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IX.
Arcus.

Als die Vorladung nach Island in Goethanien eintraf, bestimmte Odoaker die Linie der Verteidigung auf die einfachste Weise: »Wir geben alles zu, was man uns nachweisen kann. Wir bestreiten alles, was man uns nicht nachweisen kann. Gegenüber den Tatsachen, die wir nicht bestreiten können, leugnen wir jede aggressive Absicht. Wir bringen alles auf eine Linie: interne Erziehung, die andere Leute nichts angeht und die niemandem zuleide geschieht.«

»Und im schlimmsten Falle« sagte Gunner, »haben wir den Vertrag mit Thomas Baker & Sons.«

»So ist es« sagte Odoaker. »Wann werden wir fahren?«

Paracelsus sah erstaunt aus. »Wir? Wer ist wir? Für Sie hatte ich im Interesse des Staates und der guten Sache einen Monat Aufenthalt in meinem Sanatorium vorgesehen.«

Odoaker runzelte die Stirne. »Sie wollen vermeiden, daß ich mit nach Island gehe?«

Paracelsus sagte ernsthaft: »Sie haben Neigung zur Apoplexie, und ich sehe voraus, daß sie sich aufregen werden. Diese jungen Leute in Island sind sehr ernsthafte, altkluge junge Greise mit einem Stich ins Mönchische. Wir wollen ihnen den Labienus servieren. Ich habe ihn gerade soweit, daß er den Urtypus des Goethanen darstellt. Er wirkt immer noch salbungsvoll, aber er ist in einem hektischen Zustand der Begeisterung für uns und unsere Sache. Und den Gunner geben wir als zweite Kraft mit. Der ist so charakterlos, daß er jede gewünschte Rolle spielen kann. Ich bin bereit, über unser Erziehungsideal vom biologischen Standpunkt aus zu sprechen. Dann brauchen wir noch ein par Juristen, die Grimm uns aussuchen kann.«

Odoaker sah Grimm höhnisch an. »Sie sind also bereit, Juristen zu ernennen und sich selber ausschiffen zu lassen?«

Grimm nickte gelassen. »Ja, so habe ich es mit Paracelsus bereits vereinbart. Ich halte es für wichtiger, hier zu bleiben. Ich persönlich bin nämlich überzeugt, daß uns die Isländer nicht auf den Leim gehen werden. Wir werden unser Urteil bekommen, daß es nur so hagelt. Und dann haben wir die Wahl: entweder klein beigeben und alles wieder zerstören, oder Kreta abzuwarten. Für die Vorbereitung dieser beiden Möglichkeiten möchte ich lieber zuhause sein ... und Ihnen mit Rat und Tat beistehen.«

Odoaker biß sich auf die Lippen. »So sehen Sie die Sache ... Gut. Ich bin einverstanden.« –

Drei Tage vor dem anberaumten Termin, am frühen Morgen, traf die Abordnung der Goethanen in Reykjavik ein. Sie rechneten insgeheim mit einem sehr würdigen Empfang, denn schließlich vertraten sie ein Volk, dem von der Vorsehung und der Geschichte eine überragende Rolle in der Welt zugedacht war. Aber als das Schiff am Kai anlegte, kam statt aller Abordnung der Hafenmeister an Bord und ersuchte sie, sich mit dem Aussteigen noch einige Stunden zu gedulden.

Ein wenig betreten lungerten sie an der Reeling herum und betrachteten sich den Hafen und die Stadt. Auf der Kommandobrücke standen Paracelsus, Labienus und Gunner. Hinten auf dem Achterdeck, wo die Flagge Goethaniens wehte, saßen in einem engen Kreise die Hülfskräfte der Kommission, darunter einige jüngere Beamte des Gerichtswesens und eine Übersetzerin, die Angelika hieß. Alle waren erregt und mißmutig. Besonders die Juristen fühlten sich sehr unsicher. »Ich habe dasselbe Gefühl wie vor dem Examen« sagte einer. »Wenn ich nur schon wüßte, was sie mich fragen werden.«

Einer der Sekretäre zuckte die Achseln. »Unwichtig. Viel wichtiger scheint mir zu sein, daß wir hier offenbar zerniert sind. Schauen Sie: kein anderes Schiff liegt an diesem Kai. Draußen vor der Mole liegt ein Wachtschiff. Was hat es zu bewachen, wenn nicht uns? Und wenn Sie sich den Hafenausgang ansehen, merken Sie nicht, daß da abgesperrt ist? Ich habe den Eindruck, daß wir Gefangene sind.«

In einem gewissen Sinne waren sie Gefangene. Den ganzen vollen Tag lang ließ man sie warten. Niemand kümmerte sich um sie. Ihre Nerven verbrauchten sich unmäßig schnell. Erst als es dunkelte, geschah etwas. Über das Pflaster des Kais knatterte eine Reihe von kleinen Droschken, von zottigen Ponys gezogen. Sie reihten sich vor der Schiffstreppe auf. Da warteten sie reglos und geduldig.

Gunner sagte: »Das scheint uns zu gelten. Man müßte Angelika einmal fragen, ob das richtig ist.«

Angelika wurde nach vorne gerufen. Sie wechselte einige kurze Worte mit den Fuhrleuten. Dann berichtete sie: »Wir sollen einsteigen, samt allem Gepäck.«

»Fragen Sie ihn« verlangte Gunner, »wo die Sitzungen stattfinden und wie lange man fährt und ob man sich warm anziehen muß.«

Die Antwort war: »Er weiß nicht, wo die Sitzung sein wird. Er bringt uns nur einen Teil des Weges. Und er sagt, es wird sehr kalt sein.«

Paracelsus seufzte. »Meine Herren, nehmen Sie nicht nur alle Pelze mit, sondern auch so viel Alkohol wie möglich. Ich habe das Gefühl, daß wir ihn gut gebrauchen können.«

Sie stiegen einer nach dem anderen aus, alle unförmig in Pelze eingemummt, und jeder mit gebauchten Taschen. Die kleinen Droschken faßten nur je zwei Menschen. In der letzten Droschke, ganz alleine, saß Angelika.

Die Karawane setzte sich in Bewegung. Sie schien die Stadt zu vermeiden, denn sie fuhr nur durch einige Gassen in der Nähe des Hafens. Dann lief der Weg das Ufer entlang. Das Meer drohte grau und grün. Der Wind ging mit kalten Händen über sie hin. Die Schatten krochen schnell die Berge hinunter, die sich zu ihrer Linken auftürmten. Sie wickelten sich enger in ihre Pelze.

Die kleinen Pferde liefen einen kurzen, gleichmäßigen Trab. So zog die Landschaft an ihnen vorüber, als werde ein Bilderbuch mit gleichmäßiger Beschleunigung vor ihnen abgerollt. Es war ein ernstes, unfruchtbares Land. Sie wollten schon sagen, es sei ein böses Land. Aber da tat sich ein Fjord vor ihnen auf, sanft und still wie die Fjorde Norwegens, mit lichtem Grün an den Hängen, mit schmalen Ufern und kleinen, wie im Frieden geborgenen Siedlungen. Der Weg lief am Rande des Fjord entlang. Zugleich begann er langsam zu steigen. Und schon war die freundliche Vision wieder verschwunden. Die Ponys verfielen in Schritt und legten sich in das Geschirr. Sie mußten eine Steigung überwinden, die sie auf ein Plateau bringen sollte. Kaum waren sie oben, als der Wind ihnen mit einem harten Schwung entgegenbrauste, daß sie erschreckt nach ihren Kappen griffen. Sie waren auf der ersten Stufe eines ansteigenden Hochlandes. Vorsichtig tasteten sie nach ihren Flaschen.

Der Weg war wieder eben. Aber es war nur eine Art Weg, nur eine Spur, die sich vom Geröll und von den zahllosen verstreuten Felsblöcken leicht abhob. Die Wagen schwankten hin und her, und sie schwankten mit. Eine Weile wollten sie das Unbehagen durch Lachen und durch Vergleiche mit einer Seekrankheit überwinden. Aber dann unterlagen sie immer mehr dem Gefühl, daß sie nicht mehr seien wie diese verstreuten Felsbrocken, die irgend eine Kraft, ein Gletscher oder ein Bergrutsch oder ein ausbrechender Vulkan über die harte Hochebene gestreut hatte.

Angelika klopfte dem Fuhrmann auf die Schulter. Er wandte sich um und überließ es den Ponys, ihren Weg zu finden. »Sag mir« fragte Angelika, »Ist es noch weit?«

Der Mann nickte. »Es ist so weit, wie die Pferde laufen können. Bis der Schnee kommt.«

»Und dann?« forschte sie ängstlich.

»Dann geht es weiter, bis ihr an den großen Turm kommt. Aber wer euch dorthin bringt, weiß ich nicht.«

»Aber sag mir: warum fahren wir nicht bei Tag? In der Nacht ist es so gefährlich ... und unheimlich ...«

Der Fuhrmann beugte sich zu ihr hinunter. Seine Stimme wurde leise und geheimnisvoll. »Du sprichst unsere Sprache. Du hast gute Augen. Du siehst aus wie ein Engel. Warum fährst du mit diesen bösen Menschen.«

Angelika wollte sich verteidigen. »Ich stehe in ihren Diensten ...«

Der Fuhrmann hörte es nicht. » Du dürftest am Tage fahren. Aber die Bösen müssen bei Nacht fahren. Da, schau hin über das Feld. Da haben die Götter mit einander gekämpft, die dunklen mit den hellen. Darum liegen da die Felsblöcke. Es sind ihre Wurfgeschosse. Damit haben sie das Land öde gemacht. Sie haben es getan, weil die Menschen schlecht geworden sind. Und die Richter dort oben haben bestimmt, daß die Schlechten hier durchfahren sollen, wenn keine Sonne ist, wenn sie nichts von der bunten Heide sehen, wenn sie nicht ahnen, daß hier Seen sind, die so schön sind wie die Augen der Götter. In der Nacht sollen sie fahren, in der Angst, über das Schlachtfeld der Götter ...«

Angelika wehrte sich gegen das Einlullende dieses schlichten Glaubens. Sie versuchte mit halbem Vertrauen, den Bann etwas zu lösen. »Warum sagst du, diese Menschen seien böse? Weißt du denn, was sie getan haben?«

Der Fuhrmann schüttelte den Kopf. »Nein, nichts. Wir erfahren nie etwas über diese Dinge. Nur das wissen wir: wer diesen Weg zu den Richtern hinauffährt, der hat gesündigt. Der ist böse.«

Die Nacht war fast hereingebrochen. Der Himmel schloß alles dicht ab wie mit einer bleigefärbten, dumpfen, grollenden Kuppel. Felsen und Geröll und Landschaft verschwammen in einander zu einer Unendlichkeit des Nichts, zu einer unsagbaren Trostlosigkeit. Der Weg stieg noch einmal an. Sie klommen eine neue Stufe des Hochlandes hinauf. Neue Winde packten sie an. Sie wickelten sich dichter in ihre Pelze. Sie griffen häufiger zu den wärmenden Flaschen. So wurde ihnen ein wenig leichter.

Die Nacht fiel. Für eine Weile war alles schwarz, wie ein Schlund, der sich gegen das Licht wehrt. Dann ballte die Nacht sich gespenstisch auf, so, als strahle Licht nicht vom Himmel aus, sondern von der Erde. Es waren breite, helle Streifen am Horizont, von denen eine Helligkeit ausging und zugleich eine beißende, schneidende Kälte.

»Ist das der Schnee?« fragte Angelika. Der Fuhrmann nickte, Angelika beugte sich vor. »Aber ich sehe dort Lichter.« Der Fuhrmann nickte wieder. Aber er sagte nichts.

Auch die anderen vorne in den Wagen hatten das Licht gesehen. Paracelsus rieb sich die blauen Lippen. »Wir sind bald da. Trinken wir noch eins, Gunner, damit wir in guter Form ankommen.«

Gunner führte gehorsam die Flasche zum Munde. Sein Gehirn war schwer. »Paracelsus, Sie elektrischer Giftmischer, Sie Totengräber der Gehirne ... mir fällt im Augenblick nichts mehr ein, womit ich Sie beschimpfen kann ... wecken Sie mich auf, wenn wir beim Hotel sind ...« Er fiel schwer seitwärts, Paracelsus sah ihn verächtlich an. »Kann nichts vertragen! Und mit einer solchen Generation wollen wir ein neues Leben aufbauen ...«

Die Stimmung hob sich in dem Maße, wie das Licht sich näherte. Es war eine Erlösung für alle, eine Befreiung von einem entsetzlichen Druck, gegen den es kein Wehren gab. Nur Angelika zog enger die grobe Decke über ihre Schultern und wartete auf die Fortsetzung der Reise.

Wie die Wagen mit Stoßen und Holpern voranfuhren, wurden die Lichter unruhiger, zuckender. Sie glichen nicht mehr dem ruhigen, warmen Licht, das aus Häusern dringt. Sie enthüllten sich als offene Flammen, die dem Winde ausgesetzt sind und irgendwo in der kalten, mitleidslosen Weite als Signal, als Wegzeichen stehen. Und als sie näher kamen, gewahrten sie: es waren Fackeln, grob gewickelte Tranfackeln, an langen Stangen in den Schnee gesteckt. Und im Lichte dieser Fackeln sahen sie eine endlose Reihe von kleinen, offenen, flachen Schlitten, jeder mit einem Renntier bespannt, das gespenstisch groß, wie eine urweltliche Form, vor dem kleinen, unscheinbaren Holzgestell stand. Am vorderen Rand des Schlittens hockten in Pelze eingemummte Treiber, die Peitsche in der Hand.

Der Fuhrmann wandte sich an Angelika. »Sag den Bösen, sie sollen in die Schlitten steigen. Jetzt beginnt erst die Fahrt. Und hör: trink nichts von dem, was sie trinken. Wärm dich an deinem jungen Blut. Das ist genug. Und wenn du die Richter siehst, grüß sie in deinem Herzen. Denn sie kämpfen gegen die Bösen in der Welt, wie die hellen Götter gegen die dunklen kämpften.«

Angelika stieg aus und gab ihm die Hand. »Wer bist du?« fragte sie.

Er wandte seinen Wagen und sagte: »Einer, der in seiner freien Zeit Lieder vom Kampf des Guten gegen das Böse schreibt. Leb wohl, Engel. Und geh fort von den Bösen ...«

Die Schlittentreiber knallten mit den Peitschen. Verstört und ernüchtert und vom Grauen der Nacht geschüttelt stiegen die Menschen aus den Wagen. Schnee knirschte unter ihren Füßen. Das Licht der Fackeln blendete sie. Es warf Schatten, die keine menschliche Gestalt hatten. Eishöhlen schienen rings blau aufzuleuchten. Ungeheuer saßen darin. Die Welt war unwirklich geworden. Sie waren darin verloren wie Sünder in den Sandwellen der Wüste. Sie hätten weinen mögen.

Sie kauerten sich auf die Schlitten. Es war auf jedem nur Platz für einen Menschen. Die letzte Nachbarschaft, selbst die des trunkenen Fahrtgenossen, war ihnen geraubt. Sie klammerten sich an die Sprossen der Holzgestelle und fühlten ihre Finger erstarren. Sie tranken mehr. Sie wollten wieder fröhlich werden, denn eine Schlittenfahrt ist schön, und gar eine Schlittenfahrt in der Nacht, an Gletschern entlang und über erstarrte Ebene, muß romantisch sein. Aber die Fahrt wollte von dieser Romantik nichts hergeben. Die Treiber warfen die Fackeln um, daß sie im Schnee zerstoben. Die Nacht sprang mit großen Flügelschlägen über sie her. Peitschen knallten. Die Kufen knirschten leise über kerniges Weiß. Die großen Renntiere zogen an, langsam, dann mit verlängerten Schritten. Mit der Gleichförmigkeit von Uhrwerken, die eine mächtige Feder treibt, trabten sie durch die Nacht, schnell, mit der Geschwindigkeit von Meilen, unaufhaltsam, in eine weiße Ferne hinein, die niemand sah; gegen einen Wind an, der von den Polen der Vernichtung zu kommen schien.

Die Stunden vergingen. Nur Angelika wußte, wie lange sie gefahren waren, als der große, blau-graue Turm im dämmernden Morgen auftauchte. Die Anderen lagen – hülflose Bündel, Strandgut eines Erlebens, das viel stärker war als sie – zusammengekauert auf den schmalen Schlitten. Einige schliefen vor Erschöpfung. Die meisten waren betrunken.

Vor dem niedrigen, sehr lang gestreckten Gasthaus, das im Windschutz hoher Felsen lag, hielten die Schlitten an. Ein alter Mann trat heraus und sah halb mitleidig, halb verächtlich, auf die Menschenbündel. Er gab den Treibern einen Wink. Sie begannen, die Schlafenden und die Betrunkenen in das Haus zu tragen. Sie legten je einen auf ein Bett in einem kleinen, sauberen Zimmer, in dem ein Kamin brannte. Dann überließen sie sie sich selbst.

Angelika war die einzige, die nicht getragen werden mußte. Aber sie war von der Nachtkälte halb erstarrt. Sie wankte zum Eingang. »Gebt mir ein Feuer, an dem ich sitzen kann« bat sie.

Der Alte erstaunte. »Du sprichst unsere Sprache? Und dann fährst du mit jenen Vergifteten?«

Sie zuckten die Achseln. »Wir sind aus dem gleichen Lande. Und ich diene ihnen. Es sind nicht alle Menschen in einem Lande gleich.«

Der Alte nickte und führte sie in die Halle. Er rückte ihr einen breiten, groben Sessel an das Feuer und bedeckte sie mit warmen Fellen. Er stellte ein warmes Getränk vor sie hin, das sie belebte. Sie träumte in das Feuer hinein. Sie war sehr über sich erstaunt. Was hatte sie da zu dem Alten gesagt? Wollte sie etwa einen Trennungsstrich zwischen sich und den Anderen ziehen? Sie gehörte zu ihnen. Sie diente ihnen, weil sie mit den Ideen der neuen Bewegung übereinstimmte. Wollte sie sich innerlich vor dem Manne rechtfertigen, der in seiner freien Zeit Lieder schrieb über den Kampf des Guten mit dem Bösen? Hatte diese schlichte Welt, diese Welt mit ihrem heidnischen Untergrund, sie so eingefangen? War es wirklich genug, in der Nacht einer urweltlichen Landschaft einem guten Menschen zu begegnen, um zur Erkenntnis von Gut und Böse zu kommen? In einem verschollenen Buche, das sie unter dem Gerümpel einer Dachkammer einmal ausgegraben hatte, war sie in einer alten Märchenerzählung über die Erschaffung der Welt einmal den merkwürdigen Worten begegnet: ‚Da wurden ihre Augen aufgetan, und sie sahen, daß sie nackt waren ...‘

Von der Wärme, die aus dem Kamin strömte, schmolzen langsam die Eisblumen, die die Fenster bedeckten. Der Blick in die Landschaft wurde frei. Da war nicht Baum noch Strauch. Das einzig Belebende im Bilde waren drüben, jenseits der Straße, eine Reihe von kleinen, dunkelgrauen Häusern, fast alle gleich Zellen, wie große Schwalbennester in einiger Höhe an den Felsen geklebt. Von jeder Zelle ging ein schmaler Weg zur Straße hinunter, ein Pfad, der vom Gleichmaß des Gehens ausgetreten war. Da es sehr viele Häuser waren, liefen die Pfade wie Spinnengewebe zu einem Punkt zusammen.

»Was sind diese Häuser da oben?« fragte sie den Alten.

»Da wohnen die Vormünder.«

»So streng und klösterlich?« fragte Angelika.

Der Alte lächelte. »Es ist nicht so klösterlich. Die Zimmer sind behaglich. Wer will, kann sie sogar heizen. Und wer nicht in seiner Zelle bleiben will geht in das Gemeinschaftshaus. Und wem der Sinn darnach steht, geht hinaus und treibt Sport. Schau, Kind, da kommt der Arcus. Er ist der Lustigste von allen.«

In dem Häuschen, das der Straße am nächsten lag, hatte sich die Türe geöffnet. Die Sonne war gerade über die Felsen gestiegen und lag mit einen blassen Rot über dem leeren Ausschnitt der Türe. Plötzlich sprang eine Gestalt heraus, die Gestalt eines schlanken Menschen mit federnden Bewegungen. Er war nackt. Sein Körper leuchtete. Sein braunes Haar stand wie eine kupferne Flamme im Morgenlicht. Er sprang mit einem hohen Satz mitten in eine Schneewehe hinein, versank darin, überschlug sich, wandte sich, drehte sich, daß der silberne Staub leuchtete, war mit einem Ruck wieder hoch und mit einem weiten Sprung im Hause verschwunden. Die Türe fiel hinter ihm zu.

Der Alte lachte. »Das ist der Arcus. Er ist verliebt in die Natur. Ihm werden die Götter einmal ein großes Feuer mitten in einer Eishöhle errichten.«

In diese heitere, heidnische Stimmung hinein drangen Geräusche aus den Zimmern zur Seite der Halle. Die Mitglieder der Kommission begannen aus ihrer Erstarrung oder ihrer Trunkenheit aufzuwachen. Sie kamen an die Türen, sahen sich ratlos um und riefen nach der Übersetzerin. Aber zu ihrer Verwunderung sprach der Alte vom Hause goethanisch mit ihnen. Das tröstete sie ein wenig. Sie wurden wieder lebendig und selbstsicherer, wenn auch ein verborgenes Unbehagen blieb. Sie hatten die Nacht noch nicht vergessen. Und die Landschaft ringsum war so fremdartig ... und irgendwo lauerte eine dumpfe Furcht ...

Zwei Dinge kamen hinzu, das Unbehagen zu verstärken. Noch ehe es Mittag wurde, brachte ihnen ein Bote ein Schriftstück, mit einundsiebenzig Namen unterschrieben, das ihnen aufgab, um Mitternacht dieses Tages zur ersten Sitzung im großen Turm zu erscheinen.

Gunner lachte mühsam. »Mitternacht! Das sieht nach Theater und Szenerie aus. Na, dann wollen wir uns erst mal mit einem guten Mittagessen stärken.«

Die Speisen waren vorzüglich. Es wurde ihnen sogar Wein gereicht. Aber doch kamen sie zu keinem wirklichen Genuß. Von Zeit zu Zeit spürten sie ein Schüttern im Boden, als fahre draußen ein schwerer Lastwagen vorüber. Und einmal ging ein Rollen und Beben durch den Raum, daß alle Gläser auf dem Tische anfingen zu tanzen und zu klirren. Einige erblaßten. Paracelsus rieb sich die fleischigen Hände und sagte mit gespielter Jovialität: »Die Gegend hier ist sehr vulkanisch. Das scheint die übliche Tischmusik zu sein.«

Der Alte näherte sich dem Tische und sagte lächelnd: »Für Tischmusik ist es etwas zu ernst. Es bebt hier oft, und wir haben uns daran gewöhnt. Aber damit der Mensch sich nicht zu sehr gewöhnt, wird unser Vulkan Laki zuweilen etwas deutlicher. Leider hat er sich gerade die Zeit ihres Besuches dazu ausgewählt.«

»Das heißt« sagte Paracelsus beklommen, »daß wir mit einem Ausbruch des Laki zu rechnen haben?«

»Das heißt es« sagte der Alte und entfernte sich.

Labienus erwachte zum ersten male aus seiner Starre, mit der er die ganze Zeit dagesessen hatte. In sein gelassenes Wesen war etwas Fieberhaftes, Unrastiges gekommen, obgleich seine Stimme aus der Gewöhnung langer Jahre noch eine salbungsvolle Schwingung beibehalten hatte. »Kümmern wir uns nicht darum. Ignorieren wir diesen Zufall. Bleiben wir unberührt und bereiten wir uns zur Vertretung unserer Interessen vor, wenn die unbeseelte Natur auch noch so viel rumort.«

Aber eben dieses Rumoren der unbeseelten Natur war nicht mehr zu überhören und drang störend, verwirrend in die Beratungen ein, zu denen sich die Mitglieder der Kommission zusammensetzten. »Mir bekommt die Höhenluft nicht« stöhnte Paracelsus. Gunner grinste: »Ja, es braucht eine besondere Konstitution, um auf den Höhen leben zu können.« Aber heimlich kämpfte er gegen einen nervösen Brechreiz.

Labienus senkte die Augen. »So werde ich vermutlich der Einzige sein, der unsere gute Sache wirklich unbefangen vor dem Gericht vertreten kann. Ich werde es tun. Ich fühle die Kraft des Bekehrten in mir. Ich fühle elektrische Ströme durch mein Gehirn gehen ...«

»Das glaube ich« sagte Gunner. Dann ging er, wie ein neuer Stoß das Zimmer erschütterte, hinaus, um sich zu erbrechen.

Kurz vor Mitternacht erschienen Schlitten mit Fackeln und fuhren sie den kurzen, verschneiten Weg zum Turm hinauf. Er flößte in seiner Größe und Schlichtheit beinahe Furcht ein. Sie gingen mit leisen Schritten über die hallenden Stiegen der ungeheuren Treppe. Sie führte geradenwegs in die große Halle hinein.

Sie hatten keine Zeit mehr, sich auf irgend etwas vorzubereiten. In drei erhöhten Halbkreisen hinter einander saßen 71 junge Menschen in hellroten Gewändern. Sie saßen gelassen da, ernst, aber ohne Strenge, wohlwollend, aber unbestechlich. Nichts war in diesem Raum mit den hohen, mattgetönten Wänden, was das Auge hätte ablenken können. Nur an der hinteren Wand, dem Eingang gerade gegenüber, hing ein Symbol in überlebensgroßen Ausmaßen: eine blanke Waage, deren Zeiger ein großes Schwert war.

Die Kommission hatte sich noch kaum auf ihre Plätze gesetzt, als der Mittelste in der vordersten Reihe der Vormünder schon zu fragen begann. »Sie bekennen sich zu dem Protokoll, das das Azoren-Gericht in Goethanien aufgenommen hat?«

Die Goethanen sahen sich an. War es gefährlich oder ungefährlich, auf diese Frage zu antworten? Aber schon klang es vom Tisch der Vormünder scharf wie ein Peitschenhieb: »Ja oder nein? Hier ist nicht der Ort für juristische Spitzfindigkeiten!«

»Ja« stammelte Gunner verwirrt.

»Gut. Dagegen kennen Sie die Aussage des Professor Woolf noch nicht. Man wird sie Ihnen jetzt vorlesen.«

Es stand ein junger Mensch auf, in dem Angelika sofort den strahlenden Arcus erkannte. Er sah in seinem hellroten Gewand wie eine Sagengestalt aus alten Zeiten aus. Er las mit ruhiger, tönender Stimme. Angelika schüttelte leise den Kopf. Sie war eine schlechte Übersetzerin, sonst hätte sie auf den Inhalt des Schriftstückes gehorcht und nicht auf die tönende Stimme. Aber für einmal konnte sich ihr Gewissen beruhigen, denn Arcus las das Schriftstück im Original vor. Und für den ersten Teil der Sitzung war die Reihe nicht an ihr, sondern an ihrem männlichen Kollegen. Mit ihm hatte Labienus seine große Rede eingeübt, die er vor diesem Forum zu halten gedachte.

Die Verhandlung ging weiter. »Lügt Professor Woolf oder sagt er die Wahrheit?« kam die Frage.

Diesesmal ließen es die Goethanen nicht auf eine scharfe Belehrung ankommen. Sie waren auch viel zu überrascht von dem Abenteuer, das Woolf zu berichten hatte. Gunner sagte: »Es mag subjektiv die Wahrheit sein. Um sie objektiv kontrollieren zu können, müßte man noch seinen Assistenten Shellhammer hören. Ich benenne ihn als Zeugen.«

Das war ein Trick, den die Kommission sich ausgedacht hatte, um das Verfahren für alle Fälle in die Länge zu ziehen. Aber der Trick schlug fehl. Arcus hob freundlich die Hand. »Shellhammer ist bereits gehört worden. Aber natürlich haben Sie das Recht, ihn auch in diesen Sitzung zu hören.«

»Also Vertagung?« sagte Gunner schnell.

Arcus lächelte. »Durchaus nicht. Es ist sicher der Aufmerksamkeit der Herren nicht entgangen, daß die Richter der Azoren nicht nur notieren, sondern auch den ganzen Vorgang einer Verhandlung phonographisch aufnehmen. Sie hören jetzt Herrn Shellhammer.«

Während die Mitglieder der Kommission sich bemühten, ihr Gleichgewicht zu bewahren, ertönte aus einem unsichtbaren Lautsprecher eine schleppende, eintönige, ausdruckslose Stimme, unverkennbar die Stimme Shellhammers. »Das Gamma-Gas ist eine Erfindung des Professor Woolf ... geheim gehalten ... geheim gehalten und Zusammensetzung ... hat mich unter Drohungen gezwungen ... gezwungen ... hat mich gezwungen ... er hat sie an verschiedene Staaten verkauft ...« Die Stimme ging in ein Stammeln über.

Der Vorsitzende fragte ernsthaft: »Genügt das?«

Paracelsus sagte eilig: »Ja. Durchaus.«

Der Vorsitzende richtete seinen Kopf auf. »Dann sagen Sie uns bitte, was alle diese Dinge bedeuten, die da in Ihrem Staate vor sich gehen.«

Jetzt war Labienus große Stunde gekommen. Er erhob sich mit aller Würde und sprach Satz für Satz, und der Dolmetsch übertrug Satz für Satz mit dem gleichen Ausdruck der Stimme, so wie sie es lange geübt hatten.

So sprach Labienus: »Vormund der Welt! Ich, Labienus, stamme aus dem kleinen Staate Demosien. Ich war dort Seelsorger, der den Menschen von der neuen Ordnung in der Welt, vom Segen der Arbeit, von der Verantwortung für Alle und von der Heiligkeit der demokratischen Ordnung predigte. Ich bin nach Goethanien gesandt worden, um dort meine Lehre zu predigen und die Verantwortlichen der Regierung vor allzu schnellen und gefährlichen Entschlüssen zu bewahren.

»Vormünder der Welt! Ich kann Ihnen die Versicherung geben, daß meine Predigten nirgends auf fruchtbareren Boden fielen als in Goethanien. Es ist ein Volk, das für die Welt nur das Beste erstrebt. Sie erkennen die neue Ordnung in der Welt und die Pflicht zur Arbeit unbedingt an. Sie erkennen auch die Heiligkeit der demokratischen Ordnung an. Sie haben folglich Anspruch darauf, daß man ihnen eine Konzession macht: daß sie nämlich nicht in unserem Sinne Demokraten sind, sondern diese großen Ideale der Menschheit im Inneren auf ihre eigene Weise und mit ihrer eigenen Regierungsform lösen wollen.«

Der Vorsitzende unterbrach ihn. »Wir sind über die Regierungsform Goethaniens genau unterrichtet. Halten Sie sich dabei bitte nicht auf.«

Damit entfiel ein großes Stück aus der Rede des Labienus, denn gerade über die Regierung, über die absolute, totalitäre Demokratie hatte er vieles sagen wollen. Und so mußte er mitten in einem neuen Kapitel beginnen. »Und als ich alles das sah, hat sich mein Herz gewandelt und ich habe mich zu den Prinzipien Goethaniens aus voller Seele bekannt. Denn ich sagte mir ...«

Wieder unterbrach ihn der Vorsitzende: »Wir sind gerne bereit, Ihnen die öffentliche Beichte Ihrer Bekehrung zu ersparen. Fahren Sie bitte mit den Tatsachen und ihrer Begründung fort. Sie wissen schon: unterirdische Werkstätten, Waffen und so fort.«

Labienus war sehr bedrückt. Diese Vormünder besaßen nicht die Spur von Phantasie und seelischem Aufschwung. Man redete gegen sie an wie gegen tote Steine. Und von diesen toten Steinen ging eine so hemmende Kraft aus, daß er sie mit all seiner Beredsamkeit nicht besiegen konnte. Gegen seinen Willen mußte er den letzten Rest seiner großen Rede anbrechen.

»Vormünder der Welt! Nationen sind wie Menschen. Sie haben ihr Jugendstadium und ihr Alter. Und da das Leben in Wellen und Kurven verläuft, werden Nationen alt und kehren dann wieder zu ihrer Jugend zurück. Und in dieser Jugendzeit müssen sie spielen, wie jeder junge Mensch. Sie müssen ihre Kraft an einander messen. Sie müssen lernen, was Mut, Ausdauer, Disziplin ist. Sie müssen zu Ritterlichkeit und Heldentum erzogen werden, denn das ist der Traum aller Jugend. Sie müssen sich ihrer Kraft bewußt werden, damit sie einmal im Leben bestehen können. Und da es sich hier nicht um das Individuum handelt, dem man eine Holzpuppe in die Hand stecken kann, damit es spielt – da es sich hier um ein Kollektivum handelt, muß man ihm gewichtigere Spielzeuge geben ...«

Wieder eine Unterbrechung. »Rangieren in der Ideologie Goethaniens Giftgase unter der Rubrik Spielzeuge?«

Labienus beeilte sich: »Es ist natürlich nur alles bildlich gemeint, Euer Hochwürden ... pardon: Herr Vorsitzender. Es ist symbolisch aufzufassen.«

»Dann sagen Sie mir bitte, welches Symbol Giftgas darstellt.«

Labienus hob die Arme. »Es ist das Symbol des plötzlichen Todes, das den Menschen in der Blüte seiner Jahre anfällt. Es ist das Symbol der unerforschten Natur, des unvorhergesehenen Willens der Vorsehung, des Schicksals, das vom heiteren Himmel fällt, sodaß der Mensch lernt, im Leben nicht übermütig zu werden und demütig die Hand Gottes ...«

Diesesmal unterbrach ihn Arcus. »Ich empfehle Ihnen, diesen Begriff aus dem Spiel zu lassen. Wir sind in unserer Tätigkeit dem Begriff Gott schon so oft und in so viel Varianten und mit so verschiedenen Begründungen begegnet, daß wir uns darunter garnichts mehr vorstellen können. Wir haben also ein für alle mal beschlossen, diesen Begriff nicht mehr zu akzeptieren, wenn er nicht nachweislich für die Verteilung der Güter auf der Welt, für die Integrität der Landesgrenzen und für die Verhinderung von Kriegen unerläßliche Voraussetzung ist. Wollen Sie behaupten, daß Sie für einen dieser Tatbestände Gott unbedingt brauchen?«

Labienus zog es vor, auf diese Frage nicht zu antworten, sondern Gott für den Augenblick fallen zu lassen. Er fuhr unvermittelt in seiner Rede fort. »Die Spiele, die junge Völker früher trieben, waren nicht ungefährlich. Mehr als einmal geriet das Haus des Nachbarn in Brand. Aber hinter dem Spiel Goethaniens, einem Spiel im Rahmen der neuen Ordnung in der Welt, steht keine Gefahr, weil nur eine erzieherische Absicht ganz besonderer Art ...«

Er wurde wieder unterbrochen. Aber diesesmal war es keine menschliche Stimme, die ihm die Rede verschlug, sondern ein dumpfes, gewaltiges Grollen, das den Bau durchdröhnte. Es war, als wankte der Raum unter ihm. Er wurde blaß und hielt sich an der Bank fest. Auch die anderen Mitglieder der Kommission waren aufgesprungen. Noch einmal schwankte der Raum. Die Waage an der jenseitigen Wand neigte sich in einem großen Ausschlag und das blanke Schwert blitzte wie eine unheimliche Drohung nach rechts und nach links.

Nur die Vormünder waren auf ihren Plätzen geblieben. Der Vorsitzende warf einen prüfenden Blick gegen die Fenster, vor denen der grauende Morgen stand. Er sagte zu einem Diener, der gelassen hinausschaute: »Wie weit ist es?«

Der Diener antwortete: »Der Laki wirft Asche aus.«

Der Vorsitzende nickte. Er wandte sich zu den blassen, verstörten Goethanen. »Es ist vielleicht empfehlenswert, daß Sie jetzt heimgehen. Sie werden sich in Ihrem Gasthaus geschützter fühlen als hier im Turm. Wir werden die Sitzung morgen fortsetzen.«

Die Goethanen verließen fluchtartig den Saal. Paracelsus lief voran. Er warf sein unmäßiges Gewicht auf einen Schlitten, der gespenstisch im Morgengrauen stand, und rief: »Schnell, schnell!« Die anderen rauften um einen Platz und hinderten sich gegenseitig. Angelika stand im Eingang des Turms und sah der Panik dieser Menschen zu. In ihr war eine große Ruhe. Die einundsiebenzig hellroten Gestalten standen wie ein dreifacher, leuchtender Bogen vor ihren Augen. Hier brannte einundsiebenzigfach der Wille, die Welt am verlogenen Denken des Menschen nicht zuschanden werden zu lassen. Wie hatte sie sich für Labienus geschämt, als Arcus es ihm verwies, den Namen Gottes zu mißbrauchen. Und dieser Gott schützte sie nicht einmal davor, in blinder Panik vor dem Ausbruch der Natur davonzulaufen.

Sie streckte die Hand aus und sah dünne, hellgraue Flocken darauf niederfallen. Es wurde auch für sie Zeit, heimzugehen. Ein einziger Schlitten stand noch da. Sie setzte sich darauf. Das Renntier zog mit einem hastigen Ruck an. Der Schlitten glitt seitwärts ab, und ehe sie es sich versah, hatte er sich überschlagen. Sie rollte über einen Abhang von Schnee und Felsen. Es war ein Fall in das Bodenlose. Aber er war nur kurz. Dann fing jemand sie auf und hob sie hoch. Eine Stimme lachte und tröstete sie. »Wenn Engel unter die Teufel gehen, geschieht ihnen nichts. Tut etwas weh?«

Es war Arcus. Sie erkannte ihn an der Stimme. Sie wollte vor ihm nicht schwach erscheinen und richtete sich mit einem leichten Lachen auf. »Es ist alles in Ordnung. Wie komme ich von hier in das Gasthaus?«

In seiner Stimme war die Lustigkeit eines jungen, eines im Herzen jungen Menschen. »Ich spiele zuweilen Schlitten mit mir selber. Geben Sie acht.« Ehe sie noch wußte, was geschah, hatte er sich auf den Boden gesetzt, hatte sie über seine Schultern gezogen, und glitt in einer stäubenden Wolke von Schnee den Abhang hinunter. Es war eine atemberaubende Fahrt. Aber sie war kurz, vielleicht zu kurz. Dann stellte Arcus sie auf den Weg gegenüber dem Gasthaus und war im Morgennebel verschwunden. Sie taumelte, als sie in ihr Zimmer ging.

Der Morgen ließ sich ruhig an. Nur hier und da ein leichtes Schüttern. Das Frühstück verlief unter bedrücktem Schweigen. »Ich habe das Gefühl« sagte Gunner, »daß wir keinen besonderen Eindruck gemacht haben. Ich würde an Ihrer Stelle nach Hause telegraphieren, daß man Gasmasken an die Bevölkerung verteilt ... oder die Paradiesheide unter Wasser setzt ...«

Paracelsus nickte trübsinnig. »Der Ton war auffallend sachlich und kühl. Und die Leute sind alle so schrecklich homogen. Wenn wenigstens ein einziger dem Labienus glauben wollte. Eine abweichende Stimme genügt ja, um das ganze Urteil zu verhindern.«

Labienus war gekränkt. »Also wollen Sie die Sache auf mich und meine Leistung abstellen? Ich soll Schuld sein?«

Paracelsus sagte mit einem merkwürdigen Lächeln: »Nein nein. Ich selber bin Schuld.« –

Die zweite Sitzung fand gegen Abend statt. Sie dauerte nur wenige Minuten. Es wurden einige Fragen gestellt über die Art der Waffen, die Größe der unterirdischen Anlagen, die Zahl der Arbeiter. Von Ideen wurde nicht mehr gesprochen. Dann sagte der Vorsitzende: »Haben Sie noch etwas vorzubringen?«

Jetzt sah sich Gunner gezwungen, den letzten Trumpf auszuspielen. Er sagte: »Wir haben von vornherein damit gerechnet, daß man die Ideen des Staates Goethanien nicht sogleich verstehen werde. Wir haben uns also entschlossen, um jedes Mißverstehen auszuschließen, uns jeder Verfügung über die Werkstätten und Geräte unter der Paradiesheide zu begeben. Der Staat Goethanien hat nichts mehr mit alle dem zu tun.«

Der Vorsitzende nickte. »Ja. Er hat alles an Gunner & Co verkauft. Sind Sie das selber?«

Gunner stockte der Atem. Er stammelte: »Nein ... mein Bruder ...«

»Und Ihr Herr Bruder hat auch weiter verfügt, nicht wahr?«

Gunner riß ein Dokument aus seiner Mappe. Er fühlte, daß nur letzte Unbefangenheit ihn retten konnte. »Ja. Es liegt ein ordnungsmäßiger Kaufvertrag mit Thomas Baker & Sons vor. Hier ist er!«

»Danke« sagte der Vorsitzende. »Wir besitzen selber eine Abschrift. Wir besitzen auch den zweiten Vertrag, der den ersten zu ... sagen wir: zu einer durchsichtigen Fiktion macht.«

Gunner sank in sich zusammen. Die letzte Waffe war ihm aus der Hand geschlagen. Er hörte durch einen Nebel die Frage: »Wollen Sie die Abschriften, die wir besitzen, mit Ihren Originalen vergleichen?«

Sein Kopf summte. Es war alles nutzlos. Er schüttelte verneinend den Kopf.

Der Vorsitzende erhob sich. »Wir sind am Ende. Bitte erscheinen Sie morgen früh um sechs Uhr, bei Sonnenaufgang wieder hier. Sie können dann das Resultat in Empfang nehmen. Wenn Sie auf diesen Bänken einundsiebenzig Vormünder erscheinen sehen, werden eine Stunde später die ersten Flugzeuge von Kreta über ihrer Heimat sein. Für diesen Fall haben Sie hier in Island volles Asylrecht. Wenn weniger Vormünder erscheinen, können Sie unbehelligt nach Hause fahren.«

Sie fuhren durch die sinkende Dämmerung in das Gasthaus zurück. Das Herz war ihnen schwer. Das Schwert an der Waage hatte so böse geblitzt und gedroht. Die Zukunft lag grau vor ihnen, beklemmend, so wie die Rauchsäule, die sie in der Ferne aus dem Krater des Laki aufsteigen sahen. Zuweilen flammte durch den geballten Rauch ein Schimmer von Rot, Zeuge der Gluten, die in seiner Tiefe brannten. Niemand wußte, was er tun würde. Vielleicht brach er nur einen neuen Spalt durch die Erdrinde. Vielleicht spie er all das Gift aus, das in ihm kochte. Und dann war es ihm gleich, was er auf dem Wege verbrannte.

Das Abendessen rührten sie nicht an. Das ewige Zittern und Rollen, das unablässige Scheppern und Klirren der Gläser und Teller reizte ihre Nerven bis zum Letzten. Es war eine böse, feindliche Spannung zwischen ihnen.

Gunner knurrte böse vor sich hin. »Woher haben sie die Verträge? Es ist irgendwo Verrat in Goethanien. Man muß dem nachgehen ...«

Paracelsus schnaufte: »Sofern wir hier nicht ewiges Asylrecht genießen ...«

Labienus besann sich auf sein Amt und bemühte sich, eine Art Frieden wieder herzustellen. Er wandte sich an Paracelsus. »Nehmen Sie es nicht so schwer. Es ist alles Bestimmung. Sie sagten gestern, die Schuld läge an Ihnen ...«

Paracelsus polterte los, blaurot im Gesicht. »Natürlich liegt die Schuld an mir!«

Labienus lächelte. »Sie belasten sich mit einer moralischen Verantwortung, lieber Freund ...«

Paracelsus konnte sich nicht mehr beherrschen. »Nein, Sie Idiot! Ich meine es wörtlich! Ich habe aus Ihnen ein anständiges Schaustück machen wollen. Ich habe Ihnen Elektrizität ins Gehirn gepumpt, daß nicht mehr hineinging. Aber ich hätte Ihnen Spritzen geben sollen wie dem Shellhammer, dann wären Sie den verfluchten Seelsorger etwas los geworden ...«

Labienus hatte sich erhoben, leichenblaß. Sein Gesicht war verzerrt. Er wollte sich auf etwas besinnen, aber er konnte es nicht. Sein Kopf schmerzte zum Zerspringen. Er sah Paracelsus in das große, böse Gesicht und wich winselnd zurück. Paracelsus ging mit gespreizten Händen auf ihn los. »Unnützes Stück!« brummte er. »Verpfuschtes Werkstück!«

Da stand plötzlich der Alte vom Hause vor ihm, packte ihn mit zwei eisernen Armen und warf ihn gegen die Wand, daß er wie ein unförmiges Bündel in sich zusammenfiel.

Labienus lief schreiend hinaus. Die Welt schwankte vor ihm, so wie der Boden unter ihm schwankte. Sein Gehirn war leer. Sein Herz war nicht mehr da. Eine eisige Kälte kroch ihn an, aber seine Augen brannten heiß. Er lief und lief und wußte nicht wohin. Zuweilen traf er Menschen auf dem Wege, die etwas zu ihm sagten. Er verstand es nicht. Schlitten zogen in rasender Fahrt an ihm vorüber. Undeutlich vernahm er, daß die Treiber ihm etwas zuriefen. Einer hielt an und wollte ihn auf den Schlitten ziehen. Er wehrte sich verzweifelt, mit der panischen Angst eines Kindes, dem man weh tun will.

Dort hinten, wie eine mattrote Säule im Halbdunkel einer arktischen Nacht stand der Kegel des Laki. Im Laki brennt Feuer ... im Laki sind Flammen ... in den Flammen verbrennt man das Unreine, das Schlackenhafte ... Er strich sich über den Kopf. Da war etwas, das herausgebrannt werden mußte ...

Er lief weiter. Einmal stieß eine Feuergarbe aus dem Laki hervor. Er blieb erschreckt stehen. Aber der dumpfe Trieb in ihm war stärker. Die Erde hob sich unter Stößen. Er fiel. Er krallte sich an das Gestein, richtete sich auf und lief weiter. Die Nacht war voller Hindernisse. Er strauchelte über Geröll und das Blut lief ihm von Händen und Knien. Aber es war erlösend, das Blut strömen zu fühlen. Es war dickes, böses Blut ... In seinem Kopfe spürte er eine traumhafte Leichtigkeit ... Die Schwankungen der Erde waren wie das Schweben über Wolken ... und dann gab es einen kurzen, harten Ruck. Ein Spalt brach im Boden auf, gerade unter ihm. Er fiel hinein, bodenlos tief, lautlos, ohne Widerstand, dem ewigen Feuer entgegen ...

In dieser Sekunde brachen von dem hohen, grauen Turm schwere Blöcke aus dem Gesims und donnerten den Abhang hinunter. Sie rollten über die Straße und dröhnten gegen die schweren, niedrigen Mauern des Gasthauses an. Da lagen sie tot und gebändigt. Aber die Insassen stürzten hinaus, flüchteten vor den Wänden ringsum und dem Dach über ihnen, schrien ihr Entsetzen und ihre Ohnmacht in das fahle Dunkel hinein, liefen, liefen, drängten einer den anderen beiseite und hockten atemlos, blaß, keuchend im Schutze schwacher Schneewände, die der Wind zu Haufen geblasen hatte.

Auch Angelika war hinausgelaufen. Es war nicht Angst, die sie trieb, sondern das Gefühl einer abgründigen Verlassenheit und Einsamkeit. Wohin gehörte sie? Das Land war fremd. Die Natur war feindlich. Zwischen ihr und den Menschen, denen sie diente, war ein Abgrund aufgerissen. Und zu denen, die ihn aufgerissen hatten, gab es keine Brücke. Die saßen fern und gelassen und gesichert im Guten. Sie saßen in ihren Zellen und ihre Türen waren nicht offen. Und rings stand die Natur auf und holte zu einem Schlage aus ...

Sie stieg, vom Instinkt getrieben, den Abhang hinauf, zu den kleinen, schweigenden Häusern hin, in denen nichts sich regte. Aber schon ihre Nähe war Trost. Da ging gerade vor ihr eine Türe auf. Schwaches Licht fiel hinaus. Im Licht stand der Umriß eines Menschen. Sie kauerte reglos auf einem Felsen. Dann sagte eine Stimme, die ihr schon tief in den Ohren und tief im Herzen saß: »Bist du es, Engel?«

Sie antwortete nicht. Sie konnte nicht.

»Fürchtest du dich?« fragte Arcus.

Sie nickte stumm.

»Dann komm« sagte er. Sie ging hinein und die Türe schloß sich hinter ihnen. –

Um Mitternacht, als die aufgeschreckte Erde sich beruhigt hatte, schlichen sich die Goethanen in das Gasthaus zurück, einer nach dem anderen. Sie sahen sich nicht an. Sie litten unter ihrer Feigheit. Sie wußten: Labienus fehlt. Sie spürten: es ist etwas mit ihm geschehen. Aber keiner hatte den Mut, nach ihm zu fragen. Daß Angelika fehlte, wußte niemand. Für den Rest der Nacht saßen sie schweigend und besorgt beisammen. Sie warteten auf die sechste Stunde, in der sich das Schicksal Goethaniens erfüllen sollte.

Ehe noch die Schlitten kamen, sie zu holen, gingen sie den Abhang zum Turm hinauf. »Vielleicht« sagte einer der Sekretäre, »wird man uns nur aufgeben, die Werke wieder zu zerstören ...«

Niemand antwortete. Sie gingen in den nackten, hohen Saal und saßen da, fröstelnd, unbehaglich, bedrückt. Von dem Winkel der Decke, wo zu Beginn der Nacht der Sims abgebröckelt war, brach fahles Licht herein. Die Waage an der Rückwand war aus ihren Gleichgewicht gebracht. Das Schwert ragte schief und drohend in die Schräge. Sie sahen auf die drei Sitzreihen mit den leeren Plätzen. Wenn sie einundsiebenzig Vormünder erscheinen sahen ...

Sie kamen, langsam, einzeln, gelassen und nahmen ihre Plätze ein. Jeder, der einen Platz einnahm, bedeutete eine Stimme: Ja! Schuldig! Verurteilt! Sie kamen so langsam, wie Folterinstrumente sich bedacht in das Opfer einbeißen, um die Qual zu verlängern. Gunner zählte mit blassen Lippen: ... 37 ... 43 ... 58 ... 67 ... 68 ... 69 ... Er gab es auf. Es lohnte nicht, sich auf das Unwahrscheinliche zu verlassen. Die Vormünder saßen stumm und gelassen da. Jeder hatte in der Nacht seinen Entschluß für sich gefaßt. Es gab da keine Beratung und keine Motivierung. Es gab ein Erscheinen oder Nicht-Erscheinen.

Der siebenzigste Platz wurde besetzt. Eine Pause des Wartens. Kam der Letzte nicht? Noch ein Warten. Reglose Gesichter auf den Bänken der Vormünder. Noch eine Weile. Dann trat ein Diener vor die Sitzreihen. Er hatte eine Uhr in der Hand. Er las langsam ab und verkündete laut: »Zwei Minuten vor sechs Uhr ... Eine Minute vor sechs Uhr ...« Niemand erschien mehr. Das Schweigen der einen Minute war wie die Ewigkeit Gottes ... Nichts. Dann hielt der Diener die Uhr hoch: »Sechs Uhr.« Nichts. Er ließ die Uhr sinken. Seine Stimme war amtsmäßig gelassen. »Sechs Uhr und eine Minute.«

Die siebenzig Vormünder standen von ihren Plätzen auf. Ohne Erregung, ohne Geste und Gruß verließen sie einzeln den Saal. Auf der Bank der Angeklagten saßen die Goethanen und fühlten die Welt sich im Kreise drehen. Das Wunder war geschehen! Das Urteil war nicht gesprochen worden. Gunner hob die Hände und wollte in ein Lachen ausbrechen. Da stürzte ein Mann in den Saal, das rote Gewand flatternd, das Gesicht bleich, eine vulkanische Landschaft. Er sah sich wild um. Die letzten Vormünder verließen eben den Saal. Der Diener mit der Uhr in der Hand ging hinaus.

Arcus blieb wie gebannt stehen. In dieser Sekunde brach seine Welt zusammen. Er preßte die Lippen auf einander. Feuer war in seinen Augen. Sie richteten sich auf die Menschen von Goethanien. Er ging zwei, drei Schritte auf sie zu. Er warf ihnen den roten Mantel vor die Füße. Seine Stimme war gewaltig. Sie dröhnte wie Stimme des jüngsten Gerichts. »UND DOCH WERDE ICH EUCH VERNICHTEN!«

Dann ging er aufrecht aus dem Saal, ein Engel Gottes, den der Fall in die Tiefen der Welt zum Satan gemacht hatte. –


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