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V.

Die Panik, die jetzt ausbricht, ist unheimlicher als die Panik in der Nacht, als die Toten fielen. Nur ein, zwei mal schreit eine Frau. Sonst ist Stille. Aber Bewegung ist da, ein Rennen, ein Hasten. Sie klammern sich an alles, was ihnen in die Hände kommt. Sie klammern sich an Bündel und Koffer, die neben ihnen die schräge Fläche hinunter gleiten. Sie gleiten mit den Dingen zusammen an die tiefer gelegene Reeling, wo schon andere zusammengepfercht liegen. Füsse stossen auf Nacken und Köpfe. Aber sie schreien nicht. Sie kämpfen um Raum, um einen Platz zum Stehen, um einen Ausgang, um irgend etwas, das sie nicht wissen. Sie hasten; sie suchen etwas und wollen doch davon laufen.

Plötzlich sagt einer mit einem wilden, verbissenen Ausdruck: »Jakob! Der Jakob!« Er richtet sich auf, kriecht auf allen Vieren gegen die schräge Fläche des Decks an, in der Richtung auf die Treppe zu. Andere tun das gleiche. Eine ganze Gruppe gerät zur Treppe hin in kriechende Bewegung. Es ist ein Bündel stumm wütender, verzweifelter, zu allem entschlossener Menschen.

Leo Flamm steht noch auf der Treppe zum Steuerhaus, mühsam an das Geländer geklammert. Er sieht den Schwarm, der sich da absondert und einem Ziel zustrebt. »Es sind alles Mörder« denkt er, und mit einem Sprung ist er von der Kommandobrücke herunter. Er ist jetzt über den Anderen und es gelingt ihm daher, früher als sie die Treppe zu erreichen, die unter Deck führt und zu der Kabine von Jakob. Er stellt sich vor die Türe, breitbeinig, mühsam das Gleichgewicht bewahrend. Der Schwarm schlittert unbeholfen, lärmend die Stiegen hinunter. Sie sind immer noch stumm. Nur ihre Gesichter sind beredt. Sie sagen: »Wir wollen den Jakob totschlagen. Dieser Jakob ist an allem schuld. Weg mit ihm.«

Sie sehen Leo Flamm gegen die Türe gelehnt stehen, die Arme weit ausgebreitet. Sie dringen mit der gleichen stummen Entschlossenheit gegen ihn vor. Das sind ganz fremde Menschen, wie er sie noch nie gesehen hat. Er sagt ganz ruhig und gelassen: »Das soll nicht geschehen. Solange ich es verhindern kann, geschieht so etwas nicht.« Sie stutzen, als hätten sie nicht erwartet, dass in dieser stummen, schweigenden Hast überhaupt jemand den Mund öffnen und reden könnte. Er spricht dringlicher, wie zu eigensinnigen Kindern. »Es ist auch nichts damit gedient. Garnichts. Es ist besser, wir denken daran, wie wir uns selber in Sicherheit bringen.«

Das Wort »Sicherheit« wirft ihre Gedanken auf ein ganz neues Geleise. Es ernüchtert sie, aber es kann sie noch nicht ganz von dem Zweck abbringen, der sie hierher getrieben hat. Sie wollen auf Jakob und auf die Rache an Jakob nicht verzichten. Einer kommt auf die absurde Idee: »Und inzwischen wird er uns davon laufen.« Das ist auch die Meinung der Anderen: man darf den Jakob nicht entwischen lassen. Leo Flamm antwortet mit einer Idee, die nicht weniger absurd ist: »Wenn wir die Türe zunageln, kann er nicht weglaufen.« O, das leuchtet ein! Schon die Vorstellung verschafft tiefe Befriedigung: die Türe zunageln, so wie man über einem Toten den Deckel des Sarges zunagelt. Und so klingt es auch: hohl, dumpf, einsargend ...

Dann klettern sie alle wieder an Deck. Da oben hat die Panik sich aufgelöst in fieberhafte Tätigkeit. Baermann hat das Kommando übernommen. Aus dem hinteren Laderaum hat man Tische und Bänke herausgerissen. Man schleppt sie über Deck und wirft sie ins Wasser. Zwei, drei Bretter neben einander ergeben einen bequemen Steg, den man über die Felsen und Riffe legen kann. Das Wasser ist hier nicht tief und das feste Land ist keine zwanzig Meter entfernt. Dazwischen sind Felsköpfe, über die man trockenen Fusses gehen kann. So bauen sie sich einen Weg zum Ufer hin. Es ist wie eine neue Auswanderung. In Rotterdam sind sie von einem Friedhof für Schiffe abgefahren. Jetzt hat die ›Emma‹ einen anderen Friedhof gefunden, und sie eilen, das Wrack, den Leichnam hinter sich zu lassen. Die ganze Habe stapelt sich am Ufer auf, phantastische Berge von Gepäckstücken aller Art. Für einen Augenblick haben sie das Besitzgefühl vergessen. Jeder schleppt an Land, was ihm in die Hand gerät oder was er aus dem flachen Wasser auffischen kann.

Aber wer über den Steg gegangen ist, bleibt in der Nähe des Gepäckhaufens stehen. Die Angst hält sie da fest. Wer weiss, was auf dieser Insel lebt? Nun, wilde Tiere werden da nicht sein; aber vielleicht Schlangen. Und weit und breit kein Haus. Verschollene Erinnerungen an Robinson Crusoe tauchen auf. Wann wird hier der Zufall ein Schiff vorbeiführen?

Leo Flamm ist an Deck geblieben und hilft, Gegenstände aus dem Schlafraum zu bergen. Wie er wieder hinauf kommt, sieht er an Land jenseits der Felsen kleine, schattenhafte Gestalten sich bewegen. Er schaut schärfer hin. Es sind Ziegen. Er grinst vor sich hin. Also mit der Robinson-Existenz wird es nichts. Die Insel muss bewohnt sein. Er ruft Baermann seine Entdeckung zu. Und sofort ändert sich die Haltung der Menschen. Das Verschreckte verschwindet aus ihren Gesichtern. Sie sind zwar gestrandet, aber sie sind nicht ganz verloren. Es mag sein, dass es nicht die letzte Katastrophe ist, sondern ein erneutes Abenteuer. Zwar wagen sie noch nicht, in die Insel hineinzugehen und sie zu erforschen. Aber sie beginnen doch, sich am Strande ein wenig einzurichten, wenigstens die Bequemlichkeiten für eine Nacht im Freien herzurichten. Sie tun es mit vielem Hin und Her und mit viel zwecklosem Laufen; aber es ist gut, sich wieder einmal auf festem Boden zu bewegen. Man kann dabei das Gefühl haben, die Reise sei zuende, man sei irgendwo gelandet ...

Das Schiff liegt so verlassen da, als sei es schon vor langer Zeit gestrandet. Es gibt kein Zeichen von Leben. Nur Leo Flamm ist an Bord geblieben. Er hat es nicht aus einer bestimmten Absicht getan. Es hat ihn einfach die Rolle des Zuschauers überwältigt. Es ist befreiend, so auf dem Ausguck zu sitzen und den Menschen zuzuschauen, wie sie die neue Station ihrer Flucht einrichten. Es ist sehr merkwürdig: das grosse Bündel, das noch gestern den Mut zur Meuterei hatte, fällt schon wieder auseinander. Sie streiten sich schon wieder um Koffer und um Schlafplätze. Das unheimliche Schweigen von vorhin war wohltuend gegen den kleinlichen Lärm, der am Ufer herrscht. Flamm hätte gerne gewusst, nach welchem Gesetz solche Menschen leben, und ob es das Gesetz aller Menschen ist, so zu reagieren, oder ob es für gerade diese Flüchtlinge bedeutsam ist ...

Sein Nachdenken wird unterbrochen durch ein Geräusch, das vom Vorschiff kommt. Eine Luke hebt sich. Ein Kopf zwängt sich vorsichtig durch den Spalt und schaut über das Verdeck. Es ist der Kapitän. Flamm fasst sich an den Kopf. »Du Idiot!« knurrt er sich an. »Die ganze Besatzung ist ja noch an Bord! Was geschieht jetzt?« Seine Gedanken arbeiten blitzschnell. Er ist nicht mehr Zuschauer. Er ist brennend beteiligt. Mehr noch: er hat nicht aufgehört, für die anderen verantwortlich zu sein. Er wird die Besatzung nicht daran hindern können, das Schiff zu verlassen. Aber er kann sie hindern, Schaden anzurichten, der nicht wieder gut zu machen ist. Und dieser Schade könnte sein: das Motorboot. Es kann sein, dass die Rettung aller an diesem Boot hängt.

Auf allen Vieren, so schnell er es auf dem schrägen Deck bewerkstelligen kann, kriecht er nach achtern. Er muss das Boot erreichen, ehe die Matrosen kommen. Es liegt sehr schief, und es braucht die Gewandtheit eines Turners, hinein zu klettern. Dann öffnet er die Motorhaube und beginnt, die Zündkerzen heraus zu schrauben. Er ist kaum fertig, da taucht schon der Kopf des Kapitäns über dem Bootsrand auf. Einen Moment erschrickt er. »Was machen Sie denn da?« Flamm zwinkert ihm zu: »Ich mache nur das Motorboot ein wenig unbrauchbar ...« Der Kapitän ist unschlüssig. Dann winkt er nach rückwärts. Flamm beugt sich über den Bootsrand. »Kapitän, machen Sie keine Dummheiten. Sie bekommen das Boot nicht. Ich werfe die Zündkerzen ins Wasser, wenn ein Mann an das Boot herankommt. Es ist mir bitterer Ernst.«

Die Matrosen sind herangekommen, aber der Kapitän hält sie zurück. Er verlegt sich auf das Verhandeln. »Schauen Sie, Herr Flamm, Sie sehen nicht, wo Ihr Vorteil ist. Es kann lange dauern, bis die Leute hier abgeholt werden. Ich verpflichte mich, Sie mitzunehmen.« Flamm schüttelt den Kopf. »Und natürlich nehme ich auch Ihre Freundin mit« fügt der Kapitän hinzu. Flamm schüttelt immer noch den Kopf: »Es geht nicht. Ich muss hier bleiben.« – »Aber was haben Sie an den Leuten für einen Narren gefressen? Haben Sie noch nicht genug davon? Hören Sie: ich bringe Sie in den nächsten Hafen, in dem Passagierdampfer anlegen. Es ist garnicht weit ...«

»Wenn es garnicht weit ist« lacht Flamm, »dann empfehle ich Ihnen mit gutem Gewissen, das Rettungsboot zu nehmen. Das Motorboot bekommen sie nicht. Basta.«

Der Kapitän bläst aus vollen Backen die Luft von sich. »So ein Dickkopf.« Dann gibt er seine Befehle. Sie werden mit der Präzision eines Manövers ausgeführt. Das Rettungsboot geht zu Wasser, Bündel werden hineingeworfen, ein Matrose nach dem anderen lässt sich an einem Tau herunter, ein Mast wird aufgerichtet und ein Notsegel aufgezogen. Der Kapitän geht als Letzter. Er steht im Boot und ruft zu Flamm hinauf: »Flamm, gehen Sie mit!« – »Mein Platz ist hier.« – Das Boot stösst vom Schiff ab. »Aber wenn Sie etwas für mich tun wollen, Kapitän, dann benachrichtigen Sie die nächste jüdische Organisation, die Sie erreichen können. Sie kennen sich in diesen Dingen doch aus.« – »Wird besorgt.«

Der Wind fasst in das Segel und das Boot gleitet ab, mit Kurs nach Osten. Da ruft der Kapitän noch einmal: »Flamm!« – »Was ist?« – »Sie sind mir sympathisch, Herr Flamm!« Flamm lacht und winkt zum Abschied.

Wie er sich umwendet, hockt Karola hinter ihm im Boot. Er hat sie nicht kommen hören. Er weiss nicht, wieviel von dem voraufgegangenen Gespräch sie gehört hat. Das verschafft ihm ein leises Gefühl des Unbehagens. Zudem hat ihr Blick einen Ausdruck, wie er ihn an ihr noch nicht gesehen hat: etwas Prüfendes, beinahe Kritisches. Er sagt verlegen: »Ich habe garnicht gewusst, dass du in der Nähe bist.«

»Sag mir« fragt Karola, »warum bist du nicht mit ihnen gegangen?« Worauf geht diese Frage hinaus? Soll das ein Vorwurf sein? Hätte er an sie denken und um ihretwillen das Angebot annehmen müssen? Er fühlt sich schuldig. »Hättest du gerne fort wollen, Karola?« Sie wischt die Frage mit einer Gebärde fort. »Auf mich kommt es doch nicht an. Ich bleibe, wo du auch bleibst. Ich ... ich habe ja auch keine Wahl ...« Leo Flamm verteidigt sich: »Ich wäre auch nicht ohne dich gegangen.« – »Ich glaube dir ja. Aber warum bist du nicht gegangen? Was willst du noch hier?«

Es ist eine dringliche Frage. Sie ist so unvermutet, dass er keine Antwort weiss und dass er folglich verletzt ist. »Nimmst du an, ich würde in einer solchen Situation einfach davonlaufen?« – »Wem davon laufen? Mir?« – »Nein, den Menschen hier. Monate teilt man das gleiche Schicksal, und dann soll ich sie im Stich lassen?« Karola schüttelt den Kopf: »Schau, du hast viel für sie getan ...« – »Ich spreche nicht davon ...« – »... und du hast dich sehr um sie bemüht. Warum willst du jetzt noch bleiben? Nur aus Tapferkeit? Nur weil man das nicht verstehen könnte?« – »Man könnte nicht verstehen? Wer? Ich muss dir sagen: ich verstehe dich nicht. Sag mir deutlich heraus: warum soll ich weggehen?«

Karola wendet den Kopf zur Seite, als wolle sie seinem Blick ausweichen. Aber sie sagt klar und betont: »Weil du ja längst von ihnen weggegangen bist.«

Er wird blass. Er legt die Hand auf den Mund, vor Erstaunen, vor Unruhe, vor Ärger. »Ich bin weggelaufen ...?« Er bricht ab. Es dämmert ihm auf, dass sie an etwas gerührt hat, das er sich nicht zugeben will. Aber ehe er noch etwas sagen kann, kommt ein Gewirre von Stimmen vom Ufer her. Er sieht auf. Sie stehen in dichten Reihen am Rande des Wassers zusammen gedrängt. Sie greifen mit den Händen über das Meer. Sie haben das Rettungsboot entdeckt, das da mit dem Kapitän und der Mannschaft abfährt. Aus ihrem Geschrei klingt es, als seien sie eben erst gestrandet und als hätte man sie eben jetzt schutzlos und hülflos auf einem Felsenriff zurückgelassen. Sie brüllen und winken hinter dem Segel her, aber es entfernt sich in gleichmässiger Fahrt.

Leo Flamm sieht ärgerlich zu ihnen hinüber und knurrt: »Sind die verrückt geworden? Wozu brüllen sie so?«

Nun kommen die ersten über den Steg und durch das seichte Wasser zum Schiff gelaufen. »Flamm! Herr Flamm!« Sie stehen unten und er beugt sich oben über die Reeling, gereizt, unfreundlich. »Na, was ist los?« – »Die Mannschaft fährt doch weg! Der Kapitän ist weg!« Flamm äfft ihnen beinahe nach. »Ja, die Mannschaft ist weg! Das wussten Sie doch schon vorher. Das hat Ihnen der Kapitän doch schon gestern gesagt!« Sie schreien weiter, gereizter, eigensinniger. »Sie haben ein Boot mitgenommen!« Jetzt höhnt Flamm: »Schwimmen konnten sie nicht!« – »Sie sind an Bord gewesen. Sie hätten das verhindern müssen« – »Was?« – »Dass sie das letzte Rettungsboot nehmen.« – »Im Gegenteil. Ich habe es ihnen gegeben!«

Ein Wellenschlag der Entrüstung: »Wie kommen Sie dazu? Wer hat Ihnen das erlaubt?« Jetzt schreit auch Flamm. »Ich mir selbst. Ich habe euch das Motorboot dafür gerettet! Ihr solltet Dankeschön sagen, statt zu brüllen.« Ein Getobe schlägt zum Deck hinauf: »Die haben hier nichts zu entscheiden. Sie haben uns zu fragen ... Immer das grosse Wort führen! ... Immer den Vormund spielen ...«

Flamm ist brennend rot im Gesicht. Er streckt den Arm weit vor, wie mit der Gebärde eines Redners: »Habt ihr gesehen, wie die Mannschaft das Boot genommen hat?« – »Ja. Ich! Ich auch!« – »Gut. Und warum habt ihr es nicht verhindert? Dreihundert gegen ein Dutzend? Immer noch zu feige? Diesesmal habt ihr die Revolver doch gehabt! Ihr braucht immer Sündenböcke und Leute, die euch aus den Dreck ziehen! Ihr ... Flüchtlinge! ...«

Zwei Mann sind an den hängenden Seilen an Deck geklettert und schleichen rücklings gegen Flamm an. Da schreit Karola auf: »Nimm dich in Acht! Es sind Mörder hinter dir!« – Flamm schiesst herum. Jetzt ist er totenblass. Er greift nach einer Eisenstange, die im Boot liegt. Seine Zähne sind verbissen. »Dieses Gesindel!«

Da tönt ein lautes, schauriges, lang gezogenes ›Oh‹ durch den Lärm, und darnach ein Schluchzen wie ein Aufschrei, der den Himmel sprengt. Die Menschen zucken erschreckt zusammen. Und sie sehen: es ist Dr. Fels, der am Ufer steht und die Hände vor das Gesicht hält und laut, hemmungslos, nervenzerreisend weint. »Mein Gott, diese Schande ... diese Schande! Menschen aus einem Blut ... Menschen aus einer Not ... Was haben wir gesündigt, dass wir so tief gesunken sind ...«

Sie wenden die Köpfe zur Seite. Sie verflechten verlegen die Hände. Flamm lässt die Eisenstange fallen. Die beiden Männer an Bord schleichen mit roten Köpfen davon. Die junge Frau, deren Kind Fels ans Licht der Welt gebracht hat, geht zu ihm und legt die Arme um ihn. Sie zieht seinen Kopf auf ihre Schulter und tröstet ihn ...

Die Ruhe tritt wieder ein. Es ist die Ruhe der Erschöpfung nach einem Ausbruch aus Ratlosigkeit und innerer Verlorenheit. Aber es bleibt eine Trennung zurück, die für den Rest der Fahrt nicht mehr überbrückt werden kann. Wie die Nacht hereinbricht, bleiben Leo Flamm und Karola auf dem Schiff. Auch Dr. Fels ist zu ihnen gekommen. Er hat den Chok dieses Ausbruches noch nicht überwunden. Es kommen auch einige andere, die jäh zur Besinnung gekommen sind. Alle übrigen legen sich am Strande schlafen. Bei ihnen ist auch Baermann. Er sagt zu Flamm – und es ist laut genug, dass die anderen ihn verstehen können: »Ich bleibe nur hier, weil ich für die Ordnung sorgen will. Es ist kein Verrat an Ihnen, Flamm.«

Die ganze Nacht über sitzt Flamm auf der Bank des Bootes, das er für die anderen gerettet hat, den Kopf in die Hände vergraben, tief nachdenklich und tief innerlich zerrüttet. Er ist immer noch erschrocken über das Mass von Zorn und Verachtung, mit dem er Menschen bekämpft hat, für die er sich einmal in seinem Herzen verschworen hat. Er sucht nicht nach Schuld, aber er sucht nach Gründen, und er sucht darnach, ob sie in ihm liegen oder in den anderen.

Ihm zu Füssen, auf Decken, die über den Fussboden gebreitet sind, liegt Karola. Sie schläft. Es ist gut, dass sie schläft. Er könnte jetzt nicht mit ihr sprechen. Zum ersten male, seit sie in den langen Wochen neben einander sind, ist ein neuer Mensch aus ihr herausgetreten, hat eine Weisheit des Gefühls aus ihr gesprochen, die ihn stumm gemacht hat. Er ist verstummt, weil sie unvermutet die Sicherheit seiner Überzeugung angetastet hat. Und diese Überzeugung ist, dass er diesen Menschen gegenüber ein Recht hat, weil er etwas für ihr Wohl und ihr Bestes gewollt hat.

Er hätte bedenken sollen, was Karola ihm einmal sagte: »Wenn du nicht schläfst schlafe ich auch nicht. Ich kann nichts dafür«. Denn plötzlich, in dieses Schweigen voll Zweifel und Selbstrechtfertigung hinein, sagt sie leise: »Du bist enttäuscht. Aber das ist deine Schuld. Du hast etwas in die Menschen hineingesehen, was sie nicht sind. Weil sie es nicht sein können. Sie haben ja noch keinen Boden unter den Füssen ...«

Er antwortet nicht. Er müht sich, ein strenger Richter seiner selbst zu sein: ist das wahr oder ist das nicht wahr? Es ist wahr. Aber es trifft doch nicht das Zentrum der Dinge. Er war doch bereit, für sie da zu sein und ihnen Gutes zu tun trotz aller ihrer Schwächen, trotz all der kleinen Unzulänglichkeiten, die aus der Wurzellosigkeit kommen. Aber es hat sich ja gezeigt, dass sie bereit sind, ihn fallen zu lassen, ihn zu verraten ...

Und auch darauf antwortet Karola, als hätte er sie ausdrücklich gefragt: »Du fühlst dich allein, und du möchtest zu Menschen gehören. Aber sie sind gewohnt, immer nur mit sich alleine zu gehen. Sie können noch nicht mit Anderen zusammen gehen. Es ist nicht ihre Schuld ...«

Er nimmt auch das ohne Antwort entgegen. Es mag falsch oder richtig sein: die Reise war vergebens, wenn er von ihr erhoff hat, dass er zu Menschen von gleichem Schicksal finden würde. Also muss diese Reise ihre Erfahrungen an ihn angeben, aber für den Rest muss sie ausgestrichen werden. Unglückliche reisen immer alleine. Und er selbst?

Von dem feinen Instinkt getrieben, den er in diesen Stunden beinahe fürchten lernt, richtet Karola sich halb auf, streichelt seine Hand und sagt: »Du musst dir deinen Weg alleine suchen ...«

Es ist noch ganz früher Morgen, mit Dunst über dem Wasser und einem kühlen Wind, der über die Insel streicht, wie plötzlich das Klopfen eines Bootsmotors von irgendwo hörbar wird. Karola hört es zuerst, weil sie wach geblieben war. Sie rüttelt Flamm, der auf der Bank liegt, das Gesicht mit den Armen verdeckt. Er ist übernächtig und verstört. Karola nimmt seinen Kopf in die Arme. »Hörst du etwas?« – »Was?« – »Es ist irgendwo ein Motorschiff in der Nähe.« Flamm horcht angestrengt. Für einen Moment kommt wieder der wache, gespannte Ausdruck in seine Züge. Dann lässt die Spannung wieder nach. »Ja. Es scheint ein Schiff zu sein.« Und damit legt er sich wieder auf die Bank zurück. Karola schüttelt erstaunt den Kopf »Willst du denn nicht ...?« Er schneidet ihr verdrossen das Wort ab: »Nein. Ich will nicht. Ich habe hier kein Amt mehr.«

Da geht Karola an den Bug des Schiffes und will Baermann Nachricht zurufen. Aber drüben an Land hat man das Geräusch auch schon gehört. Sie forschen nach allen Richtungen. Vielleicht müsste man eine weisse Fahne aufrichten, ein Notsignal, oder ein Feuer anzünden, das Hülfe für Schiffbrüchige herbeiruft. Aber das wird ihnen erspart. Aus dem Dunst, von der aufgehenden Sonne wie ein Bild in den Nebel gestellt, taucht ganz nahe ein breites, ungefüges, dunkles Boot auf. Es fährt in gerader Richtung auf das gestrandete Schiff zu. Vorne im Boot steht ein Mann, breitschultrig, untersetzt. Er hat eine graue Mütze tief in die Stirne gezogen. Die rechte Hand beschattet die Augen. Wie das Boot die Fahrt vermindert und sich langsam herantastet, ist kein Zweifel mehr: der Besuch gilt ihnen.

Aber sie sind ratlos, denn sie wissen nicht: ist es zum Guten oder zum Bösen was da kommt? Vielleicht will man sie retten. Vielleicht wird man ihnen sagen, was man ihnen vor Cypern gesagt hat: weiter fahren! Jetzt müssten sie jemanden haben, der für sie denkt und spricht und handelt. Fast gewohnheitsmässig wenden sie sich zu dem gestrandetem Schiff. Wo ist Flamm? Flamm ist nicht zu sehen. Wieso ...? Ach ja: das, was gestern geschehen ist, steht zwischen ihnen. Nun, dann, muss Baermann vortreten. Aber Baermann schaut sie von unten her nachdenklich an. Dann sagt er: »Man muss Flamm verständigen ...« Es ihnen nicht recht, aber wenn Baermann es tut, haben sie selber sich nichts vergeben.

Jetzt schwingt das Motorboot langsam herum und liegt fast neben der Emma still. Es sind fünf, sechs Menschen darauf, aber keiner macht den Eindruck, als vertrete er die Polizei. Alle sind aufgestanden und staunen das Schiff, die Menschen, die Bündelhaufen an Land mit offenen Augen an. Der Mann, der vorne im Boot steht, greift eines der herabhängenden Seile und klettert mit der Behendigkeit einer Katze auf das Schiff. Er hat schmale, graue Augen, in denen ein harter Glanz wie von Stahl ist. Die Backenknochen in seinem Gesicht treten stark hervor.

Auch Baermann ist auf das Schiff geeilt. Er tritt schweigend und vorsichtig dem Gast entgegen. Der spricht ihn mit einem harten Deutsch an: »Zwi ist mein Name.« Baermann verbeugt sich, als erfülle er eine gesellschaftliche Pflicht: »Baermann, Kultusbeamter a. D.« Zwi lächelt. »Kultusbeamter? Sehr schön. In Palästina wartet man schon auf Kultusbeamte.« Dann wird er ernst und sachlich. »Wir haben von jüdischen Fischern Nachricht bekommen, dass Sie unterwegs seien. Aber dann haben wir Ihre Spur verloren. Erst gestern hat uns der Kapitän der Emma verständigt ...«

Baermann atmet auf. Das klingt wie Hülfe und nicht wie Gefahr. Aber aus den letzten Erfahrungen ist ein schweres Misstrauen in ihm zurückgeblieben. »Einen Augenblick. Ich möchte, dass Sie mit Herrn Flamm sprechen.« Er sucht über das Deck und ruft: »Flamm! Herr Flamm!«, und kann ihn nirgends entdecken.

Karola läuft zum Motorboot. »Lieber, man ruft dich!« Flamm sitzt auf dem Boden, die Arme über die Knie geschlungen, das Gesicht eine Maske von Verdrossenheit und Abweisung. »Man ruft mich nicht« sagt er und starrt vor sich hin. Und wieder ist Karola stärker als er. »Möglich. Aber man braucht dich.«

Ohne ein Wort zu sagen, steht er auf und klettert schwerfällig über den Bootsrand. Mit ungelenken, zögernden Schritten geht er auf Zwi zu und stellt sich vor ihn hin, Ablehnung und Zurückhaltung in jeder Miene. »Ja, bitte?« sagt er feindselig.

Zwi prüft ihn mit einem langen, klaren Blick. Leo Flamm fühlt sich nicht wohl dabei. Zwi sagt: »Herr Baermann hat gewünscht, dass ich mit Ihnen spreche. Zwi heisse ich. Da unten im Boot sitzen die Vertreter des Hülfsvereins der griechischen Juden. Ich selbst bin hier als Vertreter der Nationalen Vereinigung ...«

Da wacht Flamm aus seiner Starre und Zurückhaltung auf. Seine Stirne legt sich in böse Falten. »Nationale Vereinigung? Gut, dass Sie das gleich zu Anfang sagen ...« Zwi sieht ihn erstaunt an. »Stört Sie etwas dabei? Vielleicht vermuten Sie etwas Politisches? Keine Angst. Wir sind eine kulturelle Vereinigung ...«

Flamm lacht ihm laut ins Gesicht. »Mit dieser Kultur haben wir schon unsere Erfahrungen gemacht. Wir sind garnicht versessen darauf, noch mehr zu machen.«

Zwi senkt die Hände tiefer in die Hosentaschen. »Möchten Sie mir sagen, was für Erfahrungen das sind?« Flamm sieht ihn höhnisch an. »Ihr Herr Jakob ist uns Erfahrung genug. Und der Name wird Ihnen ja auch genug sagen.« – Zwi bleibt unerschüttert: »Der Name sagt mir garnichts. Was für einen Jakob meinen Sie?« – »Den Jakob aus Rotterdam. Ist das jetzt klar?« – Zwi wippt auf den Zehenspitzen. »Leider noch nicht. Aber der Herr Jakob interessiert mich. Kann ich ihn einmal sehen?« – »Warum?« – »Weil es in der Nationalen Vereinigung keinen Jakob aus Rotterdam gibt. Darum! Haben Sie jetzt verstanden?«

Es hat sich um die Beiden inzwischen eine Schar von Menschen angesammelt. Sie haben schweigsam und verbissen zugehört. Jetzt springen vier, fünf zugleich zur Treppe hin. Man hört sie über die Stufen poltern. Dann kracht und splittert Holz. Ein kurzes Geschrei und Getöse. Dann wieder ein Schieben und Poltern auf der Treppe. Sie haben den Jakob aus seinem vernagelten Verliess geholt. Sie schleppen ihn, der sich wütend sträubt, über die Planken. Dann reissen sie ihn hoch. Aber er hält verbissen und wütend den Kopf tief gesenkt, dass man ihn nicht sehen kann.

In Zwi ist eine merkwürdige Verwandlung vor sich gegangen. Er nimmt die Hände aus den Hosentaschen und tritt langsam, mit federnden Schritten an Jakob heran. Er fährt ihm plötzlich in die Haare und reisst seinen Kopf mit einem scharfen Ruck hoch. Jakob sieht das schwere Gesicht dicht vor seinen Augen und wird kreidebleich. Zwi steht wie überwältigt da, wie gebannt von dem Anblick dieses blassen Gesichts. Dann schiesst ihm eine rote Lohe in die Stirne. Für eine Sekunde schliesst er die Augen. Dann öffnet er sie und es schiesst ein wilder, höhnischer Triumph heraus. Er hält immer noch die Faust in Jakobs Haaren. Und er lacht, tief befriedigt, aber mit einem gefährlichen Unterton. Seine Stimme kommt ganz tief aus der Kehle: »So, da haben wir dich endlich ... endlich. So, das tut gut ... Mein Gott, wie ich dich verachte! ...« Er beugt sich vor und speit ihm ins Gesicht.

Jakobs Mund hängt vor Angst offen. Er stammelt: »Was hab ich dir getan ...« Aber Zwi hat sich schon von ihm abgewandt. Er nickt Flamm zu: »Wie gesagt: er hat nichts mit uns zu tun. Aber sonst ein lieber, alter Bekannter. Agent der Gestapo!«

Alle sind plötzlich verstummt. Wie befreiend wäre es jetzt, sich auf ihn zu stürzen und ihn in Stücke zu reissen! Aber die Furcht von ehegestern steckt ihnen noch geheimnisvoll in den Knochen. Flamm tritt an ihn heran und schüttelt den Kopf: »Das verstehe ich nicht. Ein Jude soll sein eigenes Fleisch und Blut verkaufen?« Jakob stammelt: »Die Not ... die Not ...«

Zwi fährt dazwischen: »Wir haben jetzt keine Zeit für dieses Stück Elend. Schaffen Sie ihn in unser Boot. Wir werden uns schon mit ihm … unterhalten. Wir haben jetzt dringendere Dinge zu tun. Ich setze voraus, dass Sie alles, was wir anordnen werden, gutheissen und ausführen. Einverstanden?« Keine Antwort. Zwi wird ungeduldig. »Wer vertritt Sie? Wer ist berechtigt, für Sie ja oder nein zu sagen?« Jetzt wird ihnen eine Entscheidung abgezwungen. Sie fällt so, wie trotzige Kinder etwas Böses zugeben, das sie getan haben: »Flamm. Leo Flamm.«

Flamm atmet bedrückt auf. »Nun ja. Tun Sie, was Sie für recht halten. Und tun Sie es schnell. Diese Fahrt muss ein Ende haben. Für alle.«

Zwei Männer aus dem schwarzen Motorboot sind in den Kiel des Schiffes hinabgestiegen und berichten jetzt: ein ganz kleines Leck. Das Schiff kann noch fahren, wenn ein par Mann ständig an den Pumpen stehen. Und es vom Riff abzuschleppen, ist nicht schwer. Aber der Kohlenvorrat ist erschöpft. Und die Magazine sind fast leer.

»Das ganze ist also eine Geldfrage« sagt Zwi. Er ruft zu einem kleinen dunklen Manne im Boot herunter: »Simone, was kostet alles zusammen?« Simone macht eine schnelle Rechnung. »Alles in allem mit Mannschaft an Bord ... 800 Pfund.« – »Wieviel haben wir?« – »Dreihundert.« – »Und woher kommt der Rest?« – Da sagt Karola: »Aus der braunen Handtasche, die Jakob in seiner Kabine hat.« Zwi lacht laut auf: »Jetzt habt ihr ihn in der Seele getroffen. Jetzt erst ist er besiegt!«

Nach zwei Tagen, die wie in Traum und Fieber vergehen, ist die Emma bereit, ihre letzte, ihre allerletzte Fahrt anzutreten. Aber in all der Zeit ist mit keinem Wort vom Ziel der Reise gesprochen worden. Zwi ist in seinen Befehlen und Anordnungen so absolut und bestimmt, dass man die Frage fürchtet. Denn was wird sein wenn er sagt: Türkei? Oder Jugoslawien? Sie hätten es hinzunehmen. Aber jetzt muss gefragt werden: wohin?, und was wird sein? Zwi antwortet: »Dahin wohin ihr gehört. Ihr werdet dort stranden, versteht ihr? Ihr werdet Schiffbrüchige sein. Und mit Schiffbrüchigen wird man menschlich verfahren.« – »Und was wird dann sein?« – »Ich weiss nicht. Man wird euch eine zeitlang einsperren, bis man herausgefunden hat, ob noch mehr Jakobs unter euch sind. Und dann wird man euch laufen lassen. Und ihr müsst schauen, was ihr mit dem Leben drüben anfangt.«

Sein Abschied ist eben so kurz und sachlich. Nur wie Baermann ihn fragt: »Dürfen wir Ihnen von drüben aus schreiben? Wollen Sie uns sagen, wo Sie wohnen?« da verlässt ihn seine Sachlichkeit für einen Augenblick. Seine Augen bekommen einen stolzen Glanz: »Ich wohne überall, wo ich gebraucht werde. Ich habe keine Adresse.«

Das plumpe, schwarze Motorschiff fährt ab. Es hat eine vermehrte Besatzung: Jakob und die blonde Else fahren mit. Und dann beginnt auch die Emma wieder in ihrem erschütterten Bau zu zittern, als schaudere sie vor dieser letzten Berührung mit dem Wasser zurück. Die Menschen winken noch zum Boot der Retter hinüber, solange der Umriss zu sehen ist. Dann sind sie sich selber überlassen.

Es ist eine Fahrt voll Spannung, aber ohne Ereignisse. Immer stehen vier Mann an den Pumpen, um das Wasser im Kiel auf der gleichen Höhe zu halten. Es gibt nicht viel zu essen, aber das ist für die kurze Zeit, für die letzte Zeit nicht mehr so wichtig. Das Warten und das Wachsein sind wichtiger. Und das Schweigen. Denn es herrscht Schweigen an Bord, zum ersten male in den langen Wochen der Fahrt. Denn zum ersten male ist aus dem Vielen, das ihnen geschehen ist, das Nachdenken über sie gekommen. Jetzt, da die Zeit der Flucht zuende geht, möchten sie fragen: was eigentlich hat sie uns eingebracht? Aber Antworten kommen nicht zustande. Nur Schweigen. Und dazu das bedrückende Gefühl: von dem letzten grossen Ausbruch ist noch nichts ausgeglichen, Flamm bleibt immer noch von ihnen getrennt.

Leo Flamm hat mit schweigendem Beharren seinen Aufenthalt im Motorboot genommen. Er hat seine Matratze und seine Decken auf den Boden geworfen und liegt dort. Er schläft auch des Nachts dort. Er tut es nicht aus Feindseligkeit. Er hasst die Menschen nicht. Er trägt ihnen nicht einmal etwas nach. Alles, was er in diesem Augenblick weiss, ist, dass er selber einen Weg verfehlt hat und dass die grosse, erregte Hoffnung des Anfangs zuschanden geworden ist. Früher hat er zu niemandem gehört, und jetzt gehört er zu niemandem. Etwas ist verfehlt worden: der Weg zu den Menschen.

Er sitzt nächtlich da und staunt darüber. Er fragt – es ist eine Frage in die Luft hinein, auf die er keine Antwort erwartet: »Aber wie kommt man zu Menschen?« Da sagt Karola – ach, wenn Karola doch schlafen würde, wenn er wach ist und mit seinen Gedanken kämpft – da sagt sie ebenso still: »Indem man erst den Weg zu einem Menschen findet ...«

Für den Rest der Nacht schweigt er. Ein abgründiges Staunen füllt ihn ganz aus. Er windet sich wie unter einem Netz, das über ihm liegt. Er will eine Frage stellen, aber die Scham hindert ihn daran. Erst wie es wieder Abend wird, in das Zwielicht hinein, fragt er verschüchtert: »Habe ich denn nicht den Weg zu einem Menschen gefunden ...? Zu dir ...?« Karola antwortet nicht. »Sag!« drängt er. Da schüttelt sie leise den Kopf: »Noch nicht ...«

Mehr wird darüber nicht gesprochen. Wenn das die Wahrheit ist – und er spürt dass es die Wahrheit ist – dann bleibt ihm nichts, als seinen letzten Entschluss zu fassen. Und er bekennt sich zu ihm.

Wie es wieder, zum dritten male, Abend wird, taucht verdämmert ein Streifen Küste auf. Aber es kann auch eine tief am Horizont liegende Wolkenbank sein. Aber einer der Matrosen weiss, dass es die Küste ist. Die Küste des Heiligen Landes? Noch nicht. Aber bald wird sie in Sicht kommen. Da, seht ihr dort unten den hellen Fleck? Den Fleck, der aussieht wie eine hellrosa Wolke? Das ist Ras en Nakura, der weisse Felsen, hinter dem euer Land von morgen beginnt.

Gespensterhaft im Abendlicht erheben sich die Menschen und saugen den weissen Felsen mit den Blicken ein. Leo Flamm hat sich aufgerichtet. Er sieht sie von seinem erhöhten Platz aus. In dieser Bewegung der Körper, der Köpfe, in dieser einheitlichen Neigung zur Küste hin sind sie doch wieder eine Einheit geworden ...

Der weisse Fleck kommt näher. Aber zugleich versinkt er im fallenden Abend. Es geht eine rote Lohe über den Himmel. Sie zerfällt zu einer grünen Fläche. Über dem Lande dunkelt es bläulich. Das Blau steigt von der Erde auf, nimmt den letzten Schimmer Licht davon weg und heftet sich an den Himmel. Das Land ist nicht mehr da. Sie stehen stumm wie enttäuschte Kinder.

Sie fahren in das blaue Dunkel hinein, in eine grenzenlose Ungewissheit. Der Nachtwind lässt sie schaudern. Jetzt taucht, schlagartig, wie hinter einem aufgerissenen Vorhang her, eine Kette von Lichtern auf. Ein Aufstöhnen geht durch die Menschen. Licht ist menschliche Wohnung und menschliche Nähe. Hoch über der Lichtkette steht ein grösseres, stärkeres Licht. Es zittert und tastet um sich, wirft nach rechts und links breite Garben von Helligkeit. Es wendet sich, streift über das Meer im schnellen Schwung und sucht wieder das Land ab. In der Sekunde, wie das Licht über das Meer schnellte, haben sich alle, dem Instinkt gehorchend, zu Boden gedrückt. Als könnten sie damit das Schiff unsichtbar machen. Kommt jetzt wieder, wie damals, hinter dem Scheinwerfer her das Tack-tack? Die Angst würgt sie.

Plötzlich wendet sich der Scheinwerfer gross und suchend, tastet sich langsam über das Meer und liegt eine Weile breit, nachdenklich, aufmerksam über dem Schiff. Sie blinzeln in die Grelle hinein und schliessen die Augen. Wie sie sie öffnen, ist plötzlich die ganze Lichtkette verschwunden. Das Land ist nicht mehr zu sehen. Eine bange Stille der Erwartung. Was ist geschehen? Was wird geschehen? Das Schiff fährt langsam weiter. Es fährt so lange, dass sie glauben, sie müssten schon längst an Land gelaufen sein. Dunkel und Erwartung rauben ihnen jeden Maasstab.

»Achtung!« ruft ein Matrose eindringlich. »Festhalten! Nicht erschrecken!« Sie klammern sich an den nächsten Gegenstand, und wenn sie keinen ertasten, klammern sie sich an einander oder an ein loses Bündel. Dann hören sie ein breites Schleifen, ein schlürfendes, saugendes Geräusch. Ein Ruck erschüttert sie. Es scheint als ob sie nicht mehr fahren. Aber es ist in diesem Dunkel nichts zu erkennen.

Dann packt der Scheinwerfer sie wieder, und in seinem Licht sehen sie, dass in einem Boot Menschen in Uniform sich dem Schiffe nähern. Jetzt muss die letzte Entscheidung fallen. Sie fällt viel schneller, als sie es sich erträumt haben. Die Untersuchung ist kurz und gründlich: ja, es ist ein Leck im Schiff, Ja, das Wasser steht sechs Fuss hoch im Kielraum. Ja, es sind Schiffbrüchige, denen man die Landung gestatten muss. Über alles andere wird die Regierung entscheiden.

Das Ausbooten der Schiffbrüchigen beginnt sofort. Es hat den Anschein, als sei ihre Ankunft nicht unvermutet erfolgt, denn es ist alles vorbereitet. Am Strand sieht man neben hellen Windlichtern Autobusse stehen. Es kommen junge Menschen an Bord, die Thee und Brot verteilen. Es hat alles die Angst und Bedrängnis verloren. Es ist alles heiter geworden, als sei ein Gestern mit aller Last und Schwere versunken, und morgen wird nichts sein als Sonne und Heiterkeit und Ruhe.

Die Frauen und Kinder werden zuerst an Land gebracht. Leo Flamm hat Karola geholfen, ihren kleinen braunen Koffer zu ordnen. Ganz heimlich hat er zwischen die Wäschestücke ein Päckchen Geldscheine gelegt. Er gibt ihr die Hand. »Sei vorsichtig beim Aussteigen. Wir sehen uns später.« »Ja« sagt Karola.

Inzwischen ordnet er sein eigenes Bündel. Er hält es so klein wie möglich. Dann lässt er sich vorsichtig über den Rand des Motorbootes gleiten. Er schmiegt sich eng in die schmale Höhlung, die zwischen dem Deck des Schiffes und dem Kiel des Bootes übrig bleibt. Dann zieht er eine Rolle Tauwerk heran und drückt sie fest unter den Rumpf des Bootes, damit sie sein Versteck noch sicherer macht.

Er liegt regungslos da und horcht. Jetzt werden die Männer ausgebootet. Zuletzt verlassen die Matrosen das Schiff. Jemand ruft: »Ist alles von Bord?« Schwere Stiefel gehen über das Deck. Man sucht mit Taschenlampen die Winkel ab. Aber man findet niemanden. Wer wird auch so töricht sein, zurückzubleiben, wenn vor ihm das Land gastlich seine Tore öffnet?

Das letzte Boot fährt davon. An Land die Autobusse setzen sich einer nach dem anderen dröhnend in Bewegung. Die Lichter in den Häusern erlöschen. Auch der Scheinwerfer stirbt. Der Himmel steht voller Sterne, hoch und gleichmütig. Leo Flamm richtet sich aus seinem Versteck auf. Er sieht in die Nacht hinein, in eine Nacht, die ihm nicht gehört. Aber morgen wird ein Tag sein, der noch niemandem gehört. Er kann ihm gehören ... wenn er noch einmal den Weg geht, auf dem er gestrauchelt is ...

 

Ende des ersten Teils.

 


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