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III.

Das Land Demosien war ein Gebilde, das nach dem letzten Kriege künstlich geschaffen worden war. Es beruhte nicht auf Rasse und Geschichte und Tradition und Kulturerbschaft, sondern auf Erzgruben und gesellschaftlichen Ideen. Als man die Güter der Welt neu verteilte, war man bei Eisen und Erz zu einer radikalen Lösung gekommen: Eisen und Erz sind ein Segen in der Hand des Guten; sie sind ein Fluch in der Hand des Bösen. Man kann Werkzeuge daraus machen. Man kann Kanonen und Tanks daraus machen. Kein Volk, das eine Historie hat, ist frei von Erinnerung an Krieg und Sieg. Es kann immer wieder in Versuchung geführt werden. Darum muß man Eisen und Erz isolieren und an Menschen verleihen, die bereit sind, es zum Segen der Menschheit zu verwalten.

Man hatte also alle Grubendistrikte des westlichen Europa zu einer neuen staatlichen Einheit zusammengefaßt. Die Menschen für diesen neuen Staat waren aus aller Welt zusammengeströmt. Was sie an Einheitlichkeit der nationalen Kultur ermangelten, ersetzten sie vollauf durch eine gesellschaftliche Idee: ein gefährliches Erbe der Zivilisation zu verwalten und es für den Frieden zu verwenden. Das Experiment war überaus geglückt. Schon nach einer Generation war eine einheitliche Bevölkerung entstanden, da niemand auf ein »Erbe der Väter« pochen konnte, das er angeblich fortsetzen mußte. Da es keine Erbschaft des Besitzes gab, gehörte alles dem Volke. Da alles dem Volke gehörte, hatte jeder ein Interesse daran, das Volksvermögen zu mehren. Man hatte ihnen mit Absicht keine Landflächen gegeben, auf denen sie auch nur das Brotgetreide für die zahlreiche Bevölkerung ziehen konnten. Die Gegenseitigkeit sollte gewahrt bleiben. Sie mußten jedem mitteleuropäischem Staate nach einem bestimmten Verteilungsschlüssel Eisen liefern, und sie mußten fast alle Lebensmittel von jenen kaufen. Man wollte sie nicht in die Versuchung des Reichtums führen.

Aber das verdroß sie auf die Dauer. Sie waren solide und nüchterne Leute, denen Reichtum nicht zu Kopf steigen würde. Sie waren sehr sparsame Hausväter und einer Vergeudung von Volksvermögen abgeneigt. Für mehr als den Ankauf von Brotgetreide wollten sie kein Geld ausgeben. Darum hatten sie schon seit mehr als dreißig Jahren eine Umstellung ihrer Lebensweise vorgenommen: sie waren Vegetarier geworden. Außer dem, was in der Luft fliegt und auf der Erde kriecht und im Wasser wimmelt, gab es keine Tiere in Demosien. Man hatte sie abgeschafft. Da man sie nicht aß, wäre ihre Haltung unnützer Luxus gewesen. Dagegen war der Anbau von Gemüse zu höchster technischer Vollendung gediehen. In jedem Wohnviertel standen vielstöckige gläserne Paläste, in denen gewaltige Mengen von Gemüse in Tanks mit Nährlösung gezüchtet wurden. Hier wurden die Jahreszeiten ignoriert denn das Wachstum hing nicht mehr von Boden und Klima ab. Und hier wurde Reichtum gezüchtet, denn sie hatten erhebliche Einnahmen aus dem Verkauf an andere Länder.

Die dritte Quelle des Reichtums war die Arbeitskraft der Bevölkerung. Das Recht auf Arbeit und die Pflicht zur Arbeit beherrschten das ganze Leben. Mit dem 18. Lebensjahr trat jeder, Mann oder Frau, in die Arbeit ein. Aber mit der alten individualistischen Idee der freien Arbeitswahl hatte man aufgeräumt. Was einer zu arbeiten hatte, wurde von einer psycho-technischen Prüfungskommission festgestellt. Jeder wurde da in den Arbeitsprozeß eingereiht, wo er nützlich war. Doch diese Einordnung band den Menschen nicht für die Dauer seines Lebens an eine und dieselbe Tätigkeit, bis er stumpf und lahm daran wurde. Alle fünf Jahre wurden für jeden die Prüfungen wiederholt, und wenn es notwendig oder zweckmäßig war, wurde er einer neuen Gruppe zugeteilt. Es war nichts erstaunliches, daß ein Mann, der die Straßenreinigungsmaschinen bedient hatte und an der Handhabung der Hebel müde geworden war, dennoch aus der ständigen Beseitigung des öffentlichen Unrats und der Beobachtung der Menschen auf der Straße soviel an Lebenserfahrung und Erkenntnis gesammelt hatte, daß er der Kategorie der geistigen Arbeiter zugeteilt wurde.

Die Möglichkeit, ohne Sorge zu leben und das zu tun, wofür einer wirklich begabt ist, machte das Land zu einem Muster von Ordnung und Ruhe und Lebensbehagen. Da jeder für das Ganze arbeitete, trug jeder nach Kräften zum Vermögen des Volkes bei, und die ungeheuren Summen, die sich in den Banken des Landes aufspeicherten, waren im wahren Sinne des Wortes Volksvermögen. Es war so groß, daß nur schlechte Verwalter es ungenützt hätten liegen lassen. Da sie gute Hausväter waren, hatten sie es zu angemessenen Zinsen an fremde Staaten verliehen. Der Begriff ‚demosischer Bankier‘ war in der neuen Weltordnung nicht unbekannt.

Noch in einer Beziehung zeichnete Demosien sich vor den anderen Staaten aus: an der Spitze der Verwaltung stand verfassungsgemäß eine Frau. Die Demoten waren die einzigen, die aus der Revolution der Mütter nach dem letzten Kriege die Konsequenzen gezogen hatten. Die Mütter hatten das uralte Regiment auf ihre Fahne geschrieben, daß sie ihre Kinder nicht gebären wollten, um sie sich durch den Krieg entreißen zu lassen. Sie wußten selber, wie schwach dieses Argument war und wie sehr es bereit war, eine ganz andere Lesart anzunehmen, wenn erst irgendwo der Krieg erklärt worden war und wenn schon nach wenigen Stunden die Legende von der Heldenmutter entstand, die ihre Söhne dem Vaterland oder der gerechten Sache oder der großen Idee zum Opfer brachte. Sie wußten, daß sie dieser verhängnisvollen Verschiebung der Parolen nur dann entgehen konnten, wenn sie es garnicht erst zur Entstehung einer solchen Situation kommen ließen. Das hieß in der Sprache der Politik, daß sie das Vaterland oder die gerechte Sache oder die große Idee selber in die Hand nehmen wollten.

Das war in Demosien geschehen. Die Frau hatte das höchste Amt im Lande, und gegen ihr Veto konnte nichts beschlossen werden, was das Leben der Volksgenossen in Gefahr gebracht hätte. Die Folgen zeigten sich besonders auf bevölkerungspolitischem Gebiete. Von der einen großen Sorge um das Schicksal der Jungen befreit, hatten sich die Mütter zu einer bedeutenden Gebärfreudigkeit bekannt, die an die besten Zeiten des ehemaligen China erinnerte. Mutterschaft war ein Beruf geworden wie jeder andere Beruf, aber das bewies die hohe kulturelle Einstellung der Demoten, daß sie ihn unter die geistigen Berufe einreihten. Und es war die Tendenz vorhanden, in der Repräsentantin des Staates zugleich das Symbol aller Mutterschaft zu sehen, eine Magna Mater, wie sie das religiöse Gefühl der kleinasiatischen Völker dreitausend Jahre zuvor begriffen und gebildet hatte. Daß daraus noch kein regulärer Staatskult geworden war, lag nur daran, daß in der Person der gegenwärtigen Staatsregentin persönliche Hinderungsgründe vorlagen: Betrix, die Präsidentin von Demosien, war eine kinderlose Jungfrau.

Betrix war auf allen Kongressen und Konferenzen eine bekannte Gestalt. Auch Arnold Woolf kannte sie gut, und wenn er beschlossen hatte, nach Demosien zu fliehen, so war es nicht nur dieses wahrhaft demokratischen Landes wegen, sondern auch wegen seiner langjährigen Freundin Betrix. Als er jetzt mit Caliban die Grenze des Landes überschritt, atmete er erlöst auf. Aber sie waren zugleich etwas verloren und verlegen, denn sie standen am hellen Mittag auf einem der langen, schnurgeraden Wege, an denen Fabriken und Wohnhäuser sich farbig und harmonisch ablösten.

»Was sollen wir machen?« fragte Woolf. »Wir können unmöglich bis in die Hauptstadt laufen.«

Caliban lachte. »Ich habe nicht die Absicht. Rufen Sie Betrix an und lassen Sie ein Staatsauto kommen. Hier rechts am Wege höre ich eine Fabrik.«

Sie gingen hinein und baten, telefonieren zu dürfen. Man empfing sie sehr mißtrauisch. Aber Caliban erklärte ruhig: »Wir sind eine wissenschaftliche Kommission aus Goethanien. Unser Auto ist unterwegs zusammengebrochen. Wir müssen unbedingt bis zum Mittagessen bei der Präsidentin Betrix sein.«

Diese Erklärung wirkte Wunder. Man stellte ihnen sofort einen Wagen zur Verfügung. Woolf fragte leise: »Was hat das mit dem Mittagessen zu tun?«

Caliban war in strahlender Laune. »Das werden Sie bald sehen. Ich bin nicht umsonst früher Ihr Courier gewesen. Als ich noch Augen hatte, habe ich sie weit aufgemacht. Jetzt reizt es mich, die Dinge zu ertasten, die ich einmal gesehen habe.«

Als sie in die Hauptstadt einfuhren, hörten sie durch das Surren des Motors einen hellen, harmonischen, glockenartigen Ton, der von unsichtbaren Türmen über die Stadt zu schwingen schien. Caliban erklärte: »Das ist das Zeichen, mit dem 18 Millionen Demoten zum Mittagessen gerufen werden. Hier sind wir nämlich nicht auf dem Friedenshügel, verehrter Meister, wo jeder essen oder fasten kann, wann er will und wie er will. Hier gibt es keine individuelle Küche. Alle Demoten essen gemeinsam an ihren Arbeitsstellen oder im Eßraum ihres Wohnviertels.«

»Ich werde nie ein Demote werden« murmelte Woolf.

Als sie vor den Verwaltungspalast kamen, stand schon auf den Stufen der großen Freitreppe eine Abordnung, die sie begrüßte. »Unsere Frau Betrix läßt Sie grüßen und Sie bitten, sofort zu ihr zu kommen. Sie wartet auf sie.«

Frau Betrix erwartete sie in ihrem Arbeitszimmer. Sie war eine hünenhafte Gestalt. Das weiße Gewand, das sie trug, gab ihr etwas übernatürlich Großes und Massives. Sie hatte weite, offene, wie mit einem schweren Werkzeug in Ton gebildete Gesichtszüge. Darüber erhob sich eine Krone von braunrotem Haar, das in dem hellen Licht des Raumes irisierte. Sie ging den Gästen strahlend und mit ausgestreckten Händen entgegen. »Welch’ unverhoffter Besuch! Ich höre, daß Ihr Auto versagt hat. Aber es ist Ihnen nichts geschehen, nicht wahr? Sie werden mir später erzählen müssen. Sie bleiben doch eine zeitlang, nicht wahr? Aber jetzt kommen Sie erst mit mir. Es ist zwölf Uhr. Ich muß dem gemeinsamen Mahle präsidieren. Kommen Sie.«

Ehe beide noch ein Wort äußern konnten, schob Betrix sie gegen die Wand, die sich vor ihnen teilte und den Zugang zu einem geräumigen Aufzug freigab. Sie stiegen auf, eine unbestimmte Zeit lang. Dann teilte sich wieder eine Wand vor ihnen, und sie standen in einem Speisesaal, wie Woolf ihn noch nie in seinem Leben gesehen hatte. Er bildete ein ungeheures Rechteck, dessen vier Wände aus schwerem, leicht bläulichem Glas bestanden. An der einen Querseite stand ein kleiner Tisch. Im rechten Winkel dazu standen zahllose Reihen von Tischen, an denen Tausende von weiß gekleideten Menschen saßen.

Als Betrix eintrat, erhoben sich die Tausende wortlos und rauschend wie eine einzige Gestalt. Betrix trat an den kleinen Tisch heran. Sie überschaute stolz das Heer von Beamten und Mitarbeitern und sagte feierlich: »Ich bringe euch heute zwei illustre Gäste, den berühmten Gelehrten, den Mitmenschen Woolf aus Goethanien, und seinen getreuen Freund, den Mitmenschen Caliban.«

Mit einer Bewegung, die aus einer großen Maschine zu kommen schien, griffen die Tausende auf den Tisch, packten eine Gabel und reckten sie hoch. Es war ein erstaunliches und imponierendes Bild: ein Wald von verchromten Stahlgabeln, eine starrende Demonstration der Friedlichkeit und Gewaltlosigkeit, eine vielzinkige Phalanx wortloser Begrüßung. Dann senkte sich der Wald und alle setzten sich. In den langen Tischreihen klappten Spalte auf, und wie aus der Versenkung, wie die Verwirklichung des Märchens vom Tischlein-deck-dich erschienen Schüsseln und Platten, farbige Gerichte, duftende und nahrhafte Speisen. Betrix nickte, und auf dieses Zeichen begannen alle zu essen.

Dann drang – man wußte nicht woher – Musik in zarten Wellen durch den Raum. Caliban neigte den Kopf lauschend seitwärts. Betrix sah es und strahlte. Sie berührte seinen Arm. »Ist das nicht schön?«

Caliban wandte sich ihr mit seinen hellen, toten Augen zu und sagte: »Es ist eine Barbarei. Musik sollte nicht der Verdauung dienen, sondern dem seelischen Auftrieb. Und essen soll man mit Andacht, und nicht mit unadäquater Ablenkung.«

Woolf verbiß sich mühsam ein Lachen, während Betrix erstarrte. Ein Zug von Ratlosigkeit ging über ihr Gesicht. »Meinen Sie wirklich?« fragte sie nachdenklich. »Man müßte die Frage einmal der Kommission für geistige Angelegenheiten unterbreiten.«

Woolf versuchte sie zu beruhigen. »Nehmen Sie Caliban nicht zu ernst. Er liebt Paradoxe. Und er ist degeneriert. Er hat in den letzten zwanzig Jahren bei mir zu viel Zeit gehabt, sich aus der Literatur des letzten Jahrhunderts vorlesen zu lassen. Das hat seinen Charakter verdorben.«

Betrix verteidigte ihn. »Sagen Sie nichts gegen ihn. Ich weiß, daß er einen guten Charakter hat. Wir wären froh, wenn wir viele solcher Menschen als Mitbürger in Demosien hätten.«

»Sie können mich haben« sagte Caliban mit trockener Ruhe. »Ich glaube sogar, daß Sie auch Woolf haben können. Wir sind nämlich beide im Augenblick ... heimatlos. Aber ich warne Sie gleich. Woolf ist ein Motor, den man nicht abstellen kann, und der folglich immer neue Dinge erfindet. Und ich ... ich bin ein Romantiker ... was nicht weniger gefährlich ist.«

Betrix war vollkommen verwirrt. »Merkwürdige Dinge ... Ich verstehe Sie nicht. Erklären Sie mir ... Aber nicht jetzt, nicht jetzt. Ich muß essen, sonst essen die Anderen auch nicht.«

So harrte sie ihre Zeit aus, erregt und in allen Instinkten der Neugier angepackt. Sie konnte es kaum erwarten, daß sie wieder alleine waren. Sie flüchtete hinter ihren großen Schreibtisch, beugte sich vor und sagte: »Jetzt werden Sie mir viel erzählen.«

Woolf nickte. »Viel der Bedeutung nach. Dem Umfang nach ist alles in fünf Minuten gesagt.«

Die Wirkung des Berichtes auf Betrix war erschütternd. Sie schüttelte den Kopf, als sei sie Dingen begegnet, die jenseits ihres Verständnisses lagen. »Aber solche Dinge können doch nicht mehr geschehen! Wir haben doch eine gewaltige Revolution hinter uns. Die Welt hat doch ein anderes Denken gelernt!«

»Aber die alten Instinkte hat sie nicht vergessen« sagte Caliban mit einem höhnischen Auflachen. »Unter anderem den guten alten Instinkt nach Erwerb und nach der Herrschaft durch Geld. Ihr haltet das für Vernunft, aber hinter dieser Vernunft steckt der Teufel mit allen bösen Instinkten. Ihr sagt »Friede auf Erden« und ihr meint: business ohne Störung. Und darum sind solche mit dem Friedensbazillus geimpften Gemeinwesen wie ... sagen wir: wie Demosien, die Quelle und der Grund aller neuen Verwicklungen. Springen Sie nicht auf, lieber Mitmensch Betrix. Seit ich keinen Blick mehr habe, habe ich schauen gelernt. Und so schwer es mir fällt: ich muß gerade Ihnen und Ihrem Staate die Schuld zumessen. Wenn jetzt in Goethanien unterirdisch gebaut und gerüstet wird, dann kommen die vielen Millionen, die das verschlingt, nicht aus dem Reichtum von Goethanien, sondern aus den Sparkassen von Demosien. Ihr habt ihnen die großen Darlehen gegeben. Ihr wolltet ruhiges business. Ihr wolltet den Wohlstand eures Landes mehren. Ihr habt in Wirklichkeit den ersten Schritt zu seinem Ruin gemacht ...«

»Jetzt ist aus Ihrem Bericht eine Anklage geworden« sagte Betrix müde. »Was soll ich tun? Soll ich den Großen Rat einberufen?«

»Je mehr Menschen um diese Vorgänge wissen, und je eher, desto besser« sagte Woolf. »Aber zuvor sollten Sie das Azoren-Gericht anrufen und es bitten, erst hier in Demosien Station zu machen. Ich möchte meine Aussage machen, ehe Odoaker mit seinem Meineid in die Schranken tritt.«

Betrix ließ sofort den Apparat ihrer Verwaltung spielen, und sie beherrschte ihn vollkommen. Einige Glockenzeichen, kurze Anordnungen und kurze Antworten, und schon gingen sie einen langen, mit Teppichen belegten Gang hinunter, an dessen Ende sich das Sitzungszimmer des Großen Rates befand. Der Saal war kreisrund und ohne Fenster. Wenn die Türen geschlossen waren, war er ein in sich gefügtes Gebilde, scheinbar ohne Eingang und Ausgang. In der Mitte stand ein runder Tisch und in seinem Zentrum die lebensgroße Bronze eines hockenden Kindes.

Die Männer des Rates trugen alle Bärte und sahen alle alt und ehrwürdig und ein wenig nüchtern aus. Sie waren aus denen gewählt worden, die sich in ihrem Arbeitsleben durch Vernunft, Verständigkeit und Gemeinsinn ausgezeichnet hatten. Die Wahl war mit einer besonderen Prozedur verknüpft. Die Geschichte der vergangenen Jahrhunderte hatte gelehrt, daß es im Leben einer Gemeinschaft keinen bösartigeren Bazillus gibt als den ungebildeten Subalternbeamten, den kleinen, unentwickelten Geist, dem man Autorität anvertraut. Um ihn auszurotten, hatte man das System übernommen, das aus den Annalen des ehemaligen China bekannt war: wer Beamter werden wollte, mußte nicht nur viele Jahre nützlicher Arbeit nachweisen, sondern auch eine Reihe von Examina ablegen, in denen der Bewerber einen bestimmten Grad von Bildung nachweisen mußte.

Viele der Ratsmitglieder hatten das abschließende Examen erst mit 70 Jahren abgelegt und gaben Gewähr für Reife und Erfahrung. Aber selbst in diesem Alter wachte die Gemeinschaft noch über sie und ihre Eignung, dem Staat zu dienen. Jeder mußte einmal im Jahre vor einer Kommission von Ärzten und Psychiatern erscheinen, und wenn seine geistige Frische zu wünschen übrig ließ, war seine Tätigkeit beendet. Das wurde taktvoll so ausgedrückt, daß ihm statt der roten Eintrittskarte, die ihm jeden Morgen beim Betreten des Verwaltungspalastes ausgehändigt wurde, eine blaue Karte übergeben wurde, mit der er zwar nicht den Palast betreten konnte, die ihn aber dazu befugte, bis an sein Lebensende ohne Entgelt alles zu kaufen, was in Demosien überhaupt käuflich war.

Der Große Rat war schon versammelt, als Betrix mit Woolf und Caliban eintrat. Sie begrüßten die Fremden mit vollendeter Höflichkeit, denn was Betrix tat, war im vornherein gebilligt. Aber als sie vernahmen, was sich in dem großen und mächtigen Nachbarstaate Goethanien abspielte, da gerieten die Bärte in rauschende Bewegung. Nicht, daß sie sich fürchteten. Die Ordnung der Welt war so fest, daß niemand sich mehr zu fürchten brauchte. Aber sie waren bis in die Seele empört, daß ein Staat es wagen konnte, die Prinzipien zu gefährden, nach denen die neue Ordnung aufgebaut war. Sie vergaßen einen Augenblick ihre Würde und sprachen alle durcheinander. Aus dem Gewoge der Stimmen erhoben sich immer wieder die gleichen Begriffe: Freiheit der Nationen ... Frieden ... Humanität ... Fortschritt ... Glück der Völker ...

Betrix, Woolf und Caliban lauschten diesen Begriffen nach. Sie taten es jeder auf seine Weise. Betrix war tief ergriffen. Hier war jene Einmütigkeit der Haltung und der Antwort, jenes spontane Bekenntnis zu Grundbegriffen des Lebens, an denen sie mit ihrer ganzen Seele hing. Diesem einmütigen Protest schrieb sie ungeheure Bedeutung zu, weil protestieren nur der kann, der im Recht ist.

Auch Woolf lauschte. In den Stürmen seiner Jugend waren diese Begriffe seine geistige Nahrung gewesen. Er hatte aus ihnen die Kraft geschöpft, Revolutionär zu sein. Jetzt schienen sie ihm Klänge von ehemals, und er war in seiner Überzeugung nicht mehr ganz sicher, ob sie noch Wert und Gewicht hatten. Nach den Erfahrungen der letzten beiden Tage glaubte er nicht mehr voll an das Wort allein. Taten schienen ihm gewichtiger.

Auch Caliban lauschte. Er tat es in seiner gewohnten Weise, mit seitwärts geneigtem Kopf. Um seine Augen bildeten sich Kreise von lustigen kleinen Runzeln. Etwas in ihm schien maßlos und vergnügt zu lachen. Wie diese Stimmen alter Männer sich zum Klang der Jugendlichkeit erhoben, wie sie Fanfaren vergangener Schlachtrufe ausstießen, wie sie sich selber übertönten mit Schlagworten, für die er in seiner tiefen Menschenverachtung keinen Heller mehr gab – alles das reizte ihn zum Lachen. Mehr noch: er fühlte plötzlich das Verlangen in sich, diese Menschen mit geheimer Hand auf einen Weg zu drängen, von dem es kein Zurück mehr gab; sie Dinge tun zu lassen, die dem Lauf der Ereignisse einen Schwung und eine Richtung ins Fatale gaben. Der Kobold, der in ihm lachte, trug die Gesichtszüge des Satan ...

Betrix griff zuerst in das Stimmengewoge ein. »Wir werden jetzt zu praktischen Beschlüssen kommen müssen« sagte sie. »Wir können nicht schweigend oder redend zuschauen, wie das Rad der Welt wieder zurückgedreht wird. Es ist unsere selbstverständliche Pflicht, die Angelegenheit dem Bund der Nationen zu unterbreiten. Mitmensch Petros, was ist Ihre Meinung darüber?«

Petros, der Außenminister von Demosien, war ein riesengroßer Mann mit einem gewaltigen weißen Bart. Aber dieser Bart umrahmte ein ungewöhnlich kleines und schmales Gesicht, und sein winziger Schädel stand in erheblichem Widerspruch zu dem Massiv des Körpers. In seiner trockenen Fistelstimme flatterte etwas wie Angst und Ratlosigkeit. »Natürlich bin ich voll und ganz der Ansicht unserer großen Betrix. Dagegen teile ich nicht ganz den Glauben an die Wirksamkeit des Vorschlags. Es ist uns bekannt, daß der Bund der Nationen für alle Fragen im Leben der Völker zuständig ist, außer für die, die wirklich lebenswichtig sind: die Verteilung der Güter der Welt, die Regelung der Grenzen, die Erhebung von Zöllen, und alle Fragen, die Krieg und Frieden betreffen. Und es scheint mir, als ginge es hier um Krieg und Frieden.«

Betrix lenkte sofort ein. »Das ist richtig« sagte sie. »Ich habe auch mehr mit dem moralischen Eindruck gerechnet. Sonst bleibt uns nichts als der peinliche Schritt, den Vormund der Völker auf Island zu benachrichtigen. Und damit würden wir vielleicht die Ruhe der Welt mehr stören, als wir sie fördern.«

»Nur keine übereilten Schritte« sagte Petros. »Wenn der Vormund der Völker einschreitet, kann es leicht zu einer Exekution kommen, und wir haben kein Recht, Präzedenzfälle zu schaffen. Wir dürfen es nicht zum äußersten kommen lassen.«

»Also wollen Sie schweigen?« erkundigte Caliban sich.

Petros Kopf schwankte. »Keineswegs, keineswegs. Wir wollen natürlich etwas tun. Und wir können etwas tun. Denn sehen Sie, verehrte Mitmenschen: was uns da eben berichtet worden ist, klingt sehr böse. Aber so böse kann es garnicht sein. Es beruht sicher nur auf einer momentanen geistigen Verwirrung der Goethanen. Die Menschheit kann nicht wieder rückfällig werden. Man muß nur gut zu den Leuten reden. Man muß ihnen in bewegten Worten vorführen, welches Unrecht sie begehen. Dann werden sie Reue empfinden. Zu unserem Glück befindet sich unter uns ein gewaltiger Redner vor dem Geiste, ein Held des Wortes, der hochwürdige Mitmensch Seelsorger Labienus.«

Ein Rauschen der Zustimmung ging um den Tisch. Labienus, der einzige, der einen schwarzen Bart trug, senkte bescheiden den Kopf. »Ich meine« fuhr Petros fort, »daß wir ihn bitten sollten, als Herold unserer Meinung und als Prediger unserer Lehre von Frieden und Humanität nach Goethanien zu gehen. Wenn es ihm gelingt – und ich zweifle nicht daran – auf die Herzen und Gehirne einzuwirken, wird er der Welt einen unermeßlichen Dienst leisten. Alles andere scheint mir im Augenblick zu riskant.«

In Demosien war eine Abstimmung nicht üblich. Die alte hausbackene Weisheit, daß die Mehrheit Recht habe, war längst aufgegeben worden zugunsten der Erkenntnis, daß in Wirklichkeit zumeist die Minderheit im Recht ist, weil sie sich gegen den trägen Strom der Mehrheit behaupten muß. Wer mit dem Strom schwimmt, sieht nur die ausdruckslosen Hinterköpfe seiner Mitschwimmer. Wer aber gegen den Strom schwimmt, sieht den anderen ins Gesicht, und wer Gesichter überhaupt lesen kann, erkennt die abgründige Dummheit der Massenschwimmer. Darum war es Brauch in Demosien, einen Vorschlag fallen zu lassen, wenn auch nur ein Mitglied des Rates nicht zustimmte. Aber gegen die Entsendung des Seelsorgers Labienus erhob sich keine Stimme.

Betrix sagte mit großer Geste: »Ich möchte gerne der Zustimmung unserer lieben Gäste sicher sein, denn wir haben unsere wichtigen Kenntnisse ihnen zu verdanken.«

»Ich bin mit allem einverstanden« sagte Woolf, »was die Angelegenheit in die Öffentlichkeit bringt und sie zur Diskussion stellt. Das Unglück des letzten Jahrhunderts ist dadurch entstanden, daß die Verantwortlichen zu feige waren, ihre Stimmen zu erheben, und die Unverantwortlichen zu feige, ihre Ohren zu öffnen. Vielleicht kann das diesmal vermieden werden.«

Alle nickten voll ernster Zustimmung. An Mut zum Reden fehlte es keinem. Caliban beugte sich leicht vor und sagte mit einem sanften Lächeln: »Neben dem hohen und edlen Ziele, das Sie verfolgen, steht noch ein kleines, wie ich zugebe: ganz unwichtiges. Aber die Ordnung verlangt, daß man es nicht übersehe. Das Geld, das in Goethanien zu bösen Zwecken vergeudet wird, ist das Geld der fleißigen und sparsamen Bürger Demosiens. Vor der Weltgeschichte und vor ihren Bürgern tragen Sie die Verantwortung dafür, wenn Sie Ihr gutes Geld den bösen Goethanen weiterhin lassen. Wenn Sie jetzt mit Rücksicht auf die veränderten Umstände Ihr Geld zurückfordern, retten Sie anvertrautes Gut und verhindern andere, damit das Unheil zu finanzieren. Und wenn Sie dann noch die Lieferung von Stahl einstellen, von eben jenem Stahl, den die Goethanen mit dem geliehenen Gelde bezahlen und den sie zu Waffen verarbeiten – dann haben Sie die friedliche Entwicklung der Welt ein gutes Stück weiter gebracht.«

In seiner Stimme klang das Pathos der Ehrlichkeit, die Geradheit der Überzeugung, die Nüchternheit dessen, der die Zusammenhänge der Welt kennt. Sein Vorschlag überraschte und beschämte zugleich. Wie war es denkbar, daß die verantwortlichen Räte nicht selber auf diesen Gedanken gekommen waren! Betrix sah ihn voll Bewunderung und beinahe zärtlich an. Sie sagte mit sanfter Stimme: »Sie sind der Hellsichtigste unter uns allen. Wie gut und nützlich wäre es, wenn wir Ihren Rat und Ihre Kenntnisse des öfteren zur Verfügung hätten. Hören Sie, Caliban: wir sind keine Formalisten. Wir sind jederzeit befugt, unseren Rat zu erweitern, ganz gleich, ob die Mitglieder Demoten sind oder nicht.«

Alle sahen gespannt auf Caliban. Sein Ausdruck war ungeheuer beherrscht, aber in seiner Seele spielte sich ein Kampf ab. Caliban liebte auf der Welt nur einen einzigen Menschen: seinen Herrn und Meister Woolf. Für alle anderen hatte er eine Verachtung, die an Haß grenzte. Dieser Haß war in der Dunkelheit seines Lebens langsam und ständig gewachsen, je mehr er blicklos, aber mit vertiefter Aufmerksamkeit dem Treiben der Welt nachhorchte. Er glaubte nicht mehr an die neue Ordnung der Welt. Er hielt sie für künstlich und in keinem Grunde wirklich verankert. Er spürte hinter all der weit verzweigten Organisation die ewige Angst der einen Macht vor der anderen, die ewige Unsicherheit der einen Parole gegenüber der nächsten. Er wußte nicht, was man an die Stelle dieser unsicheren Ordnung setzen sollte. Aber eines wußte er mit aller Bestimmtheit: daß der Abgrund, aus dem diese neue Ordnung aufgestiegen war, noch nicht tief genug gewesen war. Die Menschheit war noch nicht bis in den tiefsten Grund der Hölle gestiegen, um aus unendlicher Sehnsucht nach Licht einen neuen Himmel zu bauen. Darum war es seiner Erkenntnis letzter Schluß: die Menschheit muß in den letzten und tiefsten Abgrund hinein. Erst dann kann sie ihr Dasein neu ordnen ...

Hier wurde jetzt eine Möglichkeit in seine Hand gespielt, wenn auch nicht an der Neuordnung der Welt, so doch am Abgrund der Vorbereitung mitzuwirken. Er wollte sie nicht. Der Triumph über diese Alten befriedigte ihn nicht. Es war ein Kinderspiel, den Ton ihrer Sprache zu treffen und ihrem kleinen Geltungsbedürfnis einen Auftrieb zu geben. Aber ... da war noch mehr. Da war etwas, das ihm durch alle Nerven ging. Er spürte feine, kaum wahrnehmbare elektrische Schwingungen, die zwischen ihm und Betrix hin und her gingen. Er hatte nichts dazu getan, sie wachzurufen. Sie waren einfach da, störend und aufreizend zugleich. Er wollte sie verdrängen, indem er sie lächerlich machte, indem er sich vorstellte: er zusammen mit Betrix, ein Bild grotesk und irrsinnig, ein Spuk ... und doch von einem unheimlichen, satanischen Reiz. Er, Caliban, als Mitglied des Großen Rates, und neben ihm Betrix, die noch nicht wußte, die in ihrer Unerfahrenheit des Lebens und der Gefühle noch nicht ahnte, daß sie bereit war, einem Manne zu verfallen ... diese Möglichkeiten erschütterten ihn. Er brauchte eine Weile Zeit, um sich wieder in die Gewalt zu bekommen.

Dann sagte er: »Wo ich Ihnen und der großen Sache dienen kann, bin ich mit ganzem Herzen bei Ihnen. Aber« und er wandte seine blicklosen Augen in die Richtung auf Woolf: »aber es hängt nicht von mir ab. Ich bleibe da, wo Arnold Woolf bleibt. Wenn Sie ihn veranlassen können, zu bleiben ... Sie werden keinen größeren Mann in unserem Zeitalter finden können ...« Und mit einem male brach eine jähe Angst in seine Stimme ein: »Er hat mir versprochen, daß er mich nicht alleine läßt!«

Betrix verflocht die Hände unter dem Tisch. Zum ersten male in ihrem Leben begegnete sie einem spontanen Gefühl, und es riß ihr den Grund unter den Füßen weg. Sie sagte mit rauher Stimme: »Wenn wir ihn bitten, bei uns zu bleiben und uns zu helfen ...«

Auch die Alten des Rates unterlagen der Spannung dieser Situation. Sie erhoben sich wie ein Mann und streckten Woolf die Hände entgegen. Er nickte. »Sie können über mich verfügen. Und Caliban gehört natürlich zu mir.«

In diesem Augenblick ertönte ein Glockenzeichen, und eine Lichtschrift an der Wand kündete an, daß die Mitglieder des Kriminal-Gerichts von den Azoren wunschgemäß eingetroffen seien. Sofort erhob sich Petros und sagte eilig und ängstlich: »Ich glaube, liebe Mitmenschen, daß wir am besten daran tun, uns jetzt zurückzuziehen, um unsere lieben Gäste bei ihren Besprechungen mit dem Gerichtshof nicht zu stören. Der Sitzungssaal steht Ihnen selbstverständlich zur Verfügung.«

Auch die anderen beeilten sich, mit höflichem Gruß und mit unruhigen Gebärden den Raum zu verlassen. Betrix war die einzige, die Calibans Lächeln sah und verstand; ein Lächeln, welches sagte: Überzeugungen sind deswegen so billig, weil sie in unserer Zeit keinen Mut mehr erfordern ... Und zum ersten male in ihrem Leben begann sie darüber nachzudenken, ob diese Haltung des Mutes nach innen und der vornehmen Zurückhaltung nach außen nicht mehr aus einer abgründige Feigheit der Seele als aus weltweiser Vorsicht kam. Aber – so entschuldigte sie sich vor sich selber – man darf die Welt nicht mit einem Schlage ändern wollen. Man muß sie langsam auf die Änderungen vorbereiten.

Sie sagte zu Woolf, ehe sie den Raum verließ: »Ich werde Ihnen im Staatspark ein Haus einräumen lassen. Kommen Sie gleich zu mir, wenn Sie mit dem Gericht gesprochen haben.« –

Unmittelbar darauf traten die Mitglieder des Gerichts ein. Da sie eben aus dem Flugzeug gestiegen waren, trugen sie alle noch jene seltsame Kleidung, die das Fliegen hoch oben in der Stratosphäre nötig machte: ein langes, graues, geschlossenes Gewand, das in einem Stück von den Fußsohlen bis über den Kopf ging und durch die innen eingenähten Heizkissen unförmig aufgetrieben war. Aus einem Ausschnitt der Kapuze schauten Auge, Nase und Mund heraus, einundzwanzig Gesichtsbestandteile, einundzwanzig strenge, kalte, bartlose, ein wenig verfrorene Ausdrücke.

Aus einem dieser Ausschnitte sprach eine rasselnde, knöcherne Stimme: »Da wir uns als Gericht konstituieren müssen, werden Sie erlauben, daß wir uns umkleiden. Wir sind sofort bereit.«

Ehe Woolf noch eine höfliche Zustimmung äußern konnte, hatten sie sich alle zur Wand gekehrt. Die grauen Stratosphärenanzüge fielen zu Boden. Aus dem kleinen Suitcase, den jeder mit sich trug, erschienen enge, schwarze Gewänder, die bis hoch an den Hals reichten und den Körper in ein kaltes, glanzloses Stück schwarzen Basalts verwandelten. Einer von ihnen setzte eine blutrote Kappe auf den kahl geschorenen Kopf. Dann wandten sie sich um und standen vor dem Tisch, zehn Basaltsäulen links, zehn Basaltsäulen rechts, und in der Mitte eine Säule mit einer blutigen Flamme darüber. Es wollte Woolf scheinen, als sei das ein besseres Symbol der Justiz als das alte Sinnbild der Gerechtigkeit, der man die Augen so eng verbunden hat, daß sie nicht sieht, was man ihr auf die Schalen der Waage legt.

Die blutige Flamme sagte: »Es ist unsere Pflicht, überall zu erscheinen, wo man uns ruft. Warum haben Sie uns gerufen?«

Woolf verneigte sich höflich. »Ich bin aus Goethanien nach hier geflüchtet, weil man mich mit Gewalt hindern wollte, meine Aussage zu machen. Ich wollte vermeiden, daß das Gericht zu Entscheidungen kommt, ohne mich gehört zu haben.«

Die blutige Flamme sah ihn kopfschüttelnd an. »Wir fällen keine Entscheidungen, Herr Woolf.«

»Aber warum nicht? Sie stellen doch ein Gericht dar.«

»Nicht im herkömmlichen Sinne. Man hat uns aus den bestehenden Nationen ausgewählt, aber solange es überhaupt noch Nationen im überkommenen Sinne gibt, solange ist jeder von uns noch in Gefahr, ungerecht zu sein, das heißt: aus dem Rest von Liebe oder Stolz oder Anhänglichkeit das Recht zu beugen, wenn es um seinen eigenen Staat geht.«

»Aber was ist dann Ihre Aufgabe?« fragte Caliban verwundert.

»Wir haben Tatsachen zu ermitteln, endgültige und abschließende Tatsachen. Gegen unsere Feststellungen, die wir dem Vormund der Völker vorlegen, gibt es kein Rechtsmittel und keine Berufung.«

»Aber es können sich Irrtümer ergeben« warf Woolf erregt ein.

Die blutige Flamme schüttelte düster den Kopf. »Wo die Wahrheit gesagt wird, gibt es keine Irrtümer.«

»Und wenn die Lüge gesagt wird?«

»Wir haben die Wahrheit zu ermitteln. Darin sind wir an kein Gesetz gebunden. Wir haben kein Gesetzbuch. Wir haben nur eine einzige Richtlinie: wer eine falsche Aussage macht, wer etwas entstellt oder verdreht, wer die Wahrheit auch nur um Haaresbreite verschiebt, wird mit dem Tode bestraft. Insofern richten wir ...« – seine Stimme erhob sich: »und insofern vollstrecken wir unser Urteil sofort und mit eigenen Händen und aus eigenem Recht. Wer gegen die Wahrheit sündigt, soll nicht leben. Und wer nicht die Wahrheit liebt um der Gerechtigkeit willen, der soll die Unwahrheit fürchten um des Todes willen!«

Er sank wieder in seine basaltene Unbeweglichkeit zurück. Alle öffneten schwarze Mappen und holten Schreibstifte hervor. »Wir sind bereit, Ihre Aussage zu notieren.«

Woolf begann zu berichten. Einundzwanzig Schreibstifte glitten über das Papier. Einundzwanzig Gesichter waren ausdruckslos und sachlich auf die Schreibfläche gebeugt. Sie waren völlig der einen Aufgabe hingegeben: Tatsachen zu ermitteln. Aber als Woolf seine Aussage beendet hatte und die Schreibstifte einen Augenblick lang erwartungsvoll in der Luft schwebten, zitterte durch die Hände der Schimmer einer Bewegung. Aber das war alles. Mit keinem Wort und keiner Gebärde verrieten sie, daß sie sich alle am Abgrund einer neuen Zeit fühlten.

Sie erhoben sich wie Automaten, wandten sich wieder zur Wand, ließen die schwarzen Gewänder fallen und verwandelten sich wieder in Stratosphären-Passagiere. Mit einem beiläufigen Gruß verließen sie den Saal.

Caliban lauschte ihnen nach. Dann sagte er mit einem bösen Lachen: »Da gehen sie hin ... zu ihrer letzten Sitzung. In Goethanien wird ihre Gerechtigkeit zuschanden werden. Kommen Sie, Meister. Gehen wir zu Betrix und lassen wir uns unser Haus zeigen. Vielleicht werden wir noch einige Wochen in Ruhe darin hausen können ...« –


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