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I. Teil.
Auf dem Wege nach Irgendwo.

I.

Leo Flamm steht in den Strassen von Rotterdam. Nie hat ihn eine fremde Stadt verwirrt, weil seine Neugier immer grösser war als seine Befangenheit. Aber dieses Rotterdam, das er seit vielen Jahren kennt, bringt ihn in Unordnung. Irgend etwas ist nicht richtig, entweder in der Stadt oder in ihm. Er geht noch so, wie er es in den letzten vier Jahren getan hat: befangen, immer bereit, sich vor Unbekanntem zu ducken. Aber hier ist nicht Feindseliges. Hier ist alles gleichmütig, unhastig, ungezwungen, behaglich. Keine Uniformen, keine wilde Janitscharenmusik, keine grellen Plakate; kein Ausbruch des Martialischen und kein Ausdruck der stumpfen Verkümmerung.

Was ist da geschehen? Ist hier Revolution gewesen? Haben sie ein Joch abgeworfen? Ist das Pendel wieder zurückgeschlagen, vom Tier zum Menschen?

Er hat viel Mühe, einen Albdruck von sich abzuschütteln. Er erwacht langsam, beinahe widerwillig zu einem Gefühl, das ihm die Gelenke auseinander dehnt und ihn zittern macht: er ist ja ... frei! Er sieht erschreckt um sich. Und wenn es nun nicht wahr ist? Wenn sie jetzt wieder nach ihm packen? Sein Herz revoltiert, dass er sich gegen eine Hauswand stützen muss. Ihm ist schlecht zum Speien. Aber er darf nicht. Er wird die Aufmerksamkeit der Menschen auf sich lenken. Er flüchtet sich auf eine Bank am Kanal und sitzt da Stunde um Stunde, ausgehöhlt, leer, erschöpft.

Der Hunger treibt ihn auf. Er geht zögernd in ein Restaurant. Vielleicht ist das verboten? Aber niemand weist ihn fort. Er ist ein Gast wie andere Gäste. Er bestellt und isst wahllos, als hätte er wochenlang hungern müssen. Ein unendliches Behagen überkommt ihn. Er stützt die Ellenbogen breit auf den Tisch. Er schaut gesättigt durch die grosse Scheibe auf die Strasse und lächelt heimlich jedem zu, der da vorübergeht: nicht wahr, wir sind frei?

Aber das Lächeln hält nicht an. Es wird mit jedem Gedanken mühsamer. Es erstarrt endlich und erfriert. Er ist frei: heisst das nicht zugleich, dass er vier Jahre lang wie ein Sklave an der gemeinen Furcht getragen hat? Das bleibt wie ein Makel auf der Seele kleben. Er ist frei; ja. Er ist so frei, wie ein Mensch nur frei sein kann, der auf der ganzen weiten Welt keinen zweiten Menschen mehr hat, zu dem er sich rechnen kann. Er weiss plötzlich nicht mehr, wohin er als Mensch gehört. Er weiss: als Emigrant wird er irgendwo einen Platz finden. Irgend ein Land wird sich ausrechnen, dass er jung ist, etwas Kapital besitzt, ein guter Chemiker ist und man wird ihn nutzbringend verwenden. Oder keine Regierung wird ihm aus politischen Erwägungen Zuflucht gewähren, und die Organe der Wohltätigkeit werden sich seiner bemächtigen. Aber als Mensch ist er so vereinzelt, wie er es auch gestern in einem Lande war, das ein Mass des Menschlichen nicht mehr besitzt. Die Einzigen, zu denen er sich noch rechnen darf, sind die, die gleiches Schicksal mit ihm tragen. Aber wo ist der Raum, in dem er ihnen begegnen könnte? Um sich als Mensch zu fühlen, muss man neben anderen Menschen leben; wirklich seinen Alltag mit ihnen leben. Aber wie lebt einer einen Alltag, dem noch nicht einmal die nächste Stunde mit Sicherheit gehört?

 

Und jetzt wird sein ganzes Denken schreckhaft überwältigt durch die Überlegung, die er auf dem Schiffe gewaltsam abgewehrt hat: was wird jetzt aus mir? Er weiss, dass er hier nicht bleiben kann. Er will es auch nicht. Der Anlauf, mit dem er die Ketten der Trägheit gesprengt hat, ist noch nicht erschöpft und treibt ihn auf neue Wege. Und damit beginnt das grosse Abenteuer. Bis hierher ist es nur Flucht gewesen. Sie war ausgedacht bis zu der Sekunde, da die Grenze hinter ihm lag. Für weiterhin hatte die Phantasie nichts hergegeben.

Jetzt müsste sie anspringen und ihm Wege zeigen. Aber sie tut es nicht. Ihm fällt nichts ein. Wenn er noch wenigstens wüsste, wohin alle die anderen gewandert sind, die vor ihm der Hölle entronnen sind. Aber um die hat er sich nie gesorgt. Es wird Ämter geben, in denen man Flüchtlingen sagt, wohin sie weiter fliehen können. In einer Hafenstadt wie Rotterdam wird gewiss auch eines sein. Man müsste irgend jemanden darnach fragen. Und natürlich müsste man einen Juden fragen. Wo findet man einen? Er sieht sich nach den Läden und ihren Aufschriften um. Er sucht die vertraute Bezeichnung »Jüdisches Geschäft.« Aber hier sind die Menschen nicht so schlicht mit Zeichen versehen. Und auch von den Gesichtern ist ihnen wenig abzulesen. Aber vielleicht kann man der alten Spur nachgehen, den Namen, hinter denen sich ein altes hebräisches Wort verbirgt oder die Dummheit von Subalternbeamten, die bei der Namensgebung ihre Verachtung der Hülflosen bekundeten.

Es dauert lange, bis er den Namen Abramczek findet. Er steht auf einer niedrigen, breiten Glasscheibe und dient als Anpreisung für teure Handschuhe und Krawatten. Leo Flamm geht in den Laden. Eine Frau in den mittleren Jahren, gross gewachsen, schwerbrüstig, erhebt sich von einem Hocker. Sie spricht Holländisch. Er verlangt Handschuhe. Er sagt es Deutsch. Die Frau spricht ohne einen Anflug von Staunen oder Interesse Deutsch weiter. Leo Flamm horcht auf: es ist ein Deutsch mit einem Klang von jenseits der Weichsel …

Er wählt und zahlt. Dann fragt er wie nebenher: »Können Sie mir sagen, ob es hier ein Amt gibt … ein Wanderungsamt für … für Juden?« Frau Abramczek lässt langsam die Hände sinken. Ihr Mund steht halb offen. »Sie sind denn ein Flüchtling?« – Er lächelt höflich: »Man nennt es wohl so.«

Frau Abramczek prüft ihn genauer. Seine Kleidung ist neu und gut. Sein Gesicht ist nicht müde und verhärmt. Sie beginnt zu zweifeln. »Wann sind Sie gekommen?« – »Heute Morgen. Mit einem Schiff aus Emden.« Er setzt seinen Koffer nieder und streicht sich erstaunt über die Stirne. »Mir fällt ein: ich bin erst drei Tage unterwegs. Es könnten auch drei Monate sein.«

Frau Abramczek kommt nicht aus ihrer Zurückhaltung heraus. »Es kommen so viele jetzt. Und wir werden materiell so sehr in Anspruch genommen …«

Leo Flamm fühlt sich in die Kategorie der Almosenempfänger versetzt. Aber er lächelt das Gefühl der Beschämung nieder. »Ich kann mir denken, dass die meistens mittellos sein werden.« Die Frau scheint erleichtert. »Sie haben … etwas retten können?« – »Ich komme nicht ganz leer. Ich kann mir in Ruhe aussuchen, wohin ich gehen will.«

Jetzt gerät Frau Abramczek langsam in Bewegung. »Sie wissen es noch nicht?« – »Nein. Darum habe ich nach dem Wanderungsamt gefragt.« – »Und Sie wollen nicht nach Palästina?« Es klingt beinahe wie ein Vorwurf. Leo Flamm wird nachdenklich. »Das weiss ich nicht. Wenn man flieht, flieht man. Ich habe an Chile gedacht. Oder Paraguay. Vielleicht auch Shang-hai.« – »Und warum nicht Palästina?« Flamm zuckt verlegen die Achseln. »Warum denn? Ich habe nie etwas dafür getan. Ich habe kein Recht darauf. Vielleicht nehme ich einem alten Zionisten den Platz weg, das Brot. Ich bin noch jung. Ich kann überall arbeiten …«

Frau Abramczek schiebt den Kasten mit den Handschuhen beiseite. Sie stemmt die schweren Arme auf die Glasplatte. Sie steht da wie eine Volksrednerin. Der Tonfall von jenseits der Weichsel wird eindringlicher. »Das ist es ja: Chile, Paraguay, Shang-hai … immer durch die Welt. Sich immer mehr zerstreuen. Ist noch eine Ecke, wohin wir nicht gelaufen sind – also laufen wir schnell dahin. Wir können ja morgen weiter laufen. Ich will Ihnen etwas sagen, junger Mann: der Jude läuft zu viel. Der Jude muss aufhören zu laufen. Der Jude soll nach Hause gehen. Sie sind jung und kräftig. Sie sind nicht arm. Was müssen Sie fremden Leuten in Paraguay helfen? Warum helfen Sie Ihren eigenen Brüdern nicht?«

Leo Flamm schaut sie gross an seine eigenen Brüder? Brüder: das sind doch Menschen, von gleichem Blut geboren, im gleichen Nest aufgezogen, mit gleichen Ketten an einander gefesselt … Sind das die gleichen Menschen, die mit ihm zusammen drüben geprügelte Sklaven waren? Und gehen sie alle in das unbekannte Land, von dem die Agitatoren sagen, dass die Juden dort freie Menschen seien und als Brüder zusammen leben? Er weiss von vielen Hunderten, die nicht dorthin gegangen sind. Und selbst diese Frau hier … Jetzt begreift er, was ihr Dialekt bedeutet: jüdischer Osten. Er fragt sie gerade heraus: »Und warum sind Sie nicht gegangen?«

Unter ihren Augen, auf den Backenknochen, stehen zwei rote Flecken. »Es ist fünfunddreisig Jahre zurück dass wir vor den Pogromen geflohen sind. Ich war noch ein Kind. Und damals ging man noch nicht. Auch Gedanken müssen reifen. Wie Kinder. Aber heute geht man. Die ganze Jugend sollte gehen. Dann könnten wir den Welt zeigen, wer wir sind. So aber …« sie weist mit der runden Hand durch den Laden, resigniert: »so aber sitzen wir in der Fremde und verkaufen Handschuhe und Krawatten …«

Leo Flamm streicht sich nachdenklich über die Stirne. »Das alles klingt mir noch sehr fremd. Wenn ich nur sehen könnte, dass eine Idee dahinter steckt …« Frau Abramczek sieht ihn mit weit offenen Augen an. Sie hat eine ganz neue Stimme, wie sie fragt: »Und das ist keine Idee, dass Menschen dorthin gehen, die anderswo kein Recht haben, als Menschen zu leben?« Die Worte bohren sich wie ein Stachel in Leo Flamm ein. Wenn alle dorthin gehen, die im Bruder den Menschen und im Menschen den Bruder suchen: woher nehmen sie dann den Glauben dazu? Aus dem Schicksal, das sie gemeinsam haben? Oder aus einer Erinnerung an Urzeiten, die wieder aufgewacht ist? Vielleicht hat ein Schicksal, das sie nicht gewollt haben, sie alle auf die gleiche Liste geschrieben? Vielleicht ist es nur das. Aber selbst dann wäre es unfair gegen das Schicksal, wenn er aus eigenem Entschluss seinen Namen daraus streichen würde.

»Geben Sie mir bitte die Adresse« sagt er. »Ich will es mit den Leuten besprechen. Vielleicht gehe ich doch.«

Frau Abramczek schreibt mit grossen, schweren Buchstaben. Sie ist zufrieden. Sie sagt mit einem summenden Tonfall: »Sie werden gehen. Ich weiss, dass Sie gehen werden, Sie sollen mir schreiben, wenn Sie drüben sind. Ich werde dann meinen, dass ich Sie hinübergeschickt habe.«

Wie Leo Flamm die Handschuhe, die er garnicht braucht, in den Koffer legt, leuchten da die Metallgegenstände, die Kultusgegenstände einer Religion, die er nicht mehr braucht, Sie haben inneren Zweck erfüllt: einen Gegner zu überlisten. Die Dinge tun ihm plötzlich leid. Sie gehören nicht zu ihm. Aber zu Frau Abramczek, die vor dreissig Jahren vor den Pogromen geflohen ist, gehören sie. Er nimmt den Becher heraus und stellt ihn vor die Frau auf den Tresen. »Wollen Sie ein Andenken von mir nehmen? Vielleicht gehe ich wirklich nach Palästina.«

Wie sie, kindlich errötend, den Becher nimmt und andächtig beide Hände darum schliesst, sieht sie aus wie die Tochter des Ritualienhändlers aus der Grenadierstrasse …

Leo Flamm findet das Büro für jüdische Flüchtlinge. Er gerät in einen Strom von Menschen, die hineingehen und herauskommen. Er sieht absichtlich an ihnen vorüber. Er konzentriert sich auf die Beamten, die hinter langen Tischen sitzen und die Besucher abfertigen. Es herrscht eine bedächtige Eile und eine vorsichtig abwägende Freundlichkeit. Über dem Temperament des Juden liegt der Nebel der Nordsee. Man begrüsst Flamm als einen der Hölle entronnenen Bruder, aber man begegnet ihm mit einem beinahe amtlichen Misstrauen. Man bietet ihm eine einmalige Unterstützung an und freies Mittagessen. Man sagt bedauernd, aber entschieden, das er mit einer Aufenthaltserlaubnis nicht rechnen könne.

Leo Flamm sagt: »Ich will weder ein Mittagessen noch einen Aufenthalt. Ich möchte einen Rat haben, wohin ein Mensch wie ich gehen kann.« – Man reicht ihm mit befreitem Aufatmen ein Heft. »Darin steht alles.« – »Auch über Palästina?« – Da werden alle Stimmen vorsichtig. »Damit befassen wir uns nicht. Das ist eine andere Abteilung. Und das setzt voraus, dass Sie ein Zertifikat haben.« Leo Flamm wird schon von leichter Ungeduld ergriffen. »Aber was tut ein Mensch, der keines hat?« Achselzucken. »Das ist die andere Abteilung.«

Aus der Ecke des Büros erhebt sich ein dürrer Faun mit einem weissen Spitzbart. Er wirkt in dieser Umgebung der runden, gelassenen Gesichter wie eine schwere Störung der Harmonie. »Ein Flüchtling« sagt er mit einer sehr hellen Stimme, »der kein Zertifikat besitzt, hat nur auf eines Anspruch: dass ihm ein demokratischer Minister öffentlich sein tiefstes Mitempfinden ausdrückt, besonders im Todesfalle.« Alle im Raume schweigen betont und scheinen ihn zu ignorieren. Es macht ersichtlich keinen Eindruck auf ihn. Er winkt Leo Flamm. »Kommen Sie mit mir junger Mann.«

Sie gehen in ein kleines Nebenzimmer. »Dieses Zimmer ist privat« sagt der Faun. »Was hier gesprochen wird, geht die Organisation nichts an. Haben Sie Papiere?« – Leo Flamm lacht: »Ich habe nichts als ein beinahe leeres Notizbuch aus dem Kaufhaus des Westens.« – »Gut« nickt der Faun. »Das is beinahe so viel wert wie ein Zertifikat. Denn mit einem Notizbuch können Sie weder nach Paraguay noch nach Shang-hai. Da kommt nur Palästina infrage.«

Leo Flamm sieht ihn nachdenklich an. »Meinen Sie das im Ernst?« – Der Faun lacht: »sie halten mich scheinbar für frivol. Keine Angst, junger Mann. Wenn die grossen Demokratien frivol sind, dürfen es die kleinen Flüchtlinge auch. Gott drückt da ein Auge zu. Allerdings« und jetzt wird der Faun ernst – »ob Sie drüben noch frivol sein dürfen, das ist eine andere Frage.« Er schreibt etwas auf eine Visitkarte. »Hier gebe ich Ihnen eine Adresse. Der Mann heisst Fisch. Ein beziehungsreicher Name. Unternehmer für die Beförderung jüdischer Flüchtlinge an alle Küsten der Welt. Küsten, wohl gemerkt. In den Häfen sitzen die Vertreter der Humanität und achten darauf, dass die Opfer der Anti-Humantät nicht dort landen. So, das ist alles, was ich für Sie tun kann. Der Rest ist Abenteuer. Oder jüdisches Schicksal. In Ausnahmefällen auch der Glaube an die Existenz Gottes.«

Leo Flamm geht voll Spannung fort. Das scheint der Segen der jüdischen Zerstreuung zu sein, dass überall Menschen bereit sind, zu helfen. Auch wenn sie es, wie der noch unbekannte Herr Fisch, gegen Entgelt tun: es wird doch die Raumlosigkeit des Flüchtlings damit aufgehoben. Darum empfindet Leo Flamm schon von vornherein Wohlwollen für Herrn Fisch, Allerdings seine Wohnung – oder sollte es ein Büro sein? – liegt sehr abseits, ganz im Norden der Stadt, über Brücken und Kanäle hinweg, an kleinen Werften vorbei und Schiffsfriedhöfen. Und es ist in einem solchen Schiffsfriedhof, zwischen zerschnittenen Eisenplatten, zersägten Triebwellen, zerschlagenen Maschinenteilen, wo er das »Büro« des Herrn Fisch findet. Es ist ein langes, graues Gebäude, mehr einem Fabrikraum gleich. Es trägt an der Dachkante ein Schild: »Fisch, Alteisen, Metalle, Verschrottung.«, Leo nickt zustimmend. In diese Kategorie fügen sich Flüchtende ohne Heimat und Morgen vortrefflich ein.

 

In dem Kanal, der diesen Friedhof abgrenzt, sieht Flamm ein kleines Schiff liegen, grau, schmutzig, hier und da mit neuen Platten geflickt, die noch das Rot von Menninge tragen. Das Schifflein – es mag gegen 500 Tonnen gross sein – heisst Emma. Es ist eine von Meer und Wind und Wetter zerbrochene Emma. Sie hat ihren Platz zu Recht auf dem Friedhof für Schiffe.

Leo Flamm betritt das Büro. Ihn empfängt ein Spukbild, verworren, unheimlich und lächerlich. Durch Haufen von Koffern, Kisten und Bündeln führt eine schmale Gasse. Taurollen, Ankerketten, Blechkanister, Laternen, Ballen von verschlissenem Segeltuch bedrängen den freien Raum. Es riecht nach Auswanderung, nach toten Schiffen, nach Abenteuer, nach Fremde, nach finsterer Hafenkneipe, hinter deren Türen unheimliche Gestalten lauern. Man fühlt sich versucht, nach dem Revolver in der Tasche zu tasten.

 

Am Ende des schmalen Ganges ist eine Gittertür. Stimmen sind von dort vernehmbar. Flamm geht darauf zu und öffnet. Ein neuer Spuk: das Büro des Herrn Fisch. In der Mitte ein ungeheurer Schreibtisch, aufdringlich neu, grotesk in seiner blanken Zweckmässigkeit. Rings herum stehen Korbsessel, alt, abgenutzt, einem Schiffsalon von ehemals entnommen. In drei Sesseln sitzen Menschen. Der eine ist offensichtlich Herr Fisch. Es ist ein gesättigter Haifisch, fett und blank, mit gesunden, starrenden Zähnen. Links von ihm sitzt ein junger, hagerer Mensch, ausgemergelt, mit bösen, fanatischen Zügen. Leo Flamm benennt ihn sofort: Schakal. Der Dritte ist derb, gelassen, mit einem kalten Zug der Verwegenheit im Gesicht.

Die Drei sprechen gleichzeitig auf einander ein. Leo Flamm hält abwartend die Karte in der Hand, die der Faun ihm gegeben hat, neugierig, wann man von ihm Notiz nehmen wird. Der Haifisch streckt eine Flosse aus. »Nun, geben Sie schon her.« Er wirft einen Blick auf die Karte und lässt sie zu dem Verwegenen hinüberfallen: »Da. Buch den für Palästina.«

Leo Flamm streckt unwillkürlich abwehrend die Hand aus. »Ich habe ja noch garnicht gesagt, dass ich nach Palästina will …« Der Haifisch lacht: »Und ich hab nicht gesagt, dass ich Sie nach Palästina bringen will. Ich hab nur gesagt: buchen für Palästina. Verstehen Sie den Unterschied, Mann? Ich kann ja nicht vorher wissen, wo wir landen können. Zunächst versuchen wir mal Palästina. Wenn die Regierung nicht will: mein Gott, die Welt ist gross. Und ihr müsst alle froh sein, dass ihr irgendwo hin kommt. Kapiert?«

Leo Flamm nickt nachdrücklich vor sich hin. »Das war erfreulich klar. Das habe ich kapiert, Herr Fisch. Also buchen sie.«

Herr Fisch sieht ihn aus misstrauischen Augen an. »Schön. Ich zwinge Sie ja nicht. Zunächst mal: haben Sie 50 Pfund?« Und da Leo zögert: »Ja oder nein?« Leo Flamm nickt etwas zurückhaltend. »Wollen Sie damit sagen, dass die Reise 50 Pfund kostet?«

Der Schakal beginnt zu jaulen: »Es ist ihm zu teuer! Und dabei sieht er aus, als ob er Tausende über die Grenze geschmuggelt hätte!« Leo Flamm ekelt sich vor der Stimme. Er sieht ihn nicht an und hält seinen Blick auf den Haifisch geheftet. Der hat wieder die Flosse ausgestreckt. »Fünfzig Pfund. Einheitspreis. Im voraus zahlbar.« – »Für fünfzig Pfund kann man nach Australien reisen …« – Wieder jammert der Schakal: »Alle zahlen und halten den Mund. Der da stellt Fragen!« Leo Flamm ignoriert ihn. »Und dazu noch Luxusdampfer und nicht eine sterbende Emma.«

Der Haifisch scheint belustigt. »Ein guter Witz. Aber die anderen Schiffsgesellschaften haben auch kein Risiko. Es kann sein, dass mir irgend eine Regierung meine schöne Emma wegnimmt. Und sie kann noch so gut dreihundert Leute befördern. Ich muss meine Emma in den Preis einkalkulieren. Fünfzig Pfund.«

Leo Flamm hält seine Brieftasche in der Hand. »Wann fahren Sie?« – »Vielleicht in einer Woche. Sobald ich die dreihundert zusammen habe …« – »Und die schöne Emma seetüchtig ist« ergänzt Leo Flamm. Da lacht der Haifisch. »So Gott will. Zahlen Sie. Und kommen Sie jeden Tag fragen. Es kann ganz plötzlich losgehen.«

Die Scheine fallen auf den Tisch und werden achtlos in eine Lade geschoben. »Wieviel Personen sind in einer Kabine?« erkundigt Leo Flamm sich. Da lachen alle drei. Der Haifisch ringt nach Atem. »Das will er im voraus wissen! Mensch, das richtet sich doch nach der Dicke der Passagiere! Wir rechnen das bei der Abfahrt aus.« Der Schakal grellt und schrillt: »Ein verwöhntes Kind! Was sind Sie mal gewesen, Herr?«

Leo Flamm beisst die Zähne zusammen und nimmt seinen Koffer auf. »Also ich komme in drei Tagen nachfragen.« – Der Schakal beginnt zu schreien: »Ich habe etwas zu Ihnen gesagt!« Er schlägt vor unbeherrschter Wut mit der Faust auf den Tisch. Jetzt sieht Leo Flamm ihn zum ersten male an. Sein Blick ist sehr ruhig und sehr böse: »Ich habe es nicht zur Kenntnis genommen. Haben Sie das nicht gemerkt?« Der Schakal will aufspringen, aber der Haifisch fegt ihn mit einer Gebärde seiner Flosse auf den Platz zurück. »Schweig jetzt. Jakob, schreib eine Quittung für Herrn Flamm aus.«

Jakob schreibt und stempelt. Leo Flamm liest eine verschnörkelte Unterschrift und einen Stempel: Nationale Vereinigung. Er legt die Quittung auf den Tisch zurück. »Ich habe mit Herrn Fisch zu tun und mit keiner Nationalen Vereinigung.« – Jakob schiebt ihm die Quittung wieder zu. »Wir sind die Veranstalter der Fahrt. Herr Fisch ist nur der Unternehmer. Wir sorgen dafür, dass verfolgte Juden nach Palästina kommen. Machen Sie keine Schwierigkeiten. Die anderen tun es auch nicht.«

Dann steht Leo Flamm wieder draussen zwischen dem verrosteten Eisen und den angelaufenen Metallen. Er sieht plötzlich ein Bild aus seiner Jugendzeit vor sich: auf den leeren Bauplätzen vor der Stadt sind Schilder aufgerichtet mit einer stereotypen Aufschrift, die ihn immer zum Lachen reizte: Hier kann Schutt und Asche abgeladen werden. Jetzt müssten hier auf dem Schiffsfriedhof Schilder stehen: Hier können Schicksale abgeladen werden … Er schleudert mit einem aufwallenden Jähzorn den Koffer zu Boden. Er muss sich mit aller Macht zusammenreissen. Denn er hat gegen das Gelüste zu kämpfen, noch einmal zurück zu gehen, eine Eisenstange in der Hand … So übermächtig ist das Gefühl von Ekel, Abscheu und Verachtung, dass er sich selbst nicht traut; dass er diese drei Sklavenhändler vor sich selbst zu rechtfertigen beginnt. Nutzniesser des Elends gibt es überall. Und diese da gehen noch ein Risiko ein. Und vielleicht haben sie selber schon viel durchlebt, ehe sie sich auf den Transport von Menschen verlegten. Und die Nationale Vereinigung: wer weiss, ob nicht ehrliche Menschen dahinter stehen. Dass, wo der Begriff »national« auftaucht, so schnell daneben der Korporal mit all seiner menschlichen Armseligkeit stand, lag sicher weniger am Begriff als an der Zeit, die voll war an Entartungen …

In den folgenden Tagen sieht Leo Flamm einen Teil der Menschen, mit denen zusammen er auf diesem Schiffe fahren wird, dem er lange schon einen Beinamen gegeben hat: der lebende Leichnam. Er spricht mit diesen Menschen nicht. Eine alte Scheu hält ihn zurück. Aber er beobachtet sie. Er verfolgt sie in ihrem Aufzug, in ihren Bewegungen, im Ausdruck ihrer Sprache. Er belauert ihre Gesichter und ihre Gespräche. Die Schichtung ist grösser, als er sie je im Leben kennen gelernt hat. Bislang hatte er nur wenige Juden gekannt, und sie gehörten seiner Schicht an: dem bürgerlichen Mittelstand. Jetzt hat das Schicksal Schranken eingerissen, und vom Winde des Bösen daher geweht, liegen sie hilflos neben einander: Grosskaufleute mit den letzten Pfennigen, die man ihnen zu stehlen vergessen hat; derbe, geistig begrenzte Juden aus deutschen Kleinstädten, Proletarier akademischer Berufe; kleine Händler; Handlungsreisende, hier und da ein Handwerker, und dazu ein par Gestalten, die einem Roman von Zola entsprungen scheinen: Abfall der Grosstadt.

Sie sitzen Stunde um Stunde auf dem Schiffsfriedhof herum und sprechen mit einander. Es scheint, als hätten sie sich viel mitzuteilen. Und doch – wenn man den Ausdruck der Gesichter prüft – liegt über allen Gesprächen eine Ziellosigkeit, eine Zwecklosigkeit, das unruhige Gerede von Wartenden, Entwurzelten, Heimatlosen …

Und diese Heimatlosen sollen auf der Emma über das Meer gehetzt werden. Leo Flamm kommt fast täglich, um zu schauen, was sich ereignet. An der Emma wird offensichtlich gearbeitet. Sie sieht nicht jünger dadurch aus. Es ist nur erkennbar, dass sie zu einer letzten Fahrt gerüstet wird. Schon sind Matrosen auf ihr tätig. Zwei Rettungsboote sind eines Morgens da. Sie sind alt, aber jedes kann an die dreissig Mann aufnehmen. Es können also im bösesten Falle von dreihundert Passagieren nur zweihundert und vierzig ertrinken. Und eines Tages wird sogar ein Motorboot auf dem Achterdeck vertaut. Es ist neu. Es scheint der einzig neue Ausrüstungsgegenstand. Am sechsten Tage werden Kohlen an Bord genommen. Der Haifisch befiehlt: »Kommen Sie morgen Abend gegen elf Uhr. Wir werden nachts fahren.«

Leo Flamm erscheint bereits um sieben Uhr. Nicht die Eile treibt ihn, sondern die Neugierde. Er will sehen, wie die Menschen an Bord gehen. Aber der Platz ist abgesperrt, obgleich laute Stimmen aus dem Büro kommen. Vor dem Gitter, mit dem Gesicht dagegen gedrückt wie gegen die Stäbe eines Kerkers, steht ein kleiner Mann, abgerissen, armselig. Neben ihm steht eine Frau mit einem blassen Kind. Der Mann klammert sich an die Stäbe und ruft. Er ruft so lange, bis der Haifisch den Kopf aus der Türe steckt. »Was wollen Sie denn?« – Der Mann streckt die Hände durch das Gitter. »Lassen Sie mich hinein. Wir liegen schon den ganzen Tag auf der Strasse. Wir können das Zimmer nicht mehr bezahlen. Lassen Sie uns auf das Schiff.«

Der Haifisch kommt an das Gitter, schnarrend vor Wut. »Schreien Sie nicht! Wollen Sie die Hafenpolizei auf mich hetzen? Wissen Sie denn nicht, dass der Kahn garnicht mehr im Register steht? Dass ich garnicht mit ihm fahren darf? Wenn ich euch nicht bei Nacht und Nebel an Bord bringe, könnt ihr hier bis zum Verhungern sitzen!« Der Mann wendet sich zitternd zum Gehen.

Leo Flamm steht stumm daneben. Er schweigt nicht aus Angst und nicht aus Schwäche, sondern weil ihn ein einziger Gedanke ganz ausfüllt: wer von denen, die so heimlich und verstohlen an Bord gebracht werden, ist sich darüber klar, welchem Abenteuer er ausgeliefert wird? Und wer wird für sie da sein, wenn die Gefahren des Abenteuers beginnen? Er presst erregt die Hände zusammen. Er durchlebt noch einmal die Stunden seiner Flucht. Und er sagt: ich, Leo Flamm, will für sie da sein. Vielleicht wissen sie noch nicht, dass das Schicksal sie zu Brüdern gemacht hat. Aber ich weiss es …

Wie er gegen Mitternacht zum Schiffsfriedhof zurückkommt, sieht er die Fahrtgenossen, wie sie mit Bündeln und Koffern und Kisten dem Steg zudrängen. Es ist dunkel. Immer wieder stolpert einer über Eisenhaufen. Es muss ihnen schon einer das Schweigen um jeden Preis anbefohlen haben, denn ausser einem Stöhnen hier und da wird nichts hörbar als das Schurren der Tritte, Knarren des Stegs, Stossen und Schieben von Gepäck, und gedämpft das schlaffe, saugende Geräusch einer Pumpe. Sterne stehen blank und fragend an einem kalten Himmel.

Es dauert fast zwei Stunden, bis der Letzte über den Steg geht. Dieser Letzte ist Leo Flamm. Oben an der Reeling stehen zwei Gestalten. Sie fragen leise die Namen ab. Der eine ist Jakob. Der andere ist der Schakal. Er meckert. »Ah, der Herr Flamm. Wir freuen uns, dass wir Sie endlich hier an Bord haben.« Die Stimme ist nicht mehr zu ertragen. Sie reisst alle guten Vorsätze nieder, mit denen Leo Flamm sich gewappnet hat. Er wirft seinen Koffer zu Boden, packt den Schakal mit beiden Händen und hält ihn auf Armeslänge von sich ab. »Jetzt hören Sie« – seine Stimme ist kalt vor Zorn – »wenn Sie es noch einmal wagen, mich anzusprechen, schlage ich Sie krumm!«

Er stösst ihn mit einem Ruck weg. Der Schakal antwortet nicht. Er kriecht im Dunkel davon. Leo Flamm tastet sich über das Deck. Nirgends ist Licht. Überall liegen Körper und Gepäckstücke, als sei kein Unterschied zwischen ihnen. Er lässt sich nieder, wo er gerade einen freien Raum ertastet. Es summt ringsum. Es geht wie eine geflüsterte Parole durch die Haufen: »Morgen früh wird alles geordnet. Jeder bekommt seinen Platz. Nur jetzt Ruhe, bis wir auf dem Meer sind ...«

Ein Steg fällt auf das Land zurück. Mit einer leisen, schaukelnden Bewegung gleitet das Schiff in den Kanal hinein. Lichter ziehen zu beiden Seiten vorüber, näher, ferner, undeutlicher, blasser ...


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