirdisches Grollen, wie ein kurzer, drohender Stoß. Es war nur eine Sekunde lang. Dann sahen die Menschen, die ferne auf den flachen Dächern Ausschau hielten, wie das Gerüst über der Werkhalle sich wie unter einem schweren Atemzug aufhob und dann mit allem, was es trug, in sich zusammenbrach. Staub stieg hoch, aber nur eine kurze, grau-schmutzige Säule. Keine Flamme folgte, kein Ausbruch, keine Explosion. Nichts als Stille und Reglosigkeit.

Durch das Mikrophon war ein kurzer, unterdrückter Ruf gekommen. Dann war die Stimme des Ansagers wieder da, etwas gedämpft und beklommen. »Es ist etwas explodiert. Das Gerüst ist zusammengefallen. Aber die Mauern stehen. Es muß etwas schief gegangen sein. Aber ... irgendwie scheint alles zuende zu sein. Da, Woolf und die Ingenieure kommen aus dem Unterstand gelaufen. Nein, sie laufen nicht weg. Sie laufen auf die linke Pforte zu. Sie sind drinnen. Allen Respekt: sie sind drinnen. Die haben Mut ... oder es ist nichts mehr zu befürchten ... Hören Sie, hören Sie! Da sind sie schon wieder. Lenglein ist da. Er hinkt. Aber ich sehe deutlich, daß er lacht. Und da ist der Zweite. Er blutet am Kopf. Aber er kann gehen. Macht nichts. Ich blute auch am Kopf. Mich hat nämlich der Luftdruck etwas gegen die Wand des Kastens gehauen. Ich glaube, ich kann abschließend sagen: es ist etwas schief gegangen, aber im Ganzen scheint es gut gegangen zu sein. Auf Wiederhören.«

Der Ansager hatte Recht: es war etwas schief gegangen, aber was es war, konnte erst in den späten Stunden des Nachmittags festgestellt werden, als die Glut nicht mehr aus dem Schutthaufen ausstrahlte. Die Arbeiter standen in langer Kette, um den Schutt abzuräumen. Die Vordersten trugen Gasmasken. Woolf hatte darauf bestanden, obgleich er selber keine trug. Er wußte: das Gas muß gebunden sein. Nur wo und wie: das wußte er nicht. Er starrte auf die schmutzigen Trümmer. Sie verschwanden nach und nach. Aber es zeigte sich nichts. Hier mußten die großen Eisenzapfen stehen, in denen sich die Birne drehte. Sie waren nicht da. Auch die Birne war nicht da. Und der Kübel war nicht da, der die neue Legierung auffangen sollte. Es schien alles wie von einem Gluthauch verweht. Sie wühlten weiter, bis auf die Ebene des Bodens. Es war immer noch nichts zu sehen. »Sollte es sich in den Fußboden hineingefressen haben?« sagte Lenglein ärgerlich. »Das wäre wider alle Regel.«

Aber es war so. Da, wo die Apparate gestanden hatten, war ein breites, flaches Loch in den Boden gerissen. Sie wühlten darin bis auf den Grund. Eine dunkelgraue Masse lag da, weit ausgeschwommen, schaumig, mit vielen kleinen Bläschen und winzigen Öffnungen. Ein verdorbener Guß. Sie schlugen mit der Hacke dagegen, um ihn abzulösen. Die Hacken sprangen zurück. Sie gaben einen Klang, den ihre Ohren beim Aufschlag von Eisen gegen Eisen nicht gewohnt waren.

Da begann Woolf leise zu lachen. »Also doch, also doch! Viel zu hohe Temperatur. Jetzt weiß ich. Ich sehe den Weg ganz deutlich. Wir wollen die Legierung einmal untersuchen. Lassen Sie ein Stück vom Guß absprengen, Lenglein. Anders werden Sie es nicht herausbekommen.«

Die Arbeiter gruben am Rande der schaumigen Masse ein kleines Sprengloch und legten eine Dynamitpatrone hinein. Dann flohen sie alle wieder in den Unterstand, um die Explosion abzuwarten. Als sie erfolgte, war sie kaum vernehmbar. Sie gingen ungläubig zurück. Das Dynamit hatte das Loch im Fußboden etwas vertieft, aber die schaumige Eisenmasse lag ganz unberührt da, dunkelgrau schimmernd, gelassen und wie ein altes Gesicht, das höhnisch lächelt. Was konnte Dynamit ihm anhaben? Es hatte in seine christallinische Struktur einen Bundesgenossen hineingenommen, der aus der geometrischen Anordnung seiner Kristalle eine zusammenhängende Kette von kleinen, unbesiegbaren Festungen gemacht hatte, von denen jede die andere stützte und stärkte. Diese Kette von ineinander greifenden Festungen konnte man wohl überlisten, aber mit roher, simpler Gewalt konnte man ihr nicht beikommen.

»Lassen Sie den ganzen Klumpen ausgraben« sagte Woolf. »Er ist nicht mehr zu sprengen. Und sagen Sie denen, die darnach fragen, daß das Experiment gelungen ist, obgleich die Technik unzulänglich war. Und sagen Sie denen, die es wissen wollen, daß es ab heute auf der Welt eine Eisenlegierung gibt, die es noch nie gegeben hat ... und die das Angesicht der Welt verändern wird ...«

Als Woolf ging, Caliban neben sich an der Hand, standen die Ingenieure zu beiden Seiten in der verwüsteten Halle und grüßten tief ...

Als sie heim kamen, stand Betrix vor dem Gartentor. Woolf ging wie ein Nachtwandler an ihr vorbei. Er sah sie nicht. Aber Caliban spürte sie. Er streckte die Hand gegen sie aus. Sie wußte nicht: war es Abwehr, war es Ruf? Wie gebannt ging sie ihm nach. Sie saß am Fenster, während er ruhelos im Raume auf und ab ging. Sein Kopf war hoch aufgereckt, als sähe er in Weiten, die andere nicht sehen konnten. Es arbeitete in seinem Gesicht. Er sprach, ohne daß man Worte hörte. Seine Unruhe teilte sich Betrix mit. Sie fühlte, wie etwas ihre große, schwere, ruhende Gestalt aufhob, daß sie Mühe hatte, an ihrem Platz zu bleiben. Es stieß etwas gegen das gelassene Gleichgewicht, gegen die von Jugend an gewohnte Sachlichkeit, in die man sie hinein gezwungen hatte. Es geriet in Aufruhr. Sie hatte Angst davor. Sie kämpfte darum, sich wieder auf die sichere Ebene hinaufzuretten, wo man alles bedenken kann, wo man sich gegen keine gefährlichen, unbekannten Fluten zu stemmen hat. Sie hatte Sehnsucht nach der Banalität ihres Alltags. Sie suchte nach einem Mittel, den Zauberkreis der Unruhe zu durchbrechen.

»Soll ich Thee machen?« rang sie sich ab.

Caliban blieb stehen, als habe eine Stimme ihn geweckt. »Sagten Sie etwas?«

Sie wiederholte: »Ich habe gefragt, ob ich einen Thee machen soll.«

Er wehrte ungeduldig ab. »Wie kann man heute Thee trinken? Wenn man versteht, was heute geschehen ist, braucht man etwas Stärkeres, etwas, das so betrunken macht wie der Gedanke selbst ...«

Betrix sagte bedauernd: »Sie wissen, daß es in unserem Lande keine berauschenden Getränke gibt. Aber wenn Sie wollen, umgehe ich das Gesetz ...«

Er ging mit großen Schritten zu ihr heran und stand über sie gebeugt. »Das ist es nicht, daß ihr keine berauschenden Getränke habt. Sondern daß ihr verlernt habt, euch zu berauschen. Vernunft! Vernunft! Was für ein kaltes Getränk! Sehen Sie nicht, Betrix, daß sich heute ein Funke in die Rinde der Erde eingefressen hat? Er wird weiter schwälen. Er wird wie eine Gangräne in den Geweben weiter wuchern und sie zerstören, bis der Körper sich eines Tages aufbäumt und zur Wehr setzt. Und dann ist die Stunde des Schicksals da, wo zu beweisen ist, ob das Faule und Träge ausgebrannt ist, oder ob es den ganzen Körper zersetzt und vernichtet. Die Menschheit wird auf die Probe gestellt! Die Welt wird in Brand gesteckt! Dann wird sich zeigen: ein Phönix, der aufsteigt, oder ein Lurch, der am Boden kriecht ... und den man zertreten muß ...«

Betrix war aufgestanden. Die kalte Welt riß in Fetzen von ihr ab. Sie sah eine brennende Welt, überall, in den Schwingungen der Vision, in Calibans vom Leid verzerrten Gesicht, in sich selbst und ihren schweren, schwankenden Gliedern. Sie brannte wie er, und von Beiden sprangen die magnetischen Funken zu einander über, ein leuchtender Bogen der Spannung, der nach Entladung schrie.

Sie fielen einander zu, brennend und berauscht. Und die Nacht deckte sie zu. –


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