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III.

Leo Flamm ist wieder in der Stadt. Sie ist ihm jetzt schon sehr bekannt, obgleich er immer noch vor ihrem Lärm zurückschreckt. Für die erste Nacht sucht er sich ein Unterkommen in einer kleinen Pension. Er verlässt sie früh am nächsten Morgen, denn er will nicht wieder in diesen Strom von Vertraulichkeit und Geschäftigkeit hinein geraten. Er hat in der Nacht, als die ausdünstende Wärme der Häuser und das Gesumme der Moskitos ihn nicht schlafen liessen, einen Feldzugsplan für die nächste Zeit ausgedacht. Von wenigen zufälligen Menschen abgesehen, kennt er in diesem Lande Niemanden. Er kann also zu Niemandem sagen: Hilf mir. Er muss für sich selber sorgen. Und er muss es so tun, wie alle anderen: mit dem einen einzigen Gedanken an den Erwerb.

Er hat zwei Möglichkeiten. Er ist ein guter Chemiker, und er versteht viel von Tischlerei und der Technik des Bootsbaus. Also wird das eine oder das andere ihn ernähren müssen. Er stellt diese Frage energisch in den Vordergrund: das tägliche Brot verdienen, und es reichlich verdienen. Der Reiz der Armut ist eine Erfindung von Schwächlingen. Armut ist unproduktiv. Solche und ähnliche Maximen produziert er in dieser schlaflosen Nacht in Mengen. Sie dienen ihm dazu, seinen Entschluss zu bestärken, dass man das Leben zunächst einmal in seinem materiellen Quantum meistern muss. Das haben selbst die im Auge gehabt, die ihm phantastische Pläne vorgelegt haben. Aber sie waren alle Phantasten nur in der Idee. In der Praxis, in dem, was sie damit erreichen wollten, waren sie alle ganz unsentimental. Und Leo Flamm will auch unsentimental sein. Er will ein Mensch der Wirklichkeit werden, und hätte er nicht Furcht gehabt, sich vor sich selber lächerlich zu machen: er hätte sich in dieser Nacht zum historischen Materialismus bekannt.

Aber im Untergrunde seines Wesens hockt etwas ganz anderes, und er spürt nicht, dass alle seine Entschlossenheit ihm nur dazu dienen muss, dieses Ändere zu verschleiern. Dieses Andere ist eine brennende Neugierde auf die Menschen dieses Landes. Von vielen Völkern der Welt hat er ein klares Bild: das ist ihre Sprache, jenes ist ihre Kultur, so sieht ihr Land aus und das ist der Typus des Menschen. Er liebt den Schweizer, weil er so zuverlässig ist; aber er findet ihn über die Massen langweilig. Er lehnt den Engländer als Einzelnen heftig ab, aber er lässt sich zuweilen von der Haltung der Gesamtheit imponieren. Den Russen liebt er, obgleich er ihn nie ganz versteht. Aber von den Menschen dieses Landes hat er weder ein Bild noch eine Vorstellung. Dass sie aus hundert verschiedenen Strömen weltweiter Zerstreuung hereingeflossen sind, weiss er. Aber zu welcher Form und Gestalt sie sich wandelten, als sie auf einander stiessen, als sie in den Boden dieses Erblandes eindrangen: das weiss er nicht. Und das zu wissen, brennt in ihm. Aus einer Welt entlaufen, in der die Masse gilt, sehnt er sich nach einer Welt, in der der Mensch gilt. Und sagen nicht die Sprachrohre dieses Volkes von ihm aus, es sei ein Hort des Menschen und der Menschlichkeit?

Am andern Morgen begibt er sich auf die Suche nach einer Wohnung. Er sucht die Strassen ab, aber nicht so sehr nach dem Schildern, die dem Mieter alle Bequemlichkeiten der Welt versprechen, als nach ihrer Lage, ihrer Stimmung, ihrer Ruhe und Schönheit. Aber er merkt sehr bald, dass das ein Luxus ist, den er aus Europa mit sich herüber geschleppt hat. Hier unterscheiden sich die Strassen im Stil, in ihrem inneren Gehabe, wenig von einander. Sie sind zumeist moderne, ausdrucksarme Schablonen. Hier hat kein Volk gebaut. Hier gibt es keine Tradition. Hier haben europäische Architekten ihre Schulkenntnisse angewendet. Und dann findet er heraus, dass auch die Räume selbst im wesentlichen gleich sind. Also lohnt es die Mühe der Auswahl nicht, und das Zimmer mit Balkon, im zweiten Stock bei Frau Simson, genügt seinen Ansprüchen. Es hätte eben so gut das Zimmer bei Frau Olmanowicz sein können.

Aber in Wirklichkeit hätte es nicht das Zimmer bei Frau Olmanowicz sein können. Leo Flamm unterliegt einer Selbsttäuschung, wenn er daran glaubt, dass er allen Menschen im Lande mit gleicher Voraussetzungslosigkeit begegne. Ohne dass er es klar weiss, mutet der östliche Jargon der Frau Olmanowicz ihn fremd an, und ohne es klar zu wissen, klingt ihm die Sprache der Frau Simson sehr vertraut. Denn es ist die Sprache seines Herkommens, und vor diesem Gefühl zerbricht alle Objektivität. Und es ist klar, dass auch Frau Simson nicht objektiv ist. Es sieht aus als habe sie entschlossen darauf verzichtet. Aber vielleicht hat sie sie nie besessen. Sie pflanzt sich in aller stattlichen Fülle vor Leo Flamm auf. »Ich nehme nur Landsleute von mir in die Wohnung. Mit den Anderen verstehe ich mich nicht. Russen, Polen, Rumänen, Ungarn, Litauer, Czechen: um Gotteswillen, was soll ich damit? Nette, liebe Leute, aber Art soll bei Art bleiben.« Leo Flamm ist beinahe belustigt: »Und das soll in aller Ewigkeit so weiter gehen?« Frau Simson sagt: »Für die Kinder nicht. Die mischen sich schon auf der Schulbank.« – »Und was glauben Sie, wird daraus?« – »Ein Brei« antwortet Frau Simson entschlossen.

Vom ersten Tage an merkt Flamm, dass er hier wieder in die Atmosphäre einer Familie hineingeraten ist. Er wäre davor geflohen, wenn er nicht verspürt hätte, dass Frau Simson es gut mit ihm meint. Sie hat einen vehementen Drang zu Mütterlichkeit und Häuslichkeit, zur Ordnung und zur Organisation. Sie fragt, wie die Menschen in der Pension, alles aus ihm heraus. Aber, sie tut es nicht wie die anderen: um für sich etwas zu profitieren. Sie kann einfach nicht an einem Menschen vorübergehen ohne ihm zu helfen, schon garnicht an einem Menschen wie diesen da, den sie heimlich für sich das Waisenkind nennt. Sie redet zuweilen zu ihm, wie man zu einem Kinde redet, das man in die Fremde schicken will. Leo Flamm gerät darüber in einen merkwürdigen Zwiespalt, der bald komisch, bald tragisch ist. Ihre Fürsorge rührt ihn, aber sie verletzt ihn, weil er doch entschlossen ist, ganz selbständig und unsentimental seinen eigenen Weg aufzubauen.

Aber Frau Simson nimmt das nicht zur Kenntnis. Sie macht Pläne für ihn. »Sie müssen sofort irgendwo eintreten, in einen Verein oder eine Partei. Es ist ganz gleich, welche. Sie sorgen alle für ihre Mitglieder, und das ist die Hauptsache. Von Weltanschauung können Sie nicht leben, junger Mann.« Leo Flamm stimmt ihr zu, denn er hat ja bei sich beschlossen, die Begründung einer Existenz über alles zu stellen. Aber er wehrt sich doch gegen diesen sachlichen, gesunden Menschenverstand mit dem Frau Simson urteilt. »Aber es gibt doch Weltanschauungen in den verschiedenen Parteien, nicht wahr?« fragt er. Frau Simson hebt die schweren Schultern. »Wahrscheinlich, denn sie beschimpfen sich gegenseitig.«

Immer wieder muss er versuchen, sich gegen sie zu behaupten. Sie sorgt für ihn wie eine Mutter. Sie behütet ihn vor allzu schnellen Entschlüssen, und er weiss, dass er ihr hätte dankbar sein sollen. Dennoch kommt er aus einer stillen Revolte nicht heraus. Sie sieht eines Tages ein Bankbuch auf seinem Tische liegen. Mit einer fast ängstlichen Bewegung legt sie es in den Schrank. »Sagen Sie niemandem, dass Sie Geld haben! Lassen Sie nichts davon merken!« Zum zweiten male begegnet ihm jetzt diese merkwürdige Warnung, und er sagt ungehalten: »Aber wir leben doch nicht in einem Raubstaat.« – »Nein« sagt sie gelassen, »aber in einem Kolonialland.«

Jetzt dämmert es Leo Flamm auf, warum er sich gegen Frau Simson wehrt: sie raubt ihm jene stillen Illusionen, mit denen er vor den Toren einer noch unbekannten Gesellschaft steht. Wenn Menschen aus den vier Winden der Welt sich in dieses Land begeben, tun sie es dann nicht, um eine bessere Welt gegen eine mindere einzutauschen? Und wenn sie gezwungen nach hier kommen, schulden sie dann dem Land nicht Dank für die Zuflucht? Und wird nicht das Beste ihres Menschentums in ihnen wachgerufen, um hier eingesetzt zu werden? Frau Simson hört ihm staunend zu. Sie hat beide Arme in die Hüften gestemmt. Ihre Augen bekommen langsam einen feuchten Glanz. Aber ihre Stimme ist barsch und männlich. »Herr, auf welchem Planeten leben Sie eigentlich? Ich habe kürzlich in der Zeitung gelesen, dass es in Brasilien eine Überproduktion von Kaffee gibt. Aber ich habe nirgends gelesen, dass es eine Überproduktion an Menschlichkeit gibt.«

Seit dem Tage herrscht zwischen ihnen Kriegszustand. Sie haben beide einen unausgesprochenen Schlachtruf. Während Frau Simson mit aller Güte und Hingebung für ihn sorgt, scheint sie zu sagen: ›Der Mensch ist böse!‹ Und während er vergeblich versucht, irgendwo eine Beschäftigung zu bekommen, während ihm hundert Angebote gemacht werden, sich an irgend etwas mit Geld zu beteiligen, während er um so schneller an den Türen abgewiesen wird, je einfacher und schlichter er sich gebärdet – scheint er doch zu sagen: ›Der Mensch ist gut!‹ Sie belauern sich gegenseitig, wer zuerst seine Niederlage zugeben muss. Aber die Wagschale neigt sich von Tag zu Tag mehr zugunsten von Frau Simson.

Er hat inzwischen alle Versuche erschöpft, als Chemiker tätig zu sein. Die kleinen Werke des Landes brauchen keine Kräfte. Und die grossen Werke, Zweige ausländischer Trusts, fragen nach seiner Staatsangehörigkeit und dann nach seiner Religion, um alsdann mit Bedauern abzulehnen. Und so entschliesst sich Leo Flamm, einen Begriff auf sich anzuwenden, den er überall mit vielem Pathos und vielem Stolz gehört hat: sich umzustellen. Er ist schon vielen Menschen begegnet, die mit verhaltener Rührung von sich aussagten, sich hätten sich in diesem Lande umgestellt. Es hat ihn nicht sehr beeindruckt, denn von den meisten hat er den Eindruck gewonnen, sie hätten unter dem Einfluss ihres Milieus von gestern nur einen unnützigen Umweg gemacht und es wäre ihnen bekömmlicher gewesen, wenn sie gleich ein nützliches Handwerkszeug betätigt hätten, statt mit Aktenbündeln in einer Kanzlei zu sitzen. Und diese Erkenntnis macht es ihm selber leicht, seinen Nebenruf zum Hauptberuf zu machen: Bootsbauer zu werden.

Bei seinen Wanderungen hat er unten in der Bucht Werften gesehen, klein und primitiv, wie ein junges Land sie hervorbringt. Aber es ist Arbeit da und es werden Fachleute gesucht. Schon der Anblick von Kielen und Spanten und Planken und Helgen lässt sein Herz klopfen. Er liebt das Meer. Er liebt Schiffe und Boote. Er liebt Seefahrer und die Fährnis der See. Aber er erfährt bald, dass es hier nicht um die Romantik der Seefahrt geht, sondern um die Sachlichkeit des Arbeitsplatzes.

Gleich in der ersten Werft ist man bereit, ihn einzustellen. Man verlangt sein Arbeitsbuch zu sehen. Aber er hat keines. Man ist bereit, sich mit der Vorzeigung der Mitgliedskarte zu begnügen. Er hat auch das nicht. Man fragt ihn erstaunt: »Sind Sie denn nicht Mitglied?« Er schüttelt den Kopf: »Ich bin nirgends Mitglied.« Der Inhaber sieht ihn verwundert an: »Aber das geht doch nicht. Sie müssen doch Mitglied der Arbeiterorganisation sein.« – »Wieso? Ist es Zwang, ihr anzugehören?« – »Gesetzlich nicht. Praktisch ja.« – »Das heisst« erwägt Flamm, »dass Sie mir keine Arbeit geben, wenn ich nicht Mitglied der Organisation bin?« – »Gewiss nicht.« – »Auch dann nicht, wenn ich zu den gleichen Bedingungen arbeite?« – »Auch dann nicht.« – »Gibt es so viel Arbeitslose in diesem Beruf?« fragt Flamm. »Im Gegenteil. Es mangelt an Fachleuten. Ich könnte Sie dringend gebrauchen. Aber ...« Leo Flamm ist schon ungeduldig. Er vollendet den Satz, da er nichts mehr zu verlieren hat: »Aber Sie haben Angst vor der Organisation?« Der Mann zuckt die Achseln: »Wie Sie es nennen wollen.«

Leo Flamm geht weiter. Frau Simson scheint recht zu haben: man muss einem Verein oder einer Partei angehören. Und je mehr er es bedenkt, desto weniger versteht er, gegen was er sich eigentlich wehrt. Warum sollte er nicht einer Organisation der Arbeiter beitreten? In der ganzen Welt gibt es solche Vereine, in denen sich Menschen der gleichen Berufe zusammen schliessen, um ihre Interessen zu schützen und um die Tradition ihres Handwerks zu pflegen. Er will auch Handwerker sein. Also muss er sich Leuten seines Handwerks anschliessen. Der Gedanke ist eigentlich erfreulich, denn dann wird er einen Ort haben, wohin er mit seinem Können und mit seinen Interessen gehört.

Er ist schon im Begriff, wieder umzukehren und dem Werftsbesitzer zu sagen: morgen werde ich in die Organisation eintreten. Aber ein kindlicher Trotz hält ihn zurück. Er will nicht dort arbeiten, wo man ihn einmal abgewiesen hat. Er hat die Auswahl. Also wird er zur zweiten Werft gehen.

Vor dem Tor der zweiten Werft stehen einige Arbeiter. Einer hält eine Stange in der Hand mit einem Schild darauf. Es trägt eine hebräische Aufschrift, die Leo Flamm nicht lesen kann. Er geht in den Werfthof und niemand hindert ihn daran. Drinnen im Hof ist es still. Die Arbeit scheint zu ruhen, obgleich zwei grosse Fischerboote halb fertig auf den Helgen liegen. Hinter einem Schuppen her kommt ein baumlanger Mensch auf ihn zu, eine hagere, sehnige Gestalt mit fanatischen Meeraugen. Er sieht ihn böse an. »Was wollen Sie hier?« Flamm lässt sich nicht abschrecken. Er glaubt an Meeraugen. »Ich suche Arbeit« sagt er einfach. Der Hüne kommt näher: »Wieso?« – Die Frage erstaunt Leo Flamm. »Wieso? Nun, ich bin Bootsbauer. Ich bin neu im Lande und brauche Arbeit. Das ist alles.«

In die Meeraugen kommt ein stilles, listiges Funkeln. »Neu im Lande? So so. Und Fachmann? Kommen Sie mal her.« Er führt ihn an eines der Fischerboote heran und lässt sich von ihm einzelne Teile benennen. Er nickt befriedigt. »Theoretische Kenntnisse scheinen gut zu sein. Den Rest werden Sie morgen beweisen. Die Bedingungen sind die üblichen.«

Leo Flamm kennt die üblichen Bedingungen nicht. Aber er nimmt sie stillschweigend hin. In der Freude, Arbeit vor sich zu wissen, hätte er vielleicht auch unübliche Bedingungen angenommen. Der Hüne begleitet ihn bis zum Eingang zurück. Er stellt sich in das Tor und sagt ganz laut, während das listige Funkeln in seinen Augen sich verstärkt: »Also morgen früh um acht Uhr treten Sie zur Arbeit an.« Dann wirft er lachend die Pforte hinter sich zu.

Leo Flamm versteht nicht ganz, was es da zu lachen gibt. Aber ehe er noch irgend etwas versteht, springt einer der Männer, die da vor dem Tore stehen, hinter ihm her und packt ihn im Genick. »Du Schuft!« schreit ihm jemand ins Ohr. Leo Flamm reagiert rein mechanisch. Er stösst mit aller Macht beide Fäuste hinter sich, dass der Angreifer ihn loslassen muss und zurücktaumelt. Flamm wendet sich und will sich auf ihn stürzen. Aber da sind schon die anderen zwischen ihnen und wehren Leo Flamm ab. »Keine Gewalt!« sagt einer. In Leo Flamm ist noch die natürliche Wut dessen, der ohne Grund angegriffen wird. »Mit welchem Recht fällt der Kerl mich an?« Der andere lenkt ein: »Es war nicht Recht ...« Plötzlich erinnert sich Leo Flamm: »Und warum hat er ›Schuft‹ gesagt! Was habe ich ihm getan?« – »Auch das war nicht Recht. Gewiss nicht. Vielleicht hätte sagen müssen: Streikbrecher ...«

Leo Flamm lässt die Fäuste sinken. Ihm dämmert ein Zusammenhang auf. »Stehen Sie hier denn Streikposten?« Der Arbeiter weist auf das Schild. »Ja, da steht es doch. Über den Betrieb ist der Streik verhängt.« Flamm zuckt die Achseln. »Das kann ich nicht lesen.« – »Das ist nicht unsere Schuld. Wir hätten Sie ja garnicht erst hineingelassen, wenn wir gewusst hätten, dass Sie Arbeit wollen. Wir dachten, Sie sind ein Lieferant. Mit Ihrem Anzug ...«

»So« sagt Flamm gedehnt. »Sie hätten mich nicht hineingelassen. Sie hätten mich also daran gehindert, mir Arbeit zu suchen?« – »Ja.« – »Und mit welchem Recht?« Der Arbeiter reckt sich auf: »Mit dem Recht der Solidarität.« – »Welche Solidarität meinen Sie?« fragt Flamm. – »Die Solidarität der arbeitenden Klasse. Ist das nicht klar?«

Leo Flamm ist schon wieder gelassen. Sein Zorn ist verflogen. Er hat Mitleid mit dem Angreifer, der an der Mauer hockt und sich den Magen hält. Und er ist bereit, darüber nachzudenken, was ihm der Arbeiter gesagt hat. Hier geht es also scheinbar um ganz andere Dinge als um Organisation der Handwerker, der Menschen gleicher Berufe und gleicher Berufstradition. Er sagt: »Solidarität der arbeitenden Klasse? Aber ich gehöre nicht zu der Klasse.« Der Andere deutet mit dem Daumen über die Schulter: »Er hat doch gesagt, dass Sie morgen zur Arbeit antreten sollen!« – »Nun gewiss.« – »Dann gehören Sie doch zur arbeitenden Klasse. Da gibt es doch nichts zu diskutieren!« – Auch Flamm wird etwas schärfer im Ton. »Aber das ist doch Unsinn. Ich suche Arbeit und Brot. Gehöre ich damit einer Klasse an? In Deutschland habe ich einer Klasse angehört: der Parias, der Gehassten, der Vogelfreien. Muss ich hier sofort wieder in eine andere Klasse hinein? Und ehe ich noch eine Klasse gewählt habe, bin ich schon klassifiziert: Schuft, Streikbrecher« Der Andere wehrt ab: »Ich sage Ihnen ja: das war ein Missverständnis ...« – Aber Flamm gibt nicht nach. »Vielleicht ein Missverständnis in der Technik, aber doch wohl nicht in der Gesinnung, nicht wahr?« Jetzt trotzt auch der Andere: »Richtig. Wer nicht für uns ist, ist gegen uns! Das ist ein Gesetz des Klassenkampfes ...«

Flamm nickt. »Aha, darauf kommt es hinaus. Hören Sie: ehe ich da durch das Tor ging, hatte ich beschlossen, dass ich Ihrer Organisation beitreten wollte. Jetzt muss ich mir die Sache noch sehr überlegen. Vielleicht sagen Sie mir noch eines: haben Sie Streitigkeiten mit dem Werftmann wegen Lohn?« – »Nicht wegen Lohn.« – »Oder weil er die Arbeiter schlecht behandelt?« – »Auch nicht. Aber er weigert sich, einen Kollektiv-Vertrag mit der Organisation abzuschliessen. Er will auswählen können, wen er will. Und das dulden wir nicht. Er hat zu nehmen, wer an der Reihe ist und wen wir ihm schicken.«

Flamm nickt noch einmal: »Jetzt verstehe ich.« Er wendet sich zum Gehen. Der Arbeiter ruft ihm nach: »Sonst haben Sie nichts mehr zu sagen?« –

»Nein. Nichts, als dass ich morgen früh die Arbeit antreten werde.«

Er geht und sie schimpfen hinter ihm drein. Er versteht es nicht, weil es hebräisch ist. Aber er ist doch sehr nachdenklich und bedrückt. Vielleicht haben die Anderen Recht und er ist im Unrecht? Er kennt das Land noch nicht. Er weiss noch nichts von seinem gesellschaftlichen Bau. Vielleicht muss es hier Klassen und Klassenkampf geben. Vielleicht ist es normal, dass jedes Volk sich aufteilt in Feinde von verschiedenem Besitzstand. Warum sollen es die Juden anders machen als andere Völker? Aber – da ist ein Aber das ihm den Weg des kühlen Nachdenkens versperrt – aber wie kann er sich einem Volke anschliessen, wie kann er Menschen zu Genossen seines Lebens machen, wenn er ihnen von vornherein als Genosse einer Klasse begegnet? Wenn er sie von vornherein scheidet in Gut und Böse, in Arbeiter und ... Schufte? Er war das nicht gewohnt, solange er noch in der fremden Heimat war. Vielleicht sind die anderen es von jeher so gewohnt gewesen. Er lehnt es ab, sich daran zu gewöhnen, ehe er nicht entscheiden kann, ob es keinen anderen Weg gibt.

Er schleicht sich beinahe nach Hause. Er hat Angst vor Frau Simson. Sie schaut ihn nur an und weiss genau, was er am Tage erlebt hat und durch welche Enttäuschungen er gegangen ist. Vor dem, was heute geschehen ist, schämt er sich tief. Aber er weiss nicht: schämt er sich für sich selbst oder für die Anderen? Frau Simson wird er auf keinen Fall berichten. Aber sie fragt schon von der Küche her: »Arbeit gefunden?« – »Ja. Ja der Werft von Gottlieb. Morgen fange ich an.« – »Hm Und sind Sie jetzt Mitglied geworden?« fragt sie weiter. – »Noch nicht.« – »So so« brummt sie. »Noch nicht.«

Sie weichen sich aus. Sie spüren beide, dass jetzt etwas auf dem Spiele steht. Frau Simson weiss, dass sie siegen wird. Darum ist ihr Mitleid grenzenlos. Es lässt sie beinahe den grossen Kummer ihres Lebens vergessen, dass man ihre Sohn aus dem Hinterhalt erschossen hat.

Früh am anderen Morgen fährt Leo Flamm in die Bucht hinaus. Er hat sich Arbeitskleidung gekauft, und er bemüht sich, wie die anderen auszusehen, die mit ihm im Autobus sitzen. Wie er zur Werft kommt, sieht er den Mann mit dem Plakat dort wieder stehen, aber jetzt abseits. Das Tor ist geöffnet, und darin steht lang, hager, mit bösem Gesicht der Hüne Gottlieb. Aber neben dem Tor – Leo Flamm wird blass vor Aufregung, wie er es gewahr wird – steht ein Polizist. Gilt das ihm, der ohne formales Recht hier im Lande ist? Rächt sich jetzt die Maschinerie der Ordnung an ihm? Es ist zu spät, umzukehren. Gottlieb hat etwas zu dem Polizisten gesagt und hat mit der Hand auf Leo Flamm gezeigt. Der Polizist nickt und sieht den Mann im Arbeitsanzug gleichgültig an. Leo Flamm nähert sich dem Tor, unsicheren Ganges. Gottlieb grinst. »Da sind Sie ja. Guten Morgen.« Er gibt ihm den Weg frei und lässt ihn eintreten. Dann schliesst er das Tor hinter ihm. »So« sagt er. »Ich habe mir die Polizei bestellt, damit Sie nicht wieder angefallen werden. Aber das muss man schon in Kauf nehmen, wenn man hier selbständig bleiben will.«

Die Arbeit geht Leo Flamm gut von der Hand. Aber bei aller Freude wird er ein zwiespältiges Gefühl nicht los. Er war erlöst, als er herausfand, dass dieser Hüter der Ordnung nicht ihm gegolten hat. Aber jetzt fühlt er sich bedrückt, dass er gleichsam unter dem Schutze der Polizei den Weg zur Arbeit gefunden hat. Er wird den Gedanken nicht los, dass dieser Polizist zwischen ihm und den anderen Arbeitern steht. Er versucht sich zu bereden, er stehe nur zwischen ihm und einer Klasse, die ihn nichts angeht und die ihn doch vom ersten Augenblick an befeindet hat. Das Unbehagen bleibt dennoch.

Mittags verlässt er die Werft nicht. Er isst sein Brot, auf einem Bretterstapel sitzend, und schaut über das Meer. Gottlieb sitzt neben ihm. Er hat den ganzen Morgen wie ein Wütender gearbeitet. Nur jetzt gönnt er sich eine kurze Pause. Leo Flamm sieht ihn von der Seite her an und muss plötzlich lachen. »Sie sehen nicht aus wie ein Jude. Wenn sie nicht so lang wären, könnte Rembrandt sie entworfen haben.« Gottlieb grinst zufrieden. »Aus der Gegend komme ich. Seit Generationen haben wir an der Zuider-See gesessen. Mein Vater hat Boote gebaut. Mein Grossvater hat Boote gebaut. Das ist schon Tradition. Das steckt im Blute.« Nach einer Weile sagt er: »Das ist eigentlich der Grund für den Streik. Für mich ist ein Boot kein Stück Ware. Ein Boot ist ein Lebewesen. Und wer daran arbeitet, muss es in den Fingerspitzen haben. Er muss das Material fühlen. Holz muss man am Geruch unterscheiden können. Eine Niete muss man mit den Nerven eintreiben, nicht mit dem Hammer. Ich kann mir nicht zehn Arbeiter nach der Liste liefern lassen. Ich muss sie aussuchen können. Und das verstehen sie nicht. Sie sind unendlich primitiv. Sie sind noch keine Handwerker. Sie sind Verkäufer von Arbeitskraft. Schade. Es sind gute Typen darunter.«

Kurz vor dem Ende der Arbeitszeit sagt Leo Flamm zu Gottlieb: »Falls Sie für heute Abend wieder den Polizisten bestellt haben, sagen Sie ihm bitte, es sei alles in Ordnung. Er brauche nicht zu warten.« Gottlieb sieht ihn zweifelnd an. Dann zuckt er die Achseln: »Wie Sie wollen. Sentimentalist ...«

Abends steht niemand mehr vor dem Tor, weder ein Polizist noch ein Arbeiter. Aber an der Haltestelle des Autobus sieht Flamm den Streikposten. Er hat das Plakat, das den Boykott über Gottlieb ankündigt, zusammengerollt unter den Arm. Er sieht Flamm von der Seite an. Dann nickt er, verlegen lächelnd, einen halben Gruss. Flamm erwidert den Gruss. Als sei es Zufall, kommt der Andere näher, und wie er neben Flamm steht, sagt er plötzlich: »Guten Abend. Adamson heiss ich.« Und streckt ihm zögernd die Hand hin. Flamm nimmt sie. Beide sind befangen, weil sie nicht wissen, wie sie das Gespräch fortsetzen sollen. Aber im Autobus setzen sie sich neben einander.

Adamson kämpft lange darum, etwas zu sagen. Endlich überwindet er sich. »Sie haben den Polizisten fortgeschickt?« – »Ja.« – »Warum?« – »Weil ein Polizist kein Mittel zur Verständigung ist.« – Adamson sieht ihn mit grossen Augen an: »sie wollen sich mit uns verständigen?« – »Ich möchte versuchen« sagt Flamm bedächtig, »euch zu verstehen. Das Gespräch von gestern will mir nicht aus dem Kopf. Da ist scheinbar eine ganz andere Welt, die ich nicht verstehe.« – Adamson schüttelt den Kopf. »Ich glaube nicht, dass es da viel zu verstehen gibt. Ich bin in der Partei, weil ich sonst keine Arbeit bekomme. Das ist alles. Für mich ist es eine Gewerkschaft.« – »Aber Sie stehen Streikposten.« – »Das muss ich. Sonst werde ich aus der Liste gestrichen. Ich ... ich bin auch Bootsbauer. Und ich habe bei Gottlieb gearbeitet.« »Er hat Sie entlassen?« fragt Flamm eifrig. – »Nein. Mich wollte er behalten. Aber ich darf nicht. Solidarität, verstehen Sie?«

Flamm versteht nicht. Er sagt nach einer Weile: »Glauben Sie, dass Gottlieb Recht hat? Ich meine, dass nicht jeder Bootsbauer ist, der ein Brett sägen kann?« Adamson erregt sich: »Natürlich hat er Recht. Die meisten müssten ihm Lehrgeld zahlen. Keine Ahnung vom Fach. Keine Tradition. Wenn ich sehe, wie einer eine Schraube mit einem Hammer einschlägt, werde ich wild. Und sagen Sie ihm das, pocht er auf seine Intelligenz. Ein jüdischer Arbeiter ist immer nach zwei Tagen ein alter Fachmann ...« Er unterbricht sich: »Aber das führt zu nichts. Solidarität ist Solidarität.« – Leo Flamm sieht ihn masslos erstaunt an: »Und so wollt ihr eine Gesellschaft aufbauen?« Adamson zuckt die Achseln und schaut zum Fenster hinaus. »Oder wollt ihr nur eine Partei eurer eigenen Mitglieder aufbauen?« Aber Adamson antwortet nicht mehr. –

Die nächsten Wochen verlaufen ohne Ereignis. Die Arbeit an den Booten schreitet langsam fort, denn mit zwei arbeitenden Menschen ist nicht viel zu schaffen. Eines Tages sagt Gottlieb: »Wir werden das eine Boot fertig machen und abliefern. Dann schliesse ich den Betrieb.« Leo Flamm erschrickt. »Sie resignieren?« Gottlieb lacht hell auf. »Im Gegenteil. Ich trotze es durch. Ich gehe für einige Zeit an den Tiberias-See und bilde mir dort eine Gruppe von Fachleuten aus. Und ich mache sie alle zu Mitarbeitern, zu Unternehmern. Dann habe ich mit der Organisation nichts mehr zu tun.«

Es ist für Leo Flamm ein unerträglicher Gedanke, sich von der Arbeit zu trennen. Sie ist das einzige, was er im Lande hat. Sie füllt seinen Tag aus und befriedigt ihn. Sie stellt seinen Halt im Lande dar. Einige Tage denkt er nach. Dann kommt ihm eine Lösung. Er fragt Gottlieb: »Ist das zweite Boot erkäuflich, wenn es fertig ist?« – »Ja. Sofort. Da ist eine Gruppe von Fischern, die schon darauf wartet.« – »Dann bin ich bereit, es auf eigene Kosten fertig zu stellen.« – »Sie sind wahnsinnig« erklärt Gottlieb. »Das bedeutet, dass Sie wochenlang keinen Lohn bekommen, dass Sie sich neues Werkzeug kaufen müssen, denn meines geht mit nach Tiberias, dass Sie für Beschläge, Tauwerk, Segel Geld investieren müssen. Und das alles lohnt nicht für ein Boot.« Aber Leo Flamm bleibt entschlossen. »Das Werkzeug ist mir ja nicht verloren. Ich habe etwas Geld gerettet. Ich kann es wagen.«

 

Er wagt es. Und er liebt dieses Wagnis. Es ist keines, in dem es um Gewinn oder Verlust von Geld geht, sondern um Gewinn oder Verlust der inneren Existenz. Ein Stück Arbeit in die Hände nehmen, einen Gegenstand fertig stellen, etwas beenden und beschliessen: das bedeutet, sich selber Zweck und Sinn zu beweisen. Er hebt sein ganzes Geld von der Bank ab. Er bezahlt der erstaunten Frau Simson für einen Monat Miete und Kostgeld im voraus. Er kauft alles Werkzeug und Material zugleich, damit alles, bis auf das Letzte, vorhanden ist. Er will auf alles vorbereitet sein und setzt alles auf eine Karte.

Wie Gottlieb abfährt, hämmert er mit grimmigen Schlägen ein Schild an das Tor: ›Auf unbestimmte Zeit geschlossen,‹ – Aber die Arbeiter, die täglich an der Werft vorübergehen, hören drinnen Geräusche von Arbeit. Bald wissen sie: der Streikbrecher, der Aussenseiter arbeitet dort weiter. Und eines Tages schicken sie Adamson hinein, zu erfragen, was das bedeutet. Sie erfahren: Flamm arbeitet auf eigene Rechnung. Flamm ist also Unternehmer geworden. Das ändert für sie das Bild vollkommen. Bislang hat er ihnen einen Arbeitsplatz fortgenommen. Jetzt hat er möglicherweise einen Arbeitsplatz zu vergeben. Wieder muss Adamson ihn aushorchen. Aber Flamm will noch keinen Arbeiter einstellen. Er will dieses Boot alleine beenden. Es ist sein persönliches Werk.

Man lässt ihm keine Ruhe. Andere Arbeiter kommen und bieten ihm seine Dienste an. Er lehnt ab. »Ich habe kein Geld, Lohn zu zahlen. Vielleicht später einmal, wenn ich das Boot verkauft habe.« Er bereut diese Äusserung, denn wenige Tage später kommt ein Vertreter der Organisation zu ihm und bietet ihm im Namen der Organisation ein verzinsliches Darlehen an. Flamm ist milde erstaunt. »Seid ihr unter die Kapitalisten gegangen?« Der Vertreter sagt: »Wir schaffen für unsere Leute Arbeitsplätze. Die Mittel sind gleich. Alle sind gleich gut.«

Flamm erbittet sich Bedenkzeit. Er tut es, um Zeit zu gewinnen. Und ehe er noch in der Hingabe an die Arbeit daran vergessen kann, erwartet ihn abends in seiner Wohnung ein Besuch: Zolker, der Besitzer der zweiten Bootswerft. Zolker geht gerade auf das Ziel los. Er hat Leo Flamm arbeiten sehen. Er hat ein wenig Werkspionage getrieben. Einen Mann wie Flamm kann er gebrauchen. Und zwar nicht als einfachen Arbeiter. Ein Mann mit Geld ist kein einfacher Arbeiter. Er kann ihn gebrauchen als ... Gesellschafter. Denn – nicht war? – das ist nur ein Geschäftstrick, dass Gottlieb Inhaber der Werft geblieben ist und Flamm Unternehmer für ein einzelnes Boot. Warum sich gegenseitig Konkurrenz machen? Es gibt nur einen Weg: die beiden Betriebe zusammenlegen. Dann sind sie vereint jeder Konkurrenz gewachsen.

Leo Flamm weiss mit untrüglicher Sicherheit, dass Frau Simson an der Türe zum Nebenzimmer sitzt und teilnehmend das Gespräch belauscht. Er darf ihr keinen strategischen Sieg einräumen. Er verspricht Zolker, dass er sich mit Gottlieb in Verbindung setzen und sich bald entscheiden werde. Zolker geht hoffnungsvoll. Flamm bleibt mit dem Beschluss zurück, nach einer Woche abzulehnen. Aber auch diese Woche ist voll von Störungen. Es ist, als sei die Werft von Gottlieb mit einem male, von Reklame angekündigt, Gegenstand der Aufmerksamkeit geworden. Lieferanten erscheinen: brauchen Sie nicht dieses und jenes? Versicherungsvertreter fragen drohend: gegen Brand, Diebstahl, Naturgewalten, Aufruhr und Krieg genügend versichert? Kleine Kapitalisten erscheinen und wollen wissen, wieviel Prozent er geben wird, und welche absolute Sicherheit er stellen kann; wenn sie sich beteiligen?

Leo Flamm geht durch diese Tage mit einem dumpfen Gefühl der Verdrossenheit und Verwirrung. Er will so gerne glauben, dass er dem normalen Strom des Wirtschaftslebens begegnet sei, der durch jedes Land fliesst und in einem jungen Lande doppelt heftig fliessen muss. Wer wird nicht verkaufen, versichern, finanzieren, fusionieren wollen? Lebt nicht davon die Wirtschaft eines Landes? Und doch fühlt er sich bedrückt. Denn wer immer etwas von ihm will und erwartet, hat sich den möglichen Vorteil schon vorher ausgerechnet. Es ist etwas Abstraktes, etwas Wesenloses, etwas kalt Gieriges im Verhalten dieser Menschen. Er selbst, Leo Flamm als Leo Flamm, existiert garnicht für sie. Der Verein der Westeuropäer braucht nicht ihn, sondern ein zahlendes Mitglied. Die Organisation der Arbeiter braucht nicht ihn, sondern einen Genossen, der ihre Front gegen den Unternehmer stärkt. Die zionistischen Gruppen, in die Frau Simson ihn zu drängen versucht, brauchen nicht ihn, sondern eine Stimme zu den Wahlen. Der Konkurrent, der Versicherungsagent, der Lieferant, der kleine Kapitalist; alle brauchen nicht Leo Flamm, sondern die Verdienstquote, den wirtschaftlichen Faktor Leo Flamm. Und selbst die dunkle Rachel hat nicht ihn gebraucht, sondern eine Wand, um davon ihr eigenes Echo aufzufangen. Keiner kann ihn alleine lassen; aber alle lassen ihn einsam.

Er arbeitet mit geringerer Freude weiter. Das Boot nähert sich der Vollendung. Gottlieb hat ihm schon den Käufer und den Preis mitgeteilt. Noch zehn Tage Mühe, lange zehn Tage, denn was sie so lang macht, ist der Umstand, dass seine Mittel erschöpft sind. Gottlieb hat Recht gehabt: um dieses eine Boot zu vollenden, hat er so viel investieren müssen, wie für den Betrieb einer ganzen Werft notwendig ist. Wie weise, dass er bis Ende des Monats Frau Simson bezahlt hat. So sind ihm Obdach und Nahrung gesichert. So kann er den Rest seiner Kraft auf die Arbeit verwenden und dazu, abzulehnen, was immer dringender an ihn herangetragen wird. Zolker stellt eine Frist, während derer er sich entscheiden soll, ob er Gesellschafter oder Konkurrent sein will. Die Organisation verlangt von ihm, da er das Darlehen nicht nehmen will, den Abschluss eines Tarif-Vertrages für später und für alle Fälle. Leo Flamm ist vom vielen Nein schon erschöpft.

Er ist auch erschöpft von der Arbeit, und den heissen Winden, die Tag für Tag aus der Wüste her wehen und die Luft zum Kochen bringen. Er fühlt sich zuweilen fiebrig, erschöpft, wirr vor den Augen. Frau Simson zwingt ihn zwei Tage ins Bett, und er ist zu schwach, Widerstand zu leisten. Aber am Nachmittag des dritten Tages hält es ihn nicht mehr zuhause. Er fährt in die Bucht hinaus, um nach dem Boot zu sehen.

Die Luft ist schwer und dunstig. Die Sonne will in Staub und rotem Dunst untergehen. Aber je näher er an die Bucht heranfährt, desto greller wird das Rot, fiebrig, mit Flammen geladen. Einer sagt plötzlich: »Da hinten brennt es!« Alle drängen sich zu den Fenstern. Rauch und Funken und Feuerfetzen fahren in schräger Garbe irgendwo hoch, vom Ostwind gepackt und belebt. »Wird eine der Werften sein« meint einer gleichmütig. Und dann jagt hinter ihnen ein Automobil der Feuerwehr grell läutend daher, überholt sie, eilt voraus.

Leo Flamm hat die Lippen zusammengepresst. Die Hände zittern ihm. Er kennt den Ort, von dem das Feuer aufsteigt. Er weiss genau, wo es brennt. Er schluckt trocken vor Aufregung. In diesem Augenblick verbrennt mehr als Fischerboot und ein Holzlager.

In einigem Abstand vom Tor, von Polizei zurückgehalten, steht eine Masse von Zuschauern, die das Feuer bewundern. Leo Flamm will sich hindurchzwängen. Da packt ihn jemand am Arm. Es ist Adamson. Er flüstert ihm erregt zu: »Gehen Sie nicht dahin! Kommen Sie mit mir!« – Flamm lässt sich willenlos zurückführen. »Wer hat das getan?« fragt er stotternd. – »Wer kann das wissen?« fragt Adamson zurück. »Vielleicht niemand. Vielleicht Selbstentzündung. Aber das ist jetzt gleich. Sie müssen sich verstecken!« Leo Flamm bleibt stehen. »Warum muss ich mich verstecken? Ich habe doch nichts getan!« – »Das ist gleich« sagt Adamson. »Wenn es irgendwo brennt, wird zunächst einmal der Besitzer eingesperrt. Wegen Verdacht der Brandstiftung.« – »Aber ich bin doch garnicht versichert!« – »Das können Sie nachher im Gefängnis beweisen. Und ausserdem ...« Leo Flamm versteht. Ja, es ist besser, nicht sichtbar zu werden. Wie heissen Sie? Flamm? Der Name Flamm ist ja nirgends notiert. Wann sind Sie eingewandert, Herr Flamm? Wie? Garnicht offiziell eingewandert? ...

Leo Flamm hält die offenen Hände vor sich hin. »Aber wohin soll ich gehen?« – »Sie kommen zu mir« sagt Adamson. »Ich habe eine geschlossene Terrasse. Im Sommer schläft sich da sehr gut.« Flamm nickt dankbar. Er kann nicht viel sagen. Da ist wieder die grosse Gebärde, die er anfangs im Lande traf. Aber er kann darüber nicht sprechen, und Adamson drängt ihn nicht zum Reden. Aber wie sie vor dem kleinen einstöckigen Arbeiterhause stehen, fällt Leo Flamm plötzlich ein Gedanke schwer auf das Herz. »Ich kann nicht mit Ihnen gehen. Ich weiss, Sie meinen es gut. Vielleicht für diese Nacht nur. Denn ... ich habe kein Geld mehr. Das Boot ist hin. Alles Werkzeug wird hin sein. Ich habe nichts mehr. Alles verbrannt ...« Adamson schiebt ihn voran durch die Haustüre. »Sie bleiben solange bei mir, bis Sie Arbeit gefunden haben. Und wenn Sie dann viel Geld verdienen, können Sie mir etwas für das Essen bezahlen.«

Adamson hat eine Frau und eine erwachsene Tochter. Sie sind alle drei freundlich und menschlich zu ihm, und was sie ihm geben, ist gerne und mit grosser Selbstverständlichkeit gegeben. Sie erklären nicht einmal, warum sie es tun. Bin Mensch ist in Not, und sie geben ihm, Leo Flamm hat längst vergessen, was er an heimlichen Widerständen in sich aufgesammelt hat gegen Adamson den Streikposten. Er kommt zu der Erkenntnis: das eine ist Organisation, Apparat; das andere ist Menschlichkeit.

Aber der Apparat siegt.

Leo Flamm ist zwei Tage in diesem menschlichen Versteck. Dann berichtet Adamson, was er durch vorsichtiges Befragen erfahren hat. Zolker hat die Polizei auf die richtige Spur gesetzt. Sie hat bei Frau Simson Nachforschungen angestellt. Aber Frau Simson hat nur die Achseln gezuckt. Flamm? Ja, der hat hier gewohnt. Ist schon vor zwei Wochen ausgezogen. Wohin? Weiss sie nicht. Man hat Haussuchung gehalten. Keine Spur; nichts; nicht ein Stiefel oder eine Krawatte. Eine tapfere Frau, die Frau Simson.

Und was wird jetzt? Jetzt wird Flamm ruhig einige Tage abwarten und dann zu arbeiten beginnen. Zu arbeiten beginnen? Aber wo? Adamson lacht: »Nun, bei Zolker!« – »Bei dem ...?« – Adamson nickt. »Natürlich. Er braucht Facharbeiter. Er lässt Ihnen sagen, Sie könnten nächste Woche anfangen. Jetzt sind Sie ja keine Konkurrenz mehr.«

Leo Flamm schüttelt nachdenklich den Kopf. Er ist sich nicht darüber im Klaren: soll er sich empören, oder soll er für Zolker Respekt empfinden, wenn auch einen zweifelhaften Respekt? Adamson sieht dieses Kopfschütteln. Er deutet es auf seine Weise und sagt mit leisem Nachdruck: »Eine andere Wahl haben Sie nicht. Es nimmt Sie sonnst niemand an.« – »Aber Zolker nimmt doch nur Arbeiter an, die in der Organisation sind.« Eine Weile Schweigen. Frau und Tochter verlassen das Haus zu einem Spaziergang. Flamm spürt, dass sie es nicht ohne Absicht tun. Er spürt auch, dass Adamson befangen ist, dass ihn etwas drückt. Wie sie alleine sind, fragt Flamm: »Also nun gerade heraus: was ist mit Zolker?« – »Mit Zolker? Mit dem ist nichts. Der wird Sie einstellen ... sobald Sie in der Organisation sind.« Leo Flamm wehrt ab. »Ich habe Ihnen doch schon gesagt, dass ich es nicht tue, und warum nicht.« – »Sie sollten es sich noch einmal überlegen. Nicht nur der Arbeit wegen. Auch ... meinetwegen.«

Leo Flamm ist aufgestanden. »Was heisst das?« Adamson wendet sich ab. »Es fällt mir sehr schwer, es Ihnen zu sagen. Aber ... ich muss es ja einmal sagen. Man macht mir einen Vorwurf daraus, dass ich einen aufgenommen habe, der nicht organisiert ist, der den Streik durchbrochen hat ...«

»Gut gut« sagt Flamm heiser. »Ich verstehe schon. Sie haben schon so viel für mich getan ... ich darf Sie nicht noch mehr belasten. Ich gehe.«

»Warten Sie noch, Flamm. Seien sie nicht so schnell. Heute Abend kommen einige Genossen von der Organisation. Sie wollen mit Ihnen sprechen. Das tun wir sonst nicht. Aber bei Ihnen will man eine Ausnahme machen. Sie sind ein guter Fachmann. Je mehr Fachleute wir in der Organisation haben, desto stärker sind wir. Und dann sind Sie ja auch ... ein Flüchtling.« Flamm nickt vor sich hin: »Freilich.« Dann sitzen sie beide stillschweigend und nachdenklich am Tisch.

Flamm träumt über die Zeit hinweg, bis er draussen Schritte hört. Er springt auf. »Die Richter!« sagt er. Adamson sieht ihn mit grosser Frage an. Dann erhebt er sich und lässt die Genossen herein. Sie sind zu Dritt. Sie grüssen kaum. Sie setzen sich um den Tisch, während Flamm stehen bleibt. Man muss vor seinen Richtern stehen. Der Mittlere von den Dreien, ein Graukopf mit einem harten, russischen Gesicht, sieht zu ihm auf. »Nun hören Sie mal zu, Herr Flamm ...«

Flamm unterbricht ihn. »Verzeihen Sie, ich will es Ihnen bequemer machen. Ich weiss ja alles, was Sie sagen wollen. Ich habe mit Adamson gesprochen, und mit anderen, die zu mir auf die Werft gekommen sind ... ehe sie in Flammen aufging. Und ich sage Ihnen dasselbe: ich gehöre nicht in die Organisation hinein. Denn sie ist keine Gewerkschaft. Sie ist eine politische Partei. Und ich bin Bürger ...« Der Graukopf sagt: »Das sind bei uns sehr viele.« Flamm antwortet mit einiger Schärfe: »Dann sind sie nicht aufrichtig. Dann verkaufen sie ihre Gesinnung. Denn ihr Kampf, ihre politische Gegnerschaft gilt eben diesen Kleinbürgern ...«

»Ach was« sagt der Graue ruhig. »Um diese Dinge handelt es sich garnicht. Es handelt sich darum, dass unsere Leute Arbeit bekommen.« – »Und um die Frage der Gesinnung handelt es sich nicht?« Einer der Richter sagt: »Es geht uns um eine gerechte Verteilung der Arbeit und der Plätze.« Der Graue nickt. »Ja. Und da muss eine gewisse Strenge herrschen. Und wer uns da im Wege steht, der muss es sich gefallen lassen, dass wir ihn bekämpfen. Wir kämpfen für die Einheit der Arbeiter ...«

Flamm fällt ihm ins Wort. »Was ist das: die Einheit der Arbeiter? Worin sollen sie einig sein? In ihrem Kampf gegen alle anderen? Oder in dem Glauben, dass ihre Interessen die obersten im Lande sind? Dafür bin ich nicht hierher gekommen. Ich habe gedacht, dass sich hier Menschen brüderlich vereinigen wollen, dass sie durch ein gemeinsames Leben die Sünde der Fremdheit abwaschen wollen, die sie in der Welt auf sich geladen haben. Dass ihr für die Einheit der Parteigenossen kämpft, mag euer gutes politisches Recht sein. Mich interessiert das nicht. Denn ich sehe, dass ihr genau dasselbe tut wie alle anderen. Ihr sucht Mitglieder. Aber Menschen, Menschen sucht ihr doch nicht ...«

Er wartet ihre Antwort nicht ab. Er sieht an den Gesichtern, die sich im Eifer spannen, dass sie sich zu jener Antwort rüsten, zu der der Geist ihrer Gruppe sie erzogen hat. Und es gelüstet ihn nicht darnach, statt einer menschlichen Gebärde ein politisches Glaubensbekenntnis entgegen zu nehmen.

Er reicht Adamson die Hand. »Verzeihen Sie mir alle die Mühe und Unruhe, die ich Ihnen bereitet habe.« Dann geht er hinaus.

Die Nacht ist hoch und blau und voll sanfter Winde. Die Sterne am Himmel sind nicht zu zählen vor Menge. Sie schauen klar und strahlend aus ihrer Unendlichkeit in die Unendlichkeit hinein. Sie sind der Welt so fern, dass sie dem Weltfernen gleichen: dem Frieden. Und darum geht es sich gut und leicht unter ihnen. Ohne dass es Flamm bewusst wird, schlägt er die Richtung zum Meere ein, zur Bucht, zu der Rundung am Strand, in der vor einer Woche noch ein Stück Arbeit auf den letzten Hammerschlag gewartet hat. Aber der Instinkt der Vorsicht hält ihn in einiger Entfernung. Er watet durch den Sand. Das Meer atmet gleichmässiges Rauschen. Das klingt wie Heimat. An einer Düne, unter spärlichem Strandhafer, wühlt er sich eine Mulde in den warmen Sand und schmiegt sich hinein. Er schliesst die Augen, löscht mit einem grossen Akt des Willen alle Gedanken aus und fällt in den Schlaf.

Er wacht spät am anderen Morgen auf. Da ist keine Morgenkühle, die ihn frühzeitig geweckt hätte. Wie er sich aus dem Schutz der Düne erhebt, streicht ihm der heisse Wind dieser Gluttage wieder über das Gesicht. Er legt sich wieder in die Mulde. Da ist noch ein Hauch von Kühlung. Aber er hält es nicht lange aus. Er verspürt Hunger. Seine Barschaft ist zwischen zwei Fingern zu zählen. Wenn er sorgfältig damit umgeht, wird sie für zwei, drei Tage reichen.

Drüben, auf der anderen Seite der Landstrasse, wohnt ein Bäcker. Aber er wagt sich nicht dorthin. Der Weg führt zu dicht an die Werft heran. Er hat eine Scheu vor dieser Grabstätte. Und wer weiss: vielleicht wartet dort noch ein Polizist und will das Individuum fangen, dem dieses Unglück geschehen ist. So watet er durch den Sand und geht einen grossen Bogen und erreicht die Landstrasse, wo weit und breit nur kleine Fabrikgebäude sind. Es ist fast Mittag, bis er sich ein Stück Brot kaufen kann.

Dann schleppt er sich in die Stadt zurück. Auf dem Wege kommt er an zwei, drei Tischlereien vorüber. Er beobachtet sie unauffällig. Dort werden billige Möbel auf die primitivste Art zusammengeschlagen. Er hätte diese Arbeit besser machen können. Aber wer wird ihm Arbeit geben? Er versucht es. An zwei Stellen wird er abgewiesen, an der dritten wird er die alte Frage gefragt: »Von der Organisation?« Da geht er stillschweigend weiter.

Wenn die Sonne ihn zu sehr bedrückt, stellt er sich eine Weile in den Schatten der Haustore. Aber selbst der Schatten ist heiss und trocken. Seine Zunge klebt vor Durst. Er trinkt aus einem Wasserkran, den er unter dem Gerüst eines Neubaus entdeckt. Den Mittag verschläft er auf einer Bank in einem Garten.

Dann nimmt er seine Wanderung wieder auf. Er denkt nicht darüber nach, wo er jetzt bleiben wird. Er denkt nur unaufhörlich an das Wort, das man ihm in der Vereinigung der Westeuropäer einmal gesagt hat: ›solange Sie nichts brauchen als ein Stück Brot und ein Glas Thee ... verhungern werden Sie nicht ...‹ Das ist schön gesagt. Aber es setzt voraus, dass man jemanden um ein Stück Brot und ein Glas Thee bittet. Wer solches Bitten nicht gewohnt ist, der muss es lernen. Man muss lernen, die Hand auszustrecken. Dann wird einem gegeben. Denn der Mensch ist gut ...

Auf diesen Wanderungen ohne Ziel lernt er ein gutes Stück der Stadt kennen. Es ist immerhin eine Bereicherung seiner Kenntnisse. Aber das verdrängt den Hunger nicht. Und es macht doppelt Appetit, zu sehen, dass jeder dritte Mensch auf der Strasse irgend etwas isst: Sonnenblumenkerne, Erdnüsse, Maiskolben, Weintrauben, Gefrorenes in Oblatentüten, Würstchen. Mit den wenigen Münzen, die er noch in der Tasche hat, gesellt er sich zu den Strassenessern und kauft sich einen Maiskolben. Es ist nur ein dummer Rest europäischer Erziehung, dass er sich damit in ein Haustor stellt und verstohlen Korn um Korn abknabbert.

Damit ist der Tag für ihn beendet. Das Unterkommen für die Nacht ist gesichert, auch wenn es sehr fern liegt: draussen in der Bucht, wo die Dünen sind. Er geht fast eine Stunde, bis er dort ist. Aber die Nachtruhe ist herrlich und unbeschwert. Er ist frisch und unternehmungslustig, wie er aufwacht.

Diesesmal wagt er sich in die Nähe der Werft. Er sieht durch die halb verbrannten Bretter der Umzäunung, dass sich jemand auf den Platz bewegt. Es ist Gottlieb. Er muss unbedingt mit Gottlieb reden. Vielleicht lässt sich etwas neues beginnen. Aber auf halbem Wege kehrt er um. Was wird sein, wenn Gottlieb von ihm Entschädigung fordert? Denn der Arbeitsplatz ist zerstört, und er war seiner Obhut anvertraut. Und es ist allzu beschämend, in dieser Situation des Nichts vor ihn hinzutreten und zu bekennen: ich bin daran gescheitert. So geht er wieder in die Stadt zurück.

Mit ein wenig Brot zum Frühstück und einem Maiskolben zum Mittag sind seine Mittel erschöpft. Seine Suche nach Arbeit ist ebenso ungeschickt wie erfolglos. Er bietet sich als Austräger an, aber die kleinen jeminitischen und sfardischen Jungen sind viel geeigneter dafür, und billiger. Er bietet sich als Portier in einer Nachtbar an, aber es scheitert daran, dass er nicht Hebräisch spricht. Und so oder ähnlich scheitert auch alles andere.

Gegen den späten Abend kommt er durch eine halbdunkle Strasse, in der aus einer niedrigen Reihe von Fenstern und aus einer weit offenen Türe auffallend helles Licht dringt. Er geht neugierig heran. Neben der Türe ist ein Schild in mehreren Sprachen: Lesehalle der Bibelgesellschaft. Eintritt frei.

Er wagt einen Blick durch die Türe. Er sieht Reihen von Büchern und einen langen Tisch, der mit Zeitungen und Zeitschriften bedeckt ist. Einige Menschen sitzen in breiten, bequemen Sesseln und lesen versunken. Es ist wie eine Lesehalle in Europa. Es verlockt sehr, eine Stunde behaglich dazusitzen, zu lesen, sich in Ruhe zu fühlen und alles zu vergessen. Er geht zögernd hinein. Niemand sieht auf. Niemand fragt ihn und niemand stört ihn. Er setzt sich, immer noch unsicher. Es ist nichts hörbar als das leise Geräusch von Blättern, die umgewendet werden. Er nimmt wahllos eine Zeitung vom Tisch, sieht blind in die Zeilen hinein und ruht sich aus.

Aber etwas stört ihn doch. Er fühlt, dass irgend jemand ihn beobachtet. Er weiss nicht, aus welcher Richtung der Blick kommt, der ihn immer wieder anstösst und stört. Mit gespielter Unbefangenheit legt er die Zeitung zurück, um eine andere aufzunehmen. Dabei schaut er auf. Hinter einem Pult, das an der Schmalseite des Saales steht, sitzt ein Mann mit dunklen Haaren und einem fanatischen Gesicht und sieht ihn an. Leo Flamm weiss, dass er dieses Gesicht schon einmal gesehen hat, und zwar nahe, in einem Gespräch, im Zusammenhang einer Situation.

Der Mann grüsst, steht langsam auf und setzt sich neben Leo Flamm. »Sie erkennen mich nicht? Altmann. Wir haben uns an dem Abend gesehen, als Sie landeten.« Jetzt erinnert Leo Flamm sich. Es war der Mann, der es begrüsst hat, dass Juden in das Land kommen, weil das im Einklang sei mit den Verheissungen der heiligen Schriften. Flamm wusste damals schon nichts zu antworten. Jetzt macht es ihn doppelt befangen, dass er Altmann in dieser Umgebung sieht. Er sagt, um etwas zu sagen: »Sie leiten hier die Lesehalle?« Altmann wiegt den Kopf: »Nicht eigentlich. Ich bin nur an manchen Abenden hier, um Fragen zu beantworten, wenn jemand etwas zu fragen wünscht. Ich ... leite die Mission hier am Orte.«

Leo Flamm kann sich nicht vorstellen, wie in einem Lande, das von Juden aufgebaut werden soll, Raum für eine Mission ist. Altmann lächelt nachsichtig. »Es ist Raum dafür. Glauben Sie mir. Denn glauben Sie wirklich, dass dieser Aufbau eine Sache der Wirtschaft und der Kolonisation sei? Er ist eine Frage des Glaubens. Ohne Glauben werdet ihr nichts aufbauen.«

»Das heisst also« sagt Flamm, »dass Sie mit uns um die Frage kämpfen wollen, mit welchem Glauben wir aufbauen müssen?« Altmann nickt. »Ja. Das ist unsere Aufgabe hier. Eine schwere Aufgabe. Denn wenn die meisten von euch auch garkeinen Glauben haben, verteidigen sie ihren Glauben doch hartnäckig. Aber es ist zwecklos. Ich weiss es von mir selber. Ich war auch einmal Jude. Aber jetzt habe ich heimgefunden ...«

Leo Flamm erhebt sich. »Ich glaube nicht, Herr Altmann, dass ich ein geeigneter Partner für ein solches Gespräch bin.« Altmann sagt: »Ein Partner ist jeder, der unter dem Leben in diesem Lande leidet. Jeder, der – wie Sie – abends verlassen und heimatlos durch die Strassen geht, um sich irgendwo Unterschlupf zu suchen. Jeder, der mit Hoffnungen kam und jetzt am Abgrund geht ...«

Flamm unterbricht ihn: »Ich danke Ihnen für die Gastfreundschaft, Herr Altmann. Ja, ich bin hungrig und obdachlos. Aber daran ist niemand schuld als ich selbst. Und wenn es zwischen mir und den anderen eine Rechnung auszutragen gibt, dann trage ich sie selber aus. Ich brauche keinen Vermittler. Gute Nacht.«

Das wird die dritte Nacht in den Dünen. Der folgende Tag ist schwer. Leo Flamm marschiert durch die Strassen. Die Häuserzeilen sind nicht immer klar zu erkennen. Und zuweilen will er sie nicht klar sehen. Das ist immer dann, wenn in einem Schaufenster Lebensmittel ausgestellt sind. Einmal geht er durch eine Strasse, die ihm vertraut scheint. Er denkt nach. Voll Schrecken kommt ihm die Erkenntnis: da wohnt ja Frau Simson. Dass sie ihn sehen könnte, obdachlos, hungrig, durstig – das ist ein Gedanke, der seine Schritte beschleunigt. Er gerät in Strassen, in denen er nie zuvor gewesen ist. Die Stadt ist grösser, als er gedacht hat. Ganz unbekannte Wohnviertel tun sich vor ihm auf. Hier ist es auch leichter zu gehen, denn alle Strassen scheinen bergab zu führen.

Die Stunden sind ein fiebriger Kreislauf. Es dämmert. Es wird Abend. Er spürt den Hunger nicht mehr. Er ist in einer grossen, nebelhaften Schwäche untergegangen. Hier und da sitzen Menschen vor kleinen Kaffeehäusern, in hellen Anzügen, die wie weisse Flecken sind. Er geht an den Tischen vorüber und sagt in Gedanken: bitte geben Sie mir ein Stück Brot und ein Glas Thee. Dann versucht er, die Menschen anzuschauen, ob sie ihn wohl verstanden haben. Aber keiner sieht ihn an. Sie haben ihn offenbar nicht gehört. Er denkt seine Bitte noch lauter. Aber es ist wohl nicht laut genug. Er geht weiter und späht nach anderen Kaffeehäusern aus. Es ist unlogisch, denkt er. Es müsste ein Theehaus sein, denn ich habe nur Anspruch auf Brot und Thee.

Dann sieht er eine Aufschrift: Theestube. Das gefällt ihm. Aber es sitzt niemand draussen auf der Strasse. Er späht vorsichtig durch den dünnen Vorhang der Türscheibe. Er sieht einen kleinen Raum, mit schönen, hellen Möbeln. Alle Tische sind besetzt. Im Hintergrunde des Raumes ist ein Buffet, elfenbeinweiss, und darüber, farbig, Vitrinen, in denen Gebäck ist. Flamm sieht es ganz deutlich. Eine Frau geht am Buffet vorüber und trägt auf einem Tablett ein glänzendes hochrotes Theegeschirr. Es ist eine grosse, schöne Frau mit dunkler Haut und reichem braunen Haar. Auch das sieht er deutlich, und er glaubt, dass er sie schon einmal gesehen hat ...

Aber das sind Hungerphantasien. Er nimmt seine Wanderung wieder auf. Es ist an der Zeit, dass er sich einen Unterschlupf für die Nacht sucht. Er möchte wieder an den Strand gehen und im Schutz der Dünen schlafen. Aber er hat die Richtung verloren. Das Gehen wird immer mühsamer. Plötzlich steht er wieder vor der Theestube. Die Türe wird geöffnet. Gäste kommen heraus. Er sieht durch den Türspalt, dass drinnen nur noch ein Tisch besetzt ist. Da kommt ihm ein rettender Gedanke: er wird an der Hauswand neben der Türe stehen bleiben und warten, bis die letzten Gäste fortgegangen sind. Dann wird er hineingehen, ein nächtlicher Bettler, und von der Wirtin ein Glas Thee erbitten und ein Stück Gebäck, denn es ist ja noch etwas vom Tage übrig geblieben ...

Er steht an die Hauswand gelehnt und schaut vor sich hin. Er möchte in den Himmel schauen und in die Sterne. Aber wenn er den Kopf hebt, wird ihm schwindlig und er fürchtet, dass er zu Boden fällt. Er schläft für Sekunden ein. Dann wacht er mit einem Schrecken auf, mit einer Panik, er könne das Fortgehen des letzten Gastes überhört haben und die Türe wird geschlossen und er hat nicht Thee und Gebäck bekommen! Aber nein: noch ist Licht in der Theestube. Noch sitzen Gäste an einem Tisch.

Es scheint Stunden zu dauern, bis sie fortgehen. Aber dann stehen sie in der offenen Türe, müde und gähnend und schlendern langsam die Strasse hinunter. Die Türe bleibt hinter ihnen offen. Leo Flamm rüstet sich zu seiner Bitte. Er streicht an seinem Anzug herunter, als müsse er Staub abstreifen. Dann geht er mit wankenden Knien in die Theestube hinein.

Die braune Frau steht am Tische und räumt das rote Geschirr zusammen. Wie sie den Schritt hört, wendet sie sich um, wendet sie ihr Gesicht Leo Flamm zu, sieht Karola aus grossen, braunen, unmässig erschreckten Augen auf Leo Flamm. Es drückt ihm etwas die Kehle zusammen. Er will sprechen ... Thee ... und Gebäck. Aber sein Mund verzerrt sich nur. Ein Lächeln aus Krampf und Ohnmacht kriecht über sein Gesicht. Der Raum, tanzt. Er lässt sich hineinfallen. Er hört noch als letztes das Schmettern von Geschirr und einen Aufschrei: »Liebster! Liebster!« ...


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