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V.

Das Fest rückt heran. Es ist ein grosses Zelt aufgespannt worden. Da sollen die Gäste zum grossen Festakt versammelt werden. Auch eine Tribüne wird gebaut, von der aus man Spiel und Sport anschauen wird. Manche Gäste kommen schon vorzeitig. Es sind meistens solche, die hier einmal gearbeitet haben. Es kommen andere, die eine Organisation, eine Gruppe, eine Partei zu vertreten haben. Und es kommen auch manche, die an den Festlichkeiten selbst nicht teilnehmen werden. Sie haben eine andere Aufgabe: über den Ort zu wachen, wenn er sich dem Fest hingibt. Denn so befriedet ist das Land noch nicht, dass nicht Nacht für Nacht rund um den Ort Wachen stehen müssten. Überall, zu den Feldern hin und in die Ebene hinein, sind Stellungen ausgebaut. Auch Leo Flamm hat dort jede fünfte Nacht seinen Dienst zu verrichten. Es ist eine Pflicht, die jedem obliegt, der mit einer Waffe umgehen kann. Leo Flamm erfüllt diese Pflicht mit wirklicher Teilnahme, und er hat auch Eignung dazu. Aber in diesen Tagen lässt er sich davon befreien. Die letzten Vorbereitungen für das Fest nehmen all seine freie Zeit in Anspruch.

Aber er ist glücklich in seiner Arbeit und in seinem Tun. Zum ersten male fühlt er sich beheimatet. Dass Salman Neiger ihm ein Übermass von Arbeit aufbürdet, nimmt er gutwillig hin. Er tröstet sich damit, dass er viel lernt und Neiger trotz allem ein guter Lehrmeister ist. Auch das Haus selbst erträgt er jetzt besser. Seit er weiss, dass Riwka Neiger schwere Konflikte in sich auskämpft, ist er nachsichtiger geworden. Josef ist einstweilen wieder in die Stadt gefahren, und jetzt hat Riwka niemandem, zu dem sie sprechen kann. So spricht sie zuweilen mit ihm, wenn Salman Neiger nicht zuhause ist. Es sind nicht eigentlich Gespräche. Riwka pflegt ihn unvermutet mit einer Frage zu überfallen, und wenn er antwortet, horcht sie der Antwort nach, holt sie in sich hinein und schweigt.

Auch sein Verhältnis zur Jugend ist lebendiger und produktiver geworden. Er ist langsam über die Rolle eines Veranstalters von Festspielen hinausgewachsen. Er ist ein Lehrer geworden, der zu ihnen von den vielen Dingen spricht, über die junge Menschen sprechen können: wie die Erde aufgebaut ist und wie die Kulturen wachsen und wie Völker einander begegnen, wie die Dichter schreiben und die Künstler formen. Und er ist auch ein Lernender geworden, und das erst bringt die besondere Nähe zustande, dass er mit ihnen auf der gleichen Bank sitzt und die alte Sprache lernt, in der die Menschen seines Volkes sich eines Tages verständigen wollen. Obgleich er der Älteste unter ihnen ist, ist er insofern jung mit ihnen.

Er ist eine Figur im Dorfe geworden, die man kennt. Zwar überwinden die Bauern die Fremdheit nicht ganz, die sie jedem zeigen, der nicht völlig in ihren Alltag hineingehört. Aber wenn er grüsst, sind sie freundlich erstaunt und grüssen zurück. Er hat es sogar vermocht, Nachum und Michael einander näher zu bringen. Er berät gemeinsam mit ihnen alles, was mit dem Fest zu tun hat, und so vergessen sie für Augenblicke, dass sie eigentlich Gegner sein müssten, da sie doch verschiedene Weltanschauungen vertreten.

Auch mit Malkah ist er gut Freund geworden. Sie drängt nicht mehr zu Diskussionen. Sie ist bereit, mit ihm schweigend in den Pausen der Arbeit auf dem Felde zu sitzen, unter einem Baum oder im Schatten einer Hecke, und still in die Landschaft zu schauen. Sie lässt sich erzählen, was er in anderen Teilen der Welt gesehen hat. Sie wird nicht ungeduldig, wenn er ihr das Land vor ihren Augen in Farben, Tönen, Schwingungen, Formen und Rhythmen darstellt. Durch ihn entdeckt sie das Land in seinem Atem, in seinem Leben, in seiner Schönheit. Aber sie gibt es nicht zu. Sie horcht nur, weil sie gelähmt ist, weil sie in einer entsetzlichen Niederlage gefesselt ist. Es ist niemand da, der sie daraus befreien kann. Nur Leo Flamm selbst könnte es. Er könnte es, wenn er eines Tages aufhören würde von Dingen zu sprechen. Wenn er eines Tages anfangen würde, von sich selbst zu sprechen, von der Beziehung zweier Menschen zu einander, von sich ... oder von ihr, oder von sich und von ihr gleichzeitig ...

Und darum horcht sie so aufmerksam. Denn darauf wartet sie. Das ist die Unruhe ihrer Nächte, wenn sie im Zelt liegt, und das ist die Unrast ihrer Tage, wenn sie auf dem Felde ist. Aber sie horcht vergebens. Die Gespräche wandeln sich hundertfach, aber sie liegen alle in der falschen Richtung. Es sind Gespräche zwischen Kameraden. Es könnten Gespräche zwischen zwei Männern sein. Sie ist Partner herzlicher Gespräche. Nicht mehr. Er sagt einmal: »Sie können so wunderbar zuhören.« Sie lacht statt einer Antwort. Aber eine heisse Wut hockt ihr im Herzen. Ist sie denn eine Wand, gegen die er spricht? Fühlt er nichts davon, dass sie wartet, wartet ...?

Sie kämpft gegen sich selbst. Sie ruft ihren Intellekt zur Hülfe. Sie liegt nächtlich im Zelt und sucht die Gedanken zu ordnen. Aber sie gehorchen der gewohnten Ordnung nicht mehr. Vom Herzen her drängen sich schwere Störungen ein. Die Ebene wird verlagert. Sie mag sich wehren: aber es taucht doch mit unheimlicher Beharrlichkeit ein Gefühl von Schuld und Verantwortung und Schicksal auf. Sie ist an einen lebendigen Menschen, an einen vertrauenden Menschen herangeschlichen und hat ihn einfangen wollen. Der Fang galt nicht der Beute Mensch, er galt der Beute Genosse, dem Mitglied der Gruppe, der Stimme, die er zu vergeben hat. Sie hat das Netz falsch geworfen. Es ist am Menschlichen abgeprallt, und nun liegt es schwer und breit über ihr, fesselt sie, macht sie ohnmächtig, schwach ... menschlich. Es kann niemand sie aus dem Netz befreien als der, dem es zugedacht war. Das ist Vergeltung. Zum ersten male in ihrem Leben weiss sie, was Schicksal ist. Und zum ersten male im Leben steht sie vor dem Zwang, sich zu bekennen und im Bekenntnis frei zu machen. Denn es ist kein Zweifel daran: sie selbst hat ihn mit ihrem Angriff, mit ihren sachlichen Zwiegesprächen in die Defensive gedrängt. Sie selbst ist mit dem Anspruch auf Sachlichkeit und Kameradschaft aufgetreten. Er hat nur die Ebene angenommen, die sie angewiesen hat. Und also ist es an ihr, und also ist es Forderung aus Schicksal und Erleben, dass sie die Unaufrichtigkeit eingesteht, die falsche Ebene zerstört, sich demütig bekennt in dem, was ihr die Brust sprengt und sie zum Menschen erwachen lässt ...

Am anderen Morgen erhebt sie sich früher als sonst. Sie muss ihre Arbeit eher beenden, denn sie muss frei sein für jeden Augenblick, in dem Leo Flamm frei sein wird. Sie sieht ihn drüben auf dem Felde stehen. Sie grüssen einander, und dann macht jeder sich an seine Arbeit. Malkah verrichtet ihren Teil mechanisch, versunken, von vielen Erregungen eingehüllt. Darum geht die Arbeit langsamer vonstatten, als sie es sich vorgenommen hat. Sie wird die Zeit versäumen, die sie mit Leo Flamm zusammen sein kann. Sie richtet sich auf und sieht zu ihm hinüber. Sie findet ihn nicht. Sie schüttelt den Kopf. Er kann noch nicht mit der Arbeit fertig sein. Nein, drüben unter dem Johannisbrotbaum steht noch der Wagen mit den beiden Maultieren. Aber Leo Flamm ist nicht da. Sie wird unruhig. Vielleicht ist ihm etwas zugestossen? Sie lässt die Hacke sinken. Eine Welle von Sorge, Schmerz, Liebe hüllt sie ein. Sie vermag sich nicht zu rühren. Aber die Arbeit wartet. Der Bauer will das Feld frei vom Unkraut wissen. Es kümmert ihn nicht, dass ihre Seele brennt. So wendet sie sich wieder zu den Furchen, einsam, als sei sie allein auf der Welt. Denn drüben das Feld ist leer ...

Aber plötzlich spürt sie, ohne aufzuschauen, dass Leo Flamm wieder gekommen ist. Ja, er steht da neben dem Wagen, reglos, mit hängenden Armen, als habe ihn etwas geschlagen. Er hebt langsam die Sichel und geht in das Maisfeld. Von der Sichel geht ein heller, böser Glanz aus. Jetzt weiss Malkah, dass sie in einer halben Stunde zu ihm gehen kann. Denn dann ist der Wagen beladen und dann pflegt er sich in den Schatten zu setzen und etwas zu ruhen. Aus dem Winkel ihrer Augen verfolgt sie jedes Stadium der Arbeit drüben. Sie arbeitet sich näher an die Grenze heran. Sie hat Herzklopfen. Mag sie darüber den Kopf schütteln: es will nicht schweigen.

Der Wagen ist beladen. Leo Flamm wirft den Maultieren etwas von dem grünen Mais vor und hockt sich nieder. Er nickt Malkah zu, wie sie daher kommt, ein weisses Tuch über das rote Haar geschlungen, die Hacke über der Schulter. Sie gehört schon mit in seinen Alltag hinein. Sie ist ein vertrautes Wesen seines Lebens in diesem neuen Umkreis. Aber er weiss heute nicht viel zu sagen. Es ist kein Bild und kein Ding von aussen da, das ansprechen könnte. Es ist nur ein inneres Bild da; eines, das er all die Zeit vergessen hat, weil andere Bilder sich dazwischen drängten und den Blick ausfüllten. Vor einer Stunde hat Neiger ihn gerufen, ein wenig verdrossen und ein wenig befangen. Es ist ein Besuch gekommen. Wenn er will, kann er für eine Weile auf den Hof gehen.

Leo Flamm ist gegangen. Ein seltsames Bild hat ihn erwartet. Auf der Terrasse sitzt Riwka Neiger. Ihr gegenüber, schwer, gelassen, eindringlich, sitzt Frau Simson. Sie hat den Kopf hoch aufgerichtet und spricht mit gleichmässiger, barscher Stimme zu Riwka Neiger. Die hat den Kopf gesenkt und horcht, wie sie es gerne tut. Aber ihr Gesicht ist Farbe und Flamme. Leo Flamm stampft laut auf das Hofpflaster damit sie ihn kommen hören. Frau Simson sieht ihn und nickt. Sie sieht ihn lange an und nickt wieder. Es ist der Blick einer Mutter. »Ein bischen dünn. Aber gut schaut er aus« sagt sie. Dann steht sie plötzlich vor ihm, nimmt seinen Kopf in beide schweren Hände und schüttelt ihn zärtlich unbeholfen. »Das wollte ich nur sehen« sagt sie.

Leo Flamm lacht über das ganze Gesicht. »Das ist alles?« fragt er. Sie hat sich schon wieder eingefangen. »Das war nur so nebenbei. Sie glauben doch nicht, ich sei Ihretwegen gekommen? Ich fahre gleich weiter. Auf Wiedersehen.« Er lacht immer noch und drückt ihr die Hand. »Ich weiss schon. Also auf Wiedersehen.« Aber wie er schon wieder bei den Ställen ist, ruft sie hinter ihm her. Sie kommt ihm nach und sagt leise: »Ja, das muss ich Ihnen wohl noch sagen: die Karola lässt schön grüssen. Es geht ihr gut. Wir sehen uns jetzt öfter. Sie wird wohl bald ihr Kind haben.« Damit wendet sie sich und geht zu Riwka Neiger zurück.

Leo Flamm stockt eine Sekunde der Atem. Er denkt nichts und er hat keinerlei klaren Eindruck. Es treibt ihn nur etwas, langsamer und bedächtiger zu gehen, sich achtsamer zu bewegen, als habe er Furcht, mit einer schnellen Bewegung irgend jemand zu erschrecken. Er versucht, an Karola zu denken. Aber es stellt sich kein Bild ein. Sie ist irgendwo, und er kann sie nicht sehen. Er sieht sie nicht einmal in der Vorstellung. Er weiss: sie ist irgendwo; aber es steht etwas Undurchsichtiges zwischen ihr und ihm. Und wie er so geht, wird ihm etwas anderes klar: er ist nicht mehr hier. Er ist nicht mehr in Bejt Amal. Wohl: da sind die Felder, die er kennt. Aber er geht nicht zwischen ihnen. Da ist die Arbeit, die er aus Gewohnheit tut. Aber seine Gebärden dabei kommen von irgend jemandem, nicht von ihm. Sonst immer gelingt es ihm, aus sich herauszutreten und sich selber zu sehen. Heute geschieht ihm ein Phänomen: er ist nicht da. Irgend etwas hat ihn ausgelöscht ...

Das macht ihn staunen, und im Staunen wird er schweigsam. Malkah sitzt neben ihm und schweigt auch. Es wäre eine Erlösung, wenn sie sprechen würde. Dann wäre eine Verbindung zwischen ihnen. So sitzen sie neben einander, wie zwei fremde Welten neben einander wohnen. Aber er kann nicht hinüber rufen, denn er ist nicht da. Vielleicht kehrt er zu sich zurück, wenn sie ihn anruft. Er wünscht es sich aus der Tiefe seines Herzens. Malkah sitzt im Schatten verborgen und hat den Kopf weit zurückgebeugt. Sie wird von seinem Schweigen erdrückt. Sie spürt mit jedem Nerv, dass es in ihm gärt, brodelt, wallt. Aber er behält alles für sich. Ihr gibt er nichts davon.

Das Gewissen spricht auf sie ein: es ist an dir, die Hand auszustrecken. Es ist an dir, dich zu bekennen. Sonst wird er nie geben. Mit unendlicher Mühe, mit einem Kampf, wie sie ihn so schwer im Leben noch nicht ausgefochten hat, legt sie ihre Hand auf seinen Arm und fragt mit zitternder Stimme: »Warum schweigen Sie so? Warum sagen Sie mir nichts? Bin ich es nicht wert?«

Das ist der Anruf, auf den er gewartet hat. Jetzt findet er langsam zu sich zurück. Und jetzt sind auch die Bilder der Welt wieder da. Jetzt sieht er auch Karola wieder, braun, reif, gelassen und schön in ihrer Mutterschaft. Jetzt kann er die Bilder benennen, und da es rund herum so still und in ihm so laut ist, kann er etwas tun, was er nie sonst getan und wozu nichts ihn je gedrängt hat: er kann zu Malkah von sich selber sprechen, vom eigenen Leben, das er geführt hat; von den Schicksalen, die er getragen hat; von dieser einen Gabe des Schicksals, die noch in der Schwebe ist: nicht verwehrt und nicht gegeben; nicht abgelehnt und nicht aufgenommen. Jetzt kann er ihr, Malkah, dem Kameraden der Arbeit, dem stillen Begleiter vieler Gespräche – jetzt kann er ihr von Mensch zu Mensch Rechenschaft ablegen über seine Flucht und seine Bindung.

Sie ist immer eine gute Zuhörerin gewesen. Jetzt ist ihr Zuhören vollkommen. Es ist atemlos. Es ist erkauft mit mühsamen Schlägen des Herzens. Unter der braunen Haut ist sie blass. Jedes Wort, jeder Ton, jeder Klang schlägt mit schweren Fäusten gegen sie an. Es zerbricht etwas in ihr. Es geht etwas in Scherben. Es wimmert etwas in ihr wie das Weinen ungeborener Kinder. Von seinem Schicksal her, das er da achtlos vor ihr ausbreitet, wird ihr eigenes Schicksal, kaum entfaltet, kaum Blüte geworden, zu Boden geschlagen. Es kichert aus dem Scherbenhaufen wie Hohn und Spott. Es klirrt daraus wie Verzweiflung: zu spät! Zu lange gewartet. Es rechtet und zürnt: das ist die Strafe! Es ist ihr Todesurteil.

Aber sie will es nicht annehmen. Es ist ein ungerechtes Urteil. Und selbst wenn es gerecht wäre: sie ist noch zu jung, ein Todesurteil auf sich zu nehmen. Sie kann ihr Leben noch fortsetzen, und wenn es nicht eine Fortsetzung in der Liebe ist, von der sie geträumt hat, so mag es eine Fortsetzung im Eifer sein, mit dem sie aufgewachsen ist. Wer weiss: vielleicht ist das ihr Teil von ihrer Jugend her, und alles andere ist ihr versagt. Das wird den Anderen gegeben, die aus dem Trieb leben, aus dem Instinkt, so wie Karola ... diese Karola ... wie gut sie das gemacht hat: Botschaft zu senden, als wäre es ein freundschaftlicher Gruss, und doch zu: wissen, dass sie einen, der schon von ihr weggegangen war, in ihre eigene Welt zurückreisst ... oder wenn ihr das nicht gelingt, ihn abschreckt von jeder anderen Begegnung, von der Begegnung mit ihr, mit Malkah, der Rivalin, der Unterlegenen ...

Die Demütigung fährt auf sie herab wie ein Peitschenhieb. Sie erträgt sie nicht. Ihr Stolz revoltiert. Ihr Lebensgefühl, tödlich verwundet, rettet sich im letzten Augenblick auf eine Ebene, wo es unbesiegbar wird: auf die Ebene eines tiefen, aufwühlenden, über alles aufragenden Hasses ...

Und damit hat sie ihre Gelassenheit wieder gefunden. Sie nickt hin und wieder, als wolle sie seine Gedanken bestätigen. Mehr erwartet er nicht von ihr. Wie sie aufstehen, um die Arbeit fortzusetzen, gibt er ihr die Hand. Das ist sonst nicht Brauch zwischen ihnen. Diesesmal soll es Dank ausdrücken dafür, dass sie ihn mit ihrem Vorhandensein und ihrem guten Schweigen zu sich selbst zurück geholfen hat.

Am gleichen Abend hat Malkah eine Besprechung mit Michael. Sie gibt ein abschliessendes Urteil ab: Leo Flamm kommt für die Gruppe Gideon nicht in Betracht. Aber er kommt auch nicht für Schimschon in Betracht. Wenn man politisch denken gelernt hat, weiss man, was er will: er will beide Gruppen von innen unterhöhlen und sie zum Verfall bringen. Das ist seine Absicht.

Michael hat seine Zweifel. Er gibt zu – denn er hat es längst erkannt – dass Leo Flamm keine Weltanschauung hat. Sonst hätte er sich für Schimschon oder für Gideon entschieden. Aber das, was er vorhat, ist ein liberaler Unsinn. Aber das bezweifelt Michael durchaus, dass Leo Flamm eine böse Absicht dabei hat. Er ist anständig bis auf den Grund seiner Seele. Aber er ist dumm ...

Malkah denkt ingrimmig: ja, er ist dumm. Nur, das Michael und sie bei diesem Worte etwas ganz verschiedenes meinen. Sie sagt: »Ich rede nicht über seinen Charakter. Ich rede davon, dass er sich Ideen in den Kopf gesetzt hat, die mit dem Charakter des Landes nichts zu tun haben, die dem Wesen der Jugendbewegung widersprechen. Es ist Zeit, klarzustellen, dass wir aus dieser gemeinsamen sportlichen Tätigkeit keine weiteren Folgen ziehen. Sobald das Fest vorüber ist, muss die Reinheit der Weltanschauung wieder demonstriert werden.«

Malkah hat noch eine andere Besprechung: mit den Leuten das Wachtdienstes in Bejt Amal. Sie hat diese Besprechung am frühen Morgen, ehe sie zur Arbeit geht. Sie hätte sonst nicht die Kraft gehabt, wieder neben ihm auf dem Acker zu stehen und unbefangen zu erscheinen. –

Das Fest ist herangekommen. Es packt das ganze Dorf. Es lässt keinen unberührt. Und vor allem: es lässt keinen unbeschäftigt. Mit eiserner Ausdauer hat Leo Flamm dafür gesorgt, dass Jedem irgend eine Aufgabe übertragen wird: Gäste zu empfangen, Quartiere anzuweisen, Fremde zu führen, Strassen abzugrenzen, Zäune zu schmücken, den Festzug zu ordnen. Und so hat er das Wunder zuwege gebracht, dass die ewig wache Eifersucht und das stille Drängen nach Öffentlichkeit und Bedeutsamkeit befriedigt werden. Und so breiten sich ringsum Freude, Zufriedenheit und Stolz aus. Und aus all dem wächst wahrhaftiges Erlebnis, ein Gefühl der grossen Gemeinsamkeit, jenes Geheimnis, das aus Festen und Feiertagen zuweilen über die Menschen zu herrschen beginnt. Sie stehen alle ohne Schranken vor einander, weil sie für ein par Stunden ihren kleinen Alltag geopfert haben.

Am Nachmittag drängen sich die Massen auf dem Festplatz zusammen. Die Wettspiele, Gruppe gegen Gruppe, sind schon am Morgen ausgekämpft worden. Jetzt ist die Reihe an der grossen Demonstration, auf die hin Leo Flamm seit Wochen gearbeitet hat; die Demonstration der Masse, da, wo sie einem Willen untertan ist, wo sie willig die gleichen Rhythmen der Bewegung vollzieht, wo sie zum Einsatz und zur Addition bereit ist; wo jede Gebärde dem Gesamtbild dient. Das Gelingen ist über Erwarten gross. Zweihundert junge Menschen, vom gleichen Schwung getrieben, von gleicher Kraft gebändigt, selbstbewusst und doch dienend, eigenlebig und doch gehorsam. Es ist ein Bild der Aesthetik und der Kraft zugleich. Es ist ein Versprechen für morgen.

Das rhythmische Spiel ist zuende. Die Gestalten stehen reglos auf ihren Plätzen. Der Beifall tobt. Ein Gong schlägt laut an. Ein Kommando ertönt. Dann schliessen sich die Gestalten zu Reihen aneinander, rücken zu Reihen auf, marschieren voran, stehen gleichmässig ausgerichtet, immer noch beherrscht und voll Disziplin, vor den Tribünen. Josef erhebt sich. Er will reden. Aber er ist zu sehr unter dem Eindruck des Festes und des Bildes. Mit der Kraft von einst ruft er über das Feld: »Wir singen jetzt die Hymne unseres Volkes!«

Die Hunderte erheben sich. Eine Weile Schweigen. Dann tritt aus der dicht gefügten Reihe Leo Flamm, schlank, straff, braun. Er entfaltet eine Fahne, eine blau-weisse Fahne, und lässt sie in der Abendluft schwingen. Plötzlich fühlt er – er sieht es nicht – dass hinter ihm sich noch eine Gestalt aus der Reihe löst. Und dann steht Malkah neben ihm. Sie wirft den Kopf mit dem leuchtend roten Haar weit zurück, eine leidenschaftliche Gebärde von Trotz und Kraft. Auch sie entfaltet plötzlich eine Fahne, eine blutrote Fahne, und lässt sie in der Abendluft schwingen ... Zwei Fahnen, wie sie drüben über den Zeltlagern wehen. Zwei Fahnen, zwei Symbole, zwei Welten ...

Leo Flamm lässt seine Fahne sinken. Er schaut Malkah an. Sie nimmt seinen Blick nicht an. Sie schaut gerade und starr vor sich hin, die Gefangene ihres Willens, ihrer Leidenschaft, ihres Eifers ... Zwei Fahnen ... »Du?« fragt er leise. Sie antwortet nicht.

Er schaut sich um. Erhebt niemand Protest? Die Menschen von Schimshon stehen schweigend und verbissen da. Die Menschen von Gideon stehen schweigend und entschlossen da. Das Symbol ihrer Welt hat sie gepackt. Sie leisten ihm stillen Gehorsam. Sie sind in ihre Welt zurückgekehrt.

Mit einer brüsken Bewegung wendet Leo Flamm sich ab. Hinter ihm in der Reihe steht Nachum. Er gibt ihm die Fahne in die Hand. Dann geht er mit langen, federnden Schritten ganz allein, ganz sichtbar, ganz unbesiegt an den Reihen entlang, aufrecht und preisgegeben, trotzig und bewusst über das Spielfeld und verlässt es. Ein ganz grosses, hörbares Schweigen geht mit ihm. Erst wie er ausser Sicht ist, wird Josefs Stimme hörbar, müde und gebrochen: »Wir singen jetzt ... die Hymne ... unseres Volkes.«

Leo Flamm geht durch die Dorfstrassen. Sie sind leer. Alles ist auf dem Festplatz. Es ist eine geisterhafte Leere, mit langen, schrägen Schatten, mit Zwielicht einer grossen Ungewissheit. Er geht und weiss nicht wohin. Aber die Füsse tragen ihn den Weg, den er schon gewohnt ist: auf den Hof. Immerhin: dort ist Arbeit, die er noch verrichten kann. Die Tiere warten auf Futter. Man könnte den Hof auskehren. Er wird nachschauen, ob alle Hühner auf den Stangen sind. Das ist so wichtig, wegen des Ungeziefers. Salman Neiger weiss alle diese Dinge. Man kann noch viel von ihm lernen. Vielleicht ist das das einzige, was er hier lernen kann. Alles andere ...er schüttelt den Kopf: alles andere kann nicht gelernt werden. Man kann es nur annehmen oder ablehnen.

Im Hofe ist Geräusch. Wer macht sich da zu schaffen? Neiger ist doch auf dem Festplatz. Nein, er kommt aus dem Stall heraus. Er steht kurz und gedrungen in der Türe, die Hände tief in die Taschen gesenkt. Er steht in der Türe wie ein Klotz, als wollte er den Durchgang sperren. Er sieht Leo Flamm entgegen, wie er daher kommt, sieht ihn mit engen kalten Augen an und sagt: »Nun, endlich zuende gefeiert?« Es klingt feindselig. Leo Flamm sagt ruhig: »Noch nicht ganz. Die Anderen sind noch dort ...« Neiger schiebt sich einen Schritt näher. »Und warum sind Sie schon hier?« Flamm zuckt die Achseln: »Ich hatte genug,« Neiger lacht bösartig: »So, Sie hatten genug! Und erst konnten sie nicht genug bekommen. Aber ich kann mir etwas anderes denken, warum Sie so früh kommen. Ich bin nicht blind. Aber Sie kommen doch zu spät!« Er hat zu schreien begonnen. Leo Flamm tritt etwas zurück. Es sieht aus, als ob Neiger ihm anspringen will. »Für was zu spät?« fragt Flamm. Neiger löst die Hände aus den Taschen. Es sind harte Fäuste. »Um sie abfahren zu sehen. Um zu sehen, wie sie endlich davon läuft. Wie sie genug hat von Salman Neiger. Wie sie einen anderen Hans Simson braucht, und seine Luft, die verfluchte Stadt ...!«

Leo Flamm ist nicht überrascht. Das Ergebnis ist so folgerichtig, wie es nur sein kann. Aber er weigert sich, in diese Tragödie hineingezogen zu werden. »Ich habe nie mit Ihrer Frau über persönliche Dinge gesprochen. So wenig wie mit Ihnen. Und ich möchte es auch in Zukunft nicht.« Neiger ist wieder zu seinem gebundenen Gleichmut zurückgekehrt. Die Erregung scheint von ihm abgefallen. »Dazu werden Sie auch keine Gelegenheit haben« sagt er. »Sie werden morgen die Arbeit aufgegeben.« Dann geht er mit kurzen Schritten in das Haus.

Leo Flamm nickt vor sich hin. Auch das ist folgerichtig. Auch das versteht er, dass Salman Neiger keinen Zeugen seiner Niederlage täglich auf dem Hofe sehen will. Also wird er morgen gehen. Es wird sich ein anderer Bauer finden, bei dem er weiter lernen kann. Jeder Bauer nimmt gerne einen guten Arbeiter, der keinen Lohn kostet. Er geht in seinen Verschlag und packt seinen kleinen Koffer. So wird er morgen früh keine Zeit verlieren. Er macht noch einen Rundgang durch die Ställe, schliesst hier einen Riegel, öffnet dort ein Fenster, jagt verlorene Hühner auf die Stange, stellt im Futterschuppen die Rattenfalle auf. Es ist alles Dienst an der Arbeit, und er will verrichtet sein. Auch der andere Dienst wird weiter gehen: der Wachtdienst. Es ist sein Tag heute, oder richtiger: seine Nacht.

Es dunkelt schon. In der Dorfstrasse ist Lärm und Geräusch. Die Menschen kommen vom Festplatz zurück. Leo Flamm mag keinem von ihnen begegnen. Er geht durch den Garten, springt über den Zaun und ist auf den Feldern. Mattgrau leuchtet von ferne der Unterstand aus Beton. Wie Leo Flamm darauf zugeht, bedenkt er zum ersten male, ob er überhaupt im Dorfe bleiben kann. Ist das, was vorhin geschah, nicht dazu angetan, seine Stellung zu erschüttern? Verdrängt es ihn nicht von selbst aus dem Dorfe? Vielleicht. Aber er will sich nicht verdrängen lassen. Für die Gruppen der Jugend hat er getan, was er ihnen versprochen hat. Er schliesst dieses Kapitel ab. Aber für seine Arbeit, für seine Ausbildung als Bauer wird er noch tun, was er zu tun hat. Und er wird es in Bejt Amal tun.

Im Unterstand sind heute mehr Menschen als sonst. Es sind Gäste darunter, aber auch aus dem Dorfe sind mehr Wächter da als gewöhnlich. Vor allem ist Raphael da, dem die ganze Wache untersteht. Leo Flamm grüsst, trägt sich in die Liste ein, wie immer, und will sein Gewehr nehmen, wie immer, um draussen, am Rande der Siedlung, seinen Posten zu beziehen. Da legt ihm Raphael die Hand auf den Arm. »Warte einen Augenblick. Ich muss etwas mit dir besprechen.«

Sie gehen hinaus vor die Türe, während die anderen ihnen schweigend nachblicken. Draussen sagt Raphael: »Wir sind dabei, den ganzen Wachtdienst neu zu organisieren. Das ist aus gewissen inneren Gründen notwendig. Und wir müssen Wert darauf legen, dass wir vollkommen legal sind. Du verstehst. Wir waren sehr mit dir zufrieden, aber du bist noch nicht legalisiert. Es ist darum besser, dass du einstweilen nicht wieder kommst.«

Leo Flamm wird blass. »Ihr habt von Anfang an gewusst, wer ich bin und was ich bin. Ich habe es euch gesagt.« – »Das ist richtig. Aber jetzt haben sich die Verhältnisse geändert.« Es klingt unsicher, und Leo Flamm kann nicht nachgeben. »Vielleicht willst du mich schonen, Raphael. Aber das wäre in diesem Falle nur ... Feigheit. Also was habt ihr gegen mich?« Raphael zögert noch. »Ich kann mit dir über diese Dinge erst dann sprechen, wenn ganz klar ist, zu welcher Gruppe du gehörst. Das gibt es bei uns nicht, dass einer zwischen den Gruppen steht!« – »Auch nicht über den Gruppen?« fragt Flamm. – »Das gibt es nicht« sagt Raphael. »Das ist eine Redensart.« Flamm wendet sich zum Gehen: »Solange ihr diese Redensart nicht versteht, haben wir nichts mit einander zu reden. Hier ist der Abgrund ...«

Er geht wieder über die Felder. Der Boden ist weich und nachgiebig unter seinen Füssen. Er ist eine ruhende gelassene Kraft. Aber er ist unerbittlich. Wenn man ihm nicht an jedem Tage dient, fällt er in den Urzustand seines Wesens zurück und wird Wüste. Aber zuweilen ist es schwer, zu wissen, wie man ihm dienen soll. Er versperrt sich, und man glaubt doch, man habe ihm mit rechtem Dienst gedient. Leo Flamm hat es offenbar nicht getan. Darum stösst das Dorf ihn aus. Der Hof ist für ihn nicht mehr da. Zu den Gruppen gehört er nicht. Die Menschen der Wacht halten sich von ihm fern und schliessen ihn aus. Und wessen Schuld ist alles das? Ist einer schuldig? Oder ist es dasjenige Schicksal, das an einem Lande und an den Menschen dieses Landes haftet?

Über dem Nachsinnen ist Leo Flamm in einen schwingenden Gang geraten. Eine seltsame Leichtigkeit ist in ihm, die nicht Freude ist und die nicht Schmerz ist, die nichts als Rhythmus, als Ausdruck einer geheimnisvollen Bewegung ist. Der schwingende Gang füllt ihn ganz aus. Er kann ihn nicht anhalten. Vielleicht ist es nur der stille Gehorsam gegen den Schwung des Schicksals. Er geht und kann nicht stehen bleiben. Er sieht den Raum vor sich, in dem er all die Zeit gearbeitet hat. Aber auch er hält ihn nicht mehr. Es ist ein leeres Gehäuse. Mit einem Griff zieht er seinen kleinen Koffer an sich und geht weiter. Im Hof sind von den Ställen her die gewohnten Geräusche. Er gleitet an ihnen vorüber. Der schräge Torpfosten grüsst ihn, wie er hindurch geht. Die Strasse ist belebt, aber er nimmt sie nicht wahr. Sie zieht wie ein unscharfes Bild an ihm vorüber. Es treibt ihn mit schwingendem Gang weiter. Stiller werden die Strassen, ferner die Häuser. Jetzt ist der Himmel gross und ausgestirnt über ihm. Das Dorf bleibt hinter ihm. Er ist auf dem Pfad, der zu der grossen Landstrasse führt. Bäume stehen voll und rauschend zu beiden Seiten. Da löst sich aus dem Dunkel der Stämme eine Gestalt. Sie zögert. Sie sieht Leo Flamm mit schwingendem Gang daher kommen. Sie will zu ihm hin gehen. Sie streckt die Hände aus. Das Herz peinigt sie, dass sie es in allen Gliedern spürt. Aller Trotz ist von vielen Tränen aus ihr heraus gebeizt. Sie will ihm in den Weg treten, den Kopf neigen, diesen harten Kopf auf seine Schultern legen, nachgiebig ... Aber er kommt daher, aufrecht, gleitend im Gang, mit langen federnden Schritten, eine unbesiegte Kraft. Er wendet den Blick nicht zur Seite. Er geht und geht. Von seinem Gehen strömt eine Kraft aus, die sie fesselt, die sie an den Ort bindet, die sie beiseite drängt, zurück in den Schatten, in das Alleinsein ... bis er vorüber ist und in der Nacht versinkt ...


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