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Prolog.

Wie Leo Flamm seine Wohnung in der Grolmannstrasse verlässt, begegnen ihm auf der Stiege zwei Männer. Sie haben einen schweren, gewichtigen Gang. Ihre Gesichter sind dumm von der Ueberlast der Bedeutsamkeit. Einer von ihnen sieht Leo Flamm scharf an, mustert die schlanke Gestalt, die blauen Augen, das unauffällig gleichmässige Gesicht und fragt mit amtlicher Schärfe: »Der Jud Flamm wohnt hier?«

Leo Flamm lächelt. »Leo Israel Flamm« sagt er.

Auch die Beamten lächeln. »Sie kennen ihn?« fragt der Zweite. Seine Stimme ist nicht frei von Argwohn. Leo deutet mit dem Daumen über die Schulter. »Vierter Stock links.« Dann steigt er weiter die Stiegen hinunter. Er spürt Blicke in seinem Nacken wie Dolche, die gegen das Rückgrat stechen. Es tut weh. Alle Angst tut weh. Aber er beschleunigt die Schritte nicht. Wenn nur die Knie nicht zusammenbrechen, denkt er. An einem Treppenabsatz bleibt er stehen und zündet eine Zigarette an. Zwei, drei Sekunden versäumt. Diese drei Sekunden können mein Tod sein. Aber die Sekunde, die er gewinnen wird, wenn er zu hasten beginnt, kann ihn verraten.

Die vier Beamtenschuhe stapfen weiter aufwärts. Er ist für den Augenblick gerettet. Die Flucht kann beginnen. Sie kann ins Werk gesetzt werden, wie sie längst geplant ist. Seit einem Jahre ist er ein Tier im Käfig. Draussen gehen die Wächter auf und ab und schauen von Zeit zu Zeit durch die Stäbe. Er weiss, dass man ihn eines Tages abholen wird, als einen unter Tausenden. Es braucht keine Gründe dafür. Und da er das weiss, hätte er längst fliehen müssen. Es ist alles vorbereitet. Jedes Schriftstück, das er je in seinem Besitz gehabt hat, ist vernichtet. Jedes Buch, das nicht auf dem Rücken den Namen eines amtlich zugelassenen Klassikers trägt, ist aus seiner Bibliothek ausgemerzt. Monat um Monat hat er mehr Geld von der Bank abgehoben, als er für sein Leben braucht. Er trägt ein flaches Bündel von Noten stets auf der Brust wie einen Talisman. Wenn er das Haus verlässt, trägt er schwere, dauerhafte Stiefel. Es möchte sein, dass sie Strapazen zu ertragen haben.

Aber weiter ist er nicht gediehen. Zur Flucht ist er nicht gelangt. Flucht, vor was auch immer und wohin auch immer, ist Entwurzelung. Nur die ganz Mutigen oder die Ängstlichen können sich leicht auf die Flucht begeben. Er ist beides nicht. Und so hat er sich damit begnügt, alles für den Augenblick zu bedenken, wo die Flucht ihm wie ein böses Tier ins Genick springen wird.

Jetzt ist es gesprungen, endlich. Darum verfällt er auch nicht der Panik. Er hat nur eine Sekunde für seine Knie gefürchtet. Aber er geht ganz aufrecht. Er verschmäht es sogar, ein Taxi zu nehmen. Das Programm muss in Ruhe und Gelassenheit durchgeführt werden. Wenn er etwas vergisst oder in falscher Reihenfolge abwickelt, ist er verloren. Der Plan ist in der Nächten des Nachdenkens so tief in sein Gehirn eingraviert, dass er nur noch in diesen Spuren denken und reagieren kann.

Er geht zur Bank und schreibt einen Scheck auf sich selbst aus. Der Mann hinter dem Schalter hält das Blatt in zwei spitzen Fingern hoch. »Was wollen Sie mit so viel Geld? Wohin wollen Sie damit?«

Leo Flamm zieht gelassen die Augenbrauen hoch – er hat es vor dem Spiegel lange und gut geübt – senkt vorsichtig die Stimme und sagt: »Ein Herr von der Partei war heute früh bei mir. Er braucht das Geld dringend. Für einen wohltätigen Zweck. Er wartet draussen. Soll ich ihn hereinrufen?«

»Schwein« sagt der Bankbeamte. Er lässt es unbestimmt, wen er damit meint. Er setzt sein Zeichen auf den Scheck und gibt ihn zur Kasse hinüber. Der ganze Vorgang hat dreieinhalb Minuten gedauert, stellt Leo Flamm fest. Es ist also noch möglich, den Zehn-Uhr-Zug zu erreichen.

Er springt auf eine Strassenbahn und fährt in die Grenadierstrasse. Er sieht die Menschen nicht und sieht ihre Gesichter nicht. Er geht geraden Weges zu den beiden Läden, die er dort ausgewählt hat. Hier ist ein schwacher Punkt im Plan. Vor einer Woche bestanden die Läden noch. Ob sie heute noch existieren? Eine Woche ist im Schicksal des Juden eine Ewigkeit, seit man ihm die Gegenwart genommen hat.

Die Läden bestehen noch. Im ersten – Althandel Moses Israel Frankenstein, Jüdisches Geschäft – ersteht er einen Koffer. Der Verkäufer versichert: »Neu gestrichen. Ich habe alle Schilder heruntergekratzt. Nichts nachzuweisen, selbst wenn man ihn aufschlitzt.«

Im zweiten Laden vollzieht sich der Handel nicht so schnell. Aber diese Verzögerung hat Leo Flamm in seinen Plan eingerechnet. Er hat volle fünfzehn Minuten dafür angesetzt. Er weiss: Menschen, die Ritualgegenstände verkaufen, haben eine besondere seelische Verfassung und sind zuweilen schwer zu behandeln. Hinter einem langen, schmalen Tisch sitzt ein uralter Mann, einer von jenen, die vor Müdigkeit nicht sterben können. Er sieht den Käufer an, aber er steht nicht auf. »Nun, was?« brummt er. Leo Flamm stellt den Koffer auf den Tisch, und beugt sich vor. Er flüstert »Wollt Ihr einen Juden vom Tode retten?«

Der Alte fährt auf. Generationen werden in ihm lebendig. Mit einem Schlage ist das müde Gesicht verwischt. Es nimmt den gespannten Ausdruck dessen an, der Mitwisser und Mitverschwörer ist; der weiss: der Jude ist immer allein, und gegen ihn stehen Welten ...

Leo Flamm hat nicht viel zu erzählen. Der Alte versteht schnell. Er verschwindet mit dem Koffer in einem anderen Raum und kommt nach wenigen Minuten zurück, zitternd und stolpernd. Aber sein Gesicht ist hell und lebendig. Das Geld, das Leo Flamm ihm auf den Tisch legt, sieht er kaum an. Er fragt: »Einen Vater habt ihr noch?« – »Nein,« sagt Flamm. – »Dann lasst euch von mir segnen« sagt der Alte und legt ihm beide Hände auf den Kopf.

Leo Flamm bricht fast darunter zusammen. Solche seelische Belastung, solcher Schmerz des heimatlosen Herzens steht nicht im Plan. Es ist ein zusätzliches Gewicht, dass ihm fast die Schläfen eindrückt. Wie er auf die Strasse tritt, sieht er sie durch einen feuchten Schleier. Die Uhr zeigt siebenundzwanzig Minuten vor Abgang des Zuges.

Er geht in eine Telefonzelle und ruft die Firma an, bei der er noch hat arbeiten dürfen, weil seine besonderen Fachkenntnisse dem Vaterlande nützlich sind. »Ich bitte um Verzeihung« sagt er, »dass ich heute etwas später komme.« – Von drüben wird geantwortet: »Augenblick mal.« Dann ist ein Raunen, Rascheln, Flüstern. Eine Frage: »Was ist los?« – »Ich habe mir einen Zahn ziehen lassen.« – »Wann sind Sie hier?« – »Ich muss noch in eine Apotheke. In zwanzig Minuten bin ich dort.« – Wieder Raunen, Rascheln, Flüstern. »Gut, beeilen Sie sich.« – Leo Flamm grienst vor sich hin. Gewiss wird er sich beeilen. Er sieht die beiden Beamten im Büro sitzen und warten ...

Die Uhr ist dreiundzwanzig Minuten vor Abgang des Zuges. Am Schalter stauen sich Menschen. Leo Flamm – als habe er Zahnschmerzen – drückt ein Taschentuch über die linke Hälfte des Gesichts. Unauffällige Gesichter, halb verdeckt, prägen sich der Erinnerung nicht gut ein. Die Schlange rückt langsam vor. Zehn Minuten vor Abgang des Zuges. Leo Flamm spürt eine Ladung von Explosivstoffen in allen Nerven, die jeden Augenblick den ganzen Plan in die Luft jagen kann. Es flackert ihm vor den Augen. Er sieht zur Seite. Da hängt über dem Ausgang zum Bahnsteig eine grosse Tafel mit gläsernen Feldern. Er sucht seinen Zug: Aachen–Eupen–Malmedy. Da ist er. Bahnsteig römisch vier. Eine Glocke schrillt. Hinter der römischen vier tanzen belichtete Buchstaben auf: Vor-aus-sicht-liche Verspätung ... sein Herz hält sich krampfhaft still ... zwei Stunden.

Es jammert in ihm. Zwei Stunden, das ist zu spät. In einer Stunde werden alle Bahnhöfe nach Leo Flamm abgesucht. Aber die Zahl rührt sich nicht vom Fleck. Sie hat kein Mitleid. Er lässt die Hand mit dem Taschentuch sinken. Die Menschenschlange schiebt sich vor. Sie trägt ihn mit sich. Seine eigenen Beine tragen ihn nicht mehr. Einen Willen hat er nicht mehr. Es ist zu spät, neu zu denken. Acht Minuten vor zehn Uhr. Noch einmal schrillt die Glocke. Lichtschrift flackert über die Tafel: D-Zug Bremen–Emden–Norddeich, Bahnsteig römisch sechs.

Seine Gedanken springen wieder an. Vier oder sechs: das ist gleich, Dieses ist Grenze, jenes ist Grenze. Grenzen trennen nicht Länder. Grenzen trennen Bezirke des Mordens. Ein mit Farbe bestrichenes Stück Holz trennt Kulturen von einander.

Er wird vor den Schalter gestossen. »D-Zug dritter Emden.« Das hat er nicht gesagt. Das ist aus ihm heraus gesagt worden. Durch die Fensterscheibe des Schalters sieht er den Kopf des Ritualienhändlers aus der Grenadierstrasse. Der Segen eines alten Mannes ...

Abteil für Nicht-Raucher. In solchen Abteilen ist es ruhiger. Augen schliessen und scharf nachdenken. Man steigt in Emden aus. Wohin dann? Die holländische Grenze ist für einen Spaziergang zu weit. Er geht auf den Gang hinaus und studiert die Karte, die dort hängt. Emden ist Hafenstadt und liegt am Dollart. Auf der Karte ist es bis zur holländischen Küste zwei Fingerbreiten. Hinsetzen und die Augen schliessen. Und nachdenken. Aber wenn man die ganze Zeit die Augen schliesst, werden die Mitfahrenden aufmerksam. Also zum Fenster hinausschauen. Landschaft rollt vorüber. Jedes Waldstück schneidet ins Herz. Das sind die Wälder seiner Jugend. Man kann ein Land verfluchen, aber seine Landschaft kann man nicht verfluchen. Man kann sie sich aus dem Herzen reissen. Aber es schmerzt. Er drückt den Kopf gegen die Scheibe und weint still. Bis er sich schämt. Er lehnt sich in seine Ecke zurück und schliesst die Augen. Gott meint es gut mit ihm und wirft Schlaf über ihn, ohne Traum und ohne Unruhe.

Er wacht auf, wie das Geräusch von Bremsen ihn anschreit. Grosse Buchstaben ziehen in umgekehrter Richtung an ihm vorbei. Bremen. Ein Instinkt ruft ihn an. Er nimmt seinen Koffer und steigt aus. Was will er in dieser fremden Stadt? Er weiss es erst, wie er unten in der Halle steht. Er sucht das Postamt. Er muss ein Adressbuch von Emden finden und sich Namen notieren, die so klingen, als könnten sie Namen von Juden sein. Er beeilt sich nicht. Besser, in der Dämmerung ankommen als am hellen Tage. Und damit ist sein Plan zu einem Teil wieder ins Gleichgewicht gebracht. Nur für eines muss die Vorsehung sorgen: von Emden aus die Grenze zu erreichen. Da ihm der Segen des Gebetes nicht zur Verfügung steht, muss er die ganze Last des ungewissen Ausgangs alleine tragen ...

Es dämmert schon stark, wie er in Emden aussteigt. Es geschieht, was im Plan eingraviert steht: vor dem Bahnhof, wie er sich in den Strassen umsieht, hält eine Polizeikontrolle ihn an. »Ihr Ausweis!« – Er zieht erstaunt die Augenbrauen hoch. »Meinen Sie den Pass?« – »Pass. Meinetwegen.« – »Aber uns Juden hat man doch die Pässe abgenommen!« – Es klingt einfältig und gottergeben, dass der Beamte ihn mit einem kurzen Blick streift. »Hm, was machen Sie hier?« – Leo Flamm weist auf seinen Koffer. »Ich habe einen Handel ...« – »Aufmachen, Vorzeigen.«

Während Leo Flamm das Schloss öffnet, ist seine Spannung gross und ehrlich. Was mag der Alte ihm hineingetan haben? Er sieht: Gebetbücher, einen kleinen Becher, eine getriebene Kupferschüssel mit hebräischen Buchstaben, Mesusoth für die Türpfosten jüdischer Häuser, zwei kleine neunarmige Leuchter. Der Beamte zieht einen davon heraus. »Silber?« fragt er. Mit einer kurzen Bewegung bricht er einen Arm ab. Dann wirft er das Ganze in den Koffer zurück. »Blech. Wem wollen Sie das andrehen?« Leo Flamm zieht eifrig sein Notizbuch aus der Tasche und beginnt, Namen vorzulesen: de Vries, Hammerschlag, Mendel ... Der Beamte dreht ihm den Rücken und geht weiter. Leo Flamm liest noch eine Weile in den leeren Raum hinein. Auf seinem Gesicht ist ein Lächeln eingefroren. Dann schliesst er mit zitternden Händen den Koffer und geht in die Stadt hinein.

Vor ihm gehen zwei Männer, der eine dünn, der andere untersetzt, beide schwer und wiegend im Gang. Sie sprechen holländisch. Es mag auch vlämisch sein. Sie sind leicht betrunken. Er geht an sie heran. »Der Hafen?« fragt er. Sie stieren ihn an, gutmütig, lächelnd, ohne Verständnis. Zwei gute Bauerngesichter. Leo Flamm sieht sich flüchtig um. Die Strasse ist leer. Er zieht einen Geldschein aus der Tasche und sagt leise und dringend: »Ich muss in den Hafen!«

Sie verstehen seine Worte nicht. Aber seinen Gesichtsausdruck, diese aufbrechende Angst, dieses breit über den Mund gefurchte Entsetzen, diese grelle Panik in den Augen: das verstehen sie. Auch das Geld verstehen sie. Sie beraten leise. Dann nehmen sie Leo Flamm in die Mitte. Einer hebt den Koffer auf seine Schulter, und so ziehen sie die Strasse hinunter, an einem endlosen, hohen Drahtzaun entlang. Schuppen liegen dahinter. Kohlenhaufen. Hinter einem schwarz geteerten Verschlag halten sie an. Einer beobachtet die Strasse. Der andere hebt ein Stück des Zaunes auf, der am Boden gelockert ist. Er drängt Leo hindurch, schiebt den Koffer hinterdrein. Dann gehen sie laut schwätzend zurück.

Leo Flamm steht auf dem Kai. Der Wind ist kalt und scharf vom Dollart her. Er zittert. Es dunkelt schon. Aus den Bullaugen und Kombüsen der Schiffe kommen Lichter, weisse, gelbe, fahle. Gerade in seiner Blickrichtung dämmert ein Name auf, weiss über schwarzen Bug gemalt: Martin, Vreesland, Rotterdam. Er sieht vor sich ein Laufbrett mit einem Stabgeländer an einer Seite. Mit einem Sprung ist er darauf und geht auf das Schiff. Aber er kommt nicht weit. Ein Matrose hält ihn an. »Wohin?« »Käpten« sagt er kurz. Der Matrose weist auf die offene Türe einer Kabine. Leo Flamm geht hinein.

Der Kapitän sitzt an einem Klapptisch, die Ellenbogen über ein grosses Buch gestützt. Er sieht unwirsch auf. »Sprechen Sie Deutsch?« fragt Leo Flamm. – »Ja. Was wollen Sie hier?« – »Wohin fahren Sie?« – »Rotterdam. Wieso?« – »Nehmen Sie mich mit« bittet Leo Flamm.

Der Kapitän steht mit schurrenden Füssen auf. »Ich nehme keine Passagiere. Adjö.«

»Nehmen Sie mich mit« fleht Leo Flamm. »Ich muss über die Grenze.«

Der Kapitän ruft: »Holler!« – »Ho?« antwortet es aus dem Dunkel. – »Komm her, Holler.« Ein Matrose steckt den Kopf in die Kabine. Der Kapitän weist auf Leo. »Bring den Mann da zur Hafenwache. Da gehört er hin.« – »Wohl, Käpten.«

In Leo Flamm vollzieht sich in dieser Sekunde eine seltsame Zweiteilung. Er tritt aus sich selbst heraus und steht sich gegenüber. Er sieht sich gegen den Türpfosten gelehnt. Der Koffer ist ihm aus der Hand geglitten. Sein Gesicht ist ruhig. So sieht ein Mann aus, der einen Schritt vor der Grenze abgefangen wird. Schicksale sind nur böse, solange sie sich nicht vollzogen haben. Wenn sie da sind, sind sie wie der Tod, mit dem man schreitet: ohne Furcht, weil ohne Flucht.

»Komm mit« sagt Holler und berührt seinen Ärmel. Leo Flamm beginnt wieder zu denken. Er öffnet das Hemd an der Brust und holt das Bündel Banknoten heraus, das er da trägt. Er nimmt das Geld aus der Tasche, das er am Morgen behoben hat. Er legt beide Bündel auf den schmalen Tisch neben das grosse Buch. »Was soll das?« faucht der Kapitän.

»Ich brauche es nicht mehr« sagt Leo bescheiden. »verteilen Sie es an Arme in Rotterdam. Es ist kein gestohlenes Geld. Ich habe es ehrlich verdient. Aber ich brauche es nicht mehr. Wenn ich der Polizei in die Hände falle, brauche ich in diesem Leben kein Geld mehr. Ich bin Jude.«

Er geht aus der Kabine heraus. Aber Holler geht nicht mit ihm. Er steht wie ein Klotz da, die Beute schwerfälliger Gedanken. Der Wind vom Meere her ist hart und starr, eine lieblose Hand. Das Schiff knarrt in den Seilen, mit denen es an eine verfluchte Erde gebunden ist.

Warum geht Holler nicht mit ihm? Es ist Zeit, diese Flucht abzuschliessen. Der Plan ist in Unordnung geraten. Da hört er eine Stimme: »Holler?« – »Käpten?« – Beide Stimmen sind unsicher und befangen. »Willst du ihn zur Hafenwache bringen, Holler?« Ein Zögern, dann eine schwere Entscheidung: »Wenn es Befehl vom Kapitän ist ... Aber ich bin kein ... Mörder ...«

»Ich auch nicht« sagt der Kapitän. Holler geht fort. Der Kapitän stützt die Ellenbogen auf das grosse Buch. »Ich weiss von nichts« sagt er in die Seiten hinein. »Ich habe nichts gesehen.«

»Danke« sagt Leo Flamm leise. Aber er bekommt keine Antwort. Er versteht, dass er jetzt nur eine Aufgabe hat: nicht da zu sein. Er nimmt das Geld wieder an sich, hebt den Koffer auf und geht unschlüssig über das Deck. Aus einer Luke kommt ein Dämmer von Licht. Durch das Dämmer winkt eine Hand. Leo Flamm steigt eine steile Treppe hinunter. »Leg dich in die Hängematte« sagt jemand aus einer Koje heraus. Leo Flamm wirft den Koffer zu Boden und schwingt sich in die Matte. Sie gerät in Schwingung. Sie schwingt in grossen Ausschlägen, rechts, links, immer weiter aus, durch Helles, durch Dunkles, in die Hölle hinein, in die starrende Kälte hinaus. Die Schwingungen packen ihn bei den Gliedern, den zerfaserten Nerven, schütteln das Letzte seiner Kraft aus ihm heraus und überlassen ihn leer, müde, zerschlagen dem Trost aller zu Boden Geworfenen: dem Schlaf. –


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