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III.

Die Fahrt dehnt sich, dehnt sich. Das Meer ist so still, dass die Nerven revoltieren. Die Sonne geht so unerschütterlich im Osten auf und im Westen unter, dass es wie Hohn, und Spott wirkt. Ein Weg ohne Ende. Totes Gleichmass ohne Ende. Die gleichen Gesichter ohne Ende und die gleichen Gebärden ohne Wechsel. Man schwebt in einem geronnenen Meer von Nichtsen. Marionetten vollführen darin starre Bewegungen.

Aber ehe diese Marionetten an die Schnüre des Zufalls gehängt wurden, waren sie einmal lebendig. Oder das, was sie lebendig nannten. Sie sind den kleinen Trieben nachgegangen, den kleinen Neugierden, dem kleinen Verbotenen und den kleinen Befriedigungen. Es hat immer einen Raum gegeben, sich zu verstecken und das zu tun, was sich verstecken muss. Hier gibt es keinen Raum. Hier müssen sie entweder an den unerlösten Gebärden ersticken, oder die Hemmung von sich werfen und das Verbotene sichtbar tun.

Sie tun es endlich. Es kleidet sich in viele Formen. Das grosse Lagerhaus gerät noch einmal in Bewegung. Die Schicksale und Bündel werden noch einmal umsortiert, aus diesem Fach herausgenommen und in jenes hineingetan. Aber jetzt gruppieren sich nicht mehr Landsmannschaften, sondern Einzelne. Es sind diejenigen, die Bretterwand an Bretterwand wohnten und nicht mehr schlafen können, weil der Widerstand, die Abneigung, der Hass zwischen den Fugen kauern. Sie rücken auseinander. Dafür rücken andere zusammen, die Gleiches in sich entdeckt und Gefallen an einander gefunden haben. Zuweilen bricht ein Bündel, in das zwei Menschen eingepackt waren, mitten durch. Die Umhüllung war wohl zu morsch. Die Schnüre waren schlaff geworden. Nun treibt das eine hierhin, das andere dorthin. Hinten im Schiff, im Speisesaal, wo die jungen Menschen hausen, fügt sich zusammen, was aus Spannung oder Neugierde oder Zufall oder Liebe glaubt, nicht mehr gesondert bleiben zu dürfen.

Auch Leo Flamm ist nicht mehr allein. Karola hat ihren Platz behauptet, sanft, unaufdringlich, bescheiden und doch entschlossen. Ein neuer Mensch wächst aus ihr heraus, von dem viel Ruhe und Sicherheit ausgeht. Und Leo Flamm wehrt sich nicht. Sie schweben Beide zwischen Ausgang and Ende. Sie sind Beide jenseits der Fesseln, mit denen ein gewohnter Alltag vor dem spontanen Erlebnis bewahrt. Sie suchen also nur eines: menschliche Nähe, die Geborgenheit des Einen beim Anderen. So bleiben sie beisammen.

Niemand rechnet mehr, wieviel Trage vergangen sind. Da eines Tages ändert das Schiff seinen Kurs. Es wendet sich zur Strasse von Gibraltar. Sie sehen nichts davon, denn das Schiff schleicht sich nachts hindurch. Aber am anderen Morgen verspüren sie, dass sie in eine andere Welt eingegangen sind. Die Sonne ist eine andere. Das Blau des Meeres ist tiefer. Die Winde wehen aus anderer Richtung. Und die ganze Fahrt ändert mit einem Schlage Sinn und Wesen und Richtung.

Der Atlantische Ozean ist noch Fremde gewesen, und die Fahrt auf ihm eine Reise erst zur Erholung, dann zur Uebermüdung. Dieses neue Meer greift schon zur Küste der Heimat von morgen hinüber. Die Fahrt auf ihm ist die Vorbereitung auf das endgültige Ergebnis dieser Fahrt: auf die Landung.

Jetzt kommt eine andere Spannung auf, eine Erwartung, die die Nerven nicht weniger verzerrt als die Ausweglosigkeit der Fahrt. Werden sie landen können? Und wo und wie? Es weiss einer: da und dort ist ein Schiff ganz ungehindert an die Küste gelangt. Alle sind trockenen Fusses gelandet. Und ein anderer weiss: englische Soldaten haben freundlich und menschlich für die Flüchtlinge gesorgt. Von der Möglichkeit, dass man ihnen die Landung verbieten könnte, spricht keiner. Zu dieser Möglichkeit geben ihre verhetzten Seelen keinen Zugang frei. Unmenschlichkeit, Härte, Grausamkeit gibt es nur dort, von wo sie geflohen sin. Jede andere Küste der Welt ist anders, muss anders sein: menschlich, verständnisvoll. Baermann sagt es auch. Er stellt den Unterschied klar zwischen früher und jetzt. »Damals« sagt er, »als die Juden aus Spanien auswandern mussten, trieben sie auf den Meeren umher, Wochen, Monate, zuweilen Jahre; elend, ausgeplündert, ausgebeutet, hungrig. Wo sie landeten, vertrieb man sie, oder fing sie als Sklaven ein, oder erschlug sie, oder verkaufte ihnen nichts zu essen, oder wollte sie zu einem anderen Glauben bekehren. Aber damals war die Welt noch wild und unzivilisiert. Inzwischen ist die Welt fortgeschritten …«

»Auch im Menschlichen?« fragt einer. Es antwortet ihm niemand. Nur Lipmann, ein junger Architekt, dem die Barbaren ein Auge ausgeschlagen haben, lacht leise vor sich hin. »Menschlichkeit ist eine Salz, das sich in politischen Flüssigkeiten ungewöhnlich gut auflöst.« Aber das will niemand hören. Zuweilen vermutet man, dass Lipmann nicht ganz normal ist. Er lacht zu viel.

Die Tage werden weniger, die sie noch vom Ziel trennen. Es herrscht Aufbruchstimmung. Und dann erleben sie eine Überraschung: Jakob tritt wieder in die Erscheinung. Zum ersten male seit dem Beginn der Fahrt beschäftigt er sich mit den Reisenden. Aber er tut es in seltsamer Form. Er fragt Einzelheiten aus ihnen heraus und notiert sie sich. Da werden sie misstrauisch und zurückhaltend. Sie sind bereit, dem Dr. Fels oder dem Baermann oder dem Leo Flamm Auskunft zu geben. Aber nicht ihm.

Jakob ist gekränkt. »Sie haben es allein mir zu verdanken, dass Sie hier auf dem Schiff sind. Und ohne mich können Sie auch nicht landen. Sie haben doch keine Ahnung, was Sie tun müssen. Gewöhnen Sie sich an den Gedanken, dass Sie ohne mich nichts machen können …«

Aber damit hat er den Bogen überspannt. Eine ungeheure Empörung bricht aus. Man droht ihm: »Wenn wir nicht an Land kommen, kommen Sie auch nicht an Land! Sie haften uns!« Selbst Leo Flamm kann sie nicht beschwichtigen. Er versteht, dass er es jetzt auch nicht darf. Jakob steht breitbeinig und trotzig da und höhnt auf die Reisenden herunter. Leo Flamm sagt ihm: »Wenn ich Sie wäre, würde ich den Rest meines Schamgefühls zusammen nehmen und mich unsichtbar machen.« – Jakob wird blass vor Wut: »Sie scheinen darauf Wert zu legen, mit mir verfeindet zu sein?« Flamm schüttelt ernsthaft den Kopf: »Mit einem Menschen wie Ihnen verfeindet zu sein kann niemals eine Ehre sein, höchstens eine Genugtuung.« – Während Jakob mit eingezogenen Schultern davon geht, toben die Menschen Beifall. Sie fühlen sich alle, als ob sie selbst es gesagt hätten. So viel Mut haben sie noch nie entwickelt.

Aber Flamm traut diesem Mut nicht. Er spürt, dass dahinter nur die aufgereizte Unruhe arbeitet. Ihre Phantasie formt richtungslos an Ereignissen von morgen. Wer hat je die Küste gesehen? Wer kennt die Orte anders als von der Landkarte? Vielleicht sind Palmwälder da, unter deren Schutz man sich bergen kann? Vielleicht sind breite, weisse Sandflächen da, in denen es kein Ausweichen gibt. Vielleicht stehen Freunde am Ufer und fangen sie auf. Vielleicht wehrt man ihnen, den Fuss auf das Land zu setzen. Was dann? Dann werden sie kämpfen, um jeden Preis und mit jedem Mittel. Ja … wenn sie nur Mittel hätten. Aber sie haben nichts, garnichts. Jeder Anspruch in der Welt wird mit der Münze durchgesetzt, mit der einer zahlen kann. Sie haben nichts. Sie haben nur ungangbare Münze: Unglück, Not, Anspruch auf Menschlichkeit und Gerechtigkeit. Es ist alles ausser Kurs. Sie sind so dem Nichts ausgeliefert, wie ein Volk ohne Macht und Kraft es nur sein kann.

Und so gehen sie, während sie weiter treiben und sich fürchten und sich ihre Furcht nicht eingestehen wollen, den uralten Weg aller Ohnmächtigen und Vertrauenden: der Weg des Glaubens. Auch wer Gott lange schon vergessen hat, geht jetzt zu ihm. Einige tun es heimlich und verschämt. Sie sehen scheinbar ruhig über das Meer oder starren unbeteiligt in einen Winkel. Aber in Wirklichkeit beten sie. Andere haben ihre Beziehungen zu Gott nie ganz unterbrochen. Sie gehen auf den alten Wegen zu ihm, die ihnen von den Regeln ihres Glaubens aus den Jahrhunderten vorgezeichnet sind. Sie stehen morgens, wenn die Sonne aufgeht und noch ehe sie etwas gegessen oder getrunken haben, in ihren Gebetmantel gehüllt da und wiegen sich im Rhythmus liturgischer Verse und Strophen, die seit Ewigkeiten die Pforten des Himmels berennen und sie doch nicht zu sprengen vermögen. Aber dass gerade ihre Gebete die Kraft dazu hätten, dass diese mystische Wirkung sich je und je für den einzelnen, den Gläubigen, den Betenden vollziehen könnte: daran zweifeln sie nicht. Und dieser Glaube zieht die Anderen mit sich.

Da ihre Seelen geängstigt sind, sind sie offen. An den Abenden, wenn das Dämmern manche Hemmung und manche Scham verdeckt, werden sie eine Einheit der Furcht und des Betens und des Glaubens. Und der letzte Vorabend des Schabbat, den sie auf dieser Wanderung zu verbringen meinen, hebt sie über sich selbst hinaus. Es hat keiner dem anderen gesagt, aber alle haben Feierkleidung angezogen. Sie haben es nicht verabredet, aber sie stehen alle einer hinter dem anderen dicht gedrängt in dem engen Speisesaal. Wer nicht beten kann, weil er die Sprache des Gebetes nicht versteht – Leo Flamm versteht sie nicht – der erkennt doch die alten Melodien. Und wer sie nicht kennt – Leo Flamm hat sie nie gehört – spürt doch, dass dieses eine mal der Glaube der Vielen ihn an die Hand nimmt und ihn führt.

Die Sonne, die über diesem Schabbat aufgeht, ist gedämpft und verschleiert. Sie blendet. Sie verlockt nicht dazu, auf das Meer zu schauen, das aus tausend kleinen, grellen Reflexen die Augen müde macht. Die Menschen müssen die Augen gesenkt halten, oder sie müssen sich anschauen, wenn sie mit einander sprechen. Und da sie sich anschauen, vertrauen sie sich an diesem einen Tage mehr als an allen anderen Tagen der Reise. Sie haben die Grenze berührt, an der ein Haufe eine Gemeinschaft wird.

Wie es Abend wird, wie der Ruhetag wieder in den Alltag einmündet, geht plötzlich das Gerücht um, dass sie noch vor Morgengrauen an der Küste sein werden. In wenigen Minuten ist das Schiff eine schwärmende Masse von Erwartungen und Ängsten und Erregungen. Sie haben lange Wochen auf diese Stunde gewartet. Jetzt kommt sie überraschend und zu schnell. Keiner weiss, was er tun soll. Sie drängen sich um ihr Gepäck und schleppen es nutzlos hin und her. Leo Flamm sieht voraus, dass alles für eine Panik vorbereitet ist. Er überwindet seine Abneigung und geht zu Jakob in die Kabine. Jakob sitzt auf dem Bettrand. Zwei grosse Koffer stehen verpackt und mit Riemen verschnürt neben ihm. Die Blonde macht sich an einem dritten zu schaffen. Leo Flamm sieht daraus, wie nahe sie schon der Küste sein müssen. Er fragt: »Haben Sie irgend welche Anordnungen zu geben? Die Passagiere werden kopflos. Ich fürchte, es wird im letzten Augenblick alles drüber und drunter gehen.« Jakob sieht nach der Uhr. »Wir sind bestimmt noch ausserhalb der Drei-Meilen-Zone. Aber es lohnt für die Leute nicht mehr, sich schlafen zu legen. Sie sollen das kleine Gepäck zu sich auf ihren Platz nehmen. Das grosse Gepäck sollen sie mit Nummern versehen und auf dem Achterdeck aufschichten.«

Flamm setzt die Gruppe der Jungen in Bewegung, und nach harter Arbeit gelingt es ihnen, Ruhe in den Schwarm und Ordnung in das Gewirr zu bringen. Wie die Nacht hereinbricht, ist alles bereit. Sie hocken neben ihren Bündeln, wartend und schweigend. Alle Lichter werden gelöscht. Sie sind jetzt nahe der Zone, bis zu der die Übereinkunft der Menschen sich Hoheitsrechte über das ewige Meer angemasst hat. Sie sitzen da und warten. Es ist ihnen Schweigen anbefohlen worden. Die Frauen und die Kinder und die Alten werden unter Deck geschickt. Die Maschinen des Schiffes scheinen lauter zu gehen als sonst. Jetzt, wo das Schweigen so gross ist, hören alle, wie mühsam und geräuschvoll das Wrack arbeitet; wie ein altes Stück Leben, das bald seinen letzten Dienst getan hat.

Leo Flamm steht im Schatten der Gepäckballen und starrt auf das Meer. In seiner Nähe machen sich Matrosen zu schaffen. Sie legen Ruder in die Rettungsboote. Sie arbeiten an dem Motorboot und heben es an Blöcken von seinem Lager. Es liegt jetzt so, dass es jeden Augenblick über die Bordwand geschwungen und zu Wasser gelassen werden kann. Zwei Koffer werden herausgeschleppt und im Boot verstaut. Leo Flamm kennt diese Koffer. Er hat sie Stunden zuvor in Jakobs Kabine gesehen. Ein Verdacht packt ihn: will sich da einer aus dem Staube machen, für den Fall, dass irgend etwas nicht nach Plan und Absicht verläuft? Er weiss nicht, warum er es denkt. Aber der Gedanke hakt sich fest. Er ist nicht zu vertreiben. Der Instinkt des Misstrauens hat sich geregt und ihm zugeflüstert, dass Jakob fliehen will. Nun gut, sagt Flamm zu sich, dann werde ich es verhindern. Unsere Rechnung ist ja noch nicht glatt …

Er sucht in seinen Taschen. Ein Federmesser kommt ihm in die Hand. Er geht leise und vorsichtig an das Zahnrad heran, das die Davids bewegt. Sorgfältig öffnet er den Splint, mit dem die Kurbel an die Welle geheftet ist. Er schlägt den Splint heraus. Dann zieht er langsam, geräuschlos die Kurbel ab. Er wirft sie oben auf den Gepäckhaufen. Er ist sicher, dass man sie dort im Dunkeln nicht finden wird. Und ohne Kurbel gibt es keine Möglichkeit, das Boot zu heben und über Bord zu schwingen.

Die Nacht ist dunstig und verhangen wie der Tag. Es ist, als wollte sie die Annäherung des Schiffes in einen Schleier der Vorsicht hüllen. Kaum ist ein Stern am Himmel zu sehen. Es ist kein Wind, und eine feuchte Schwüle umgibt alles. Da sieht er über dem Wasser, von steuerbord her, ein Licht kurz aufblitzen. Es ist der Strahl einer Sekunde. Dann ist es wieder dunkel. Er erschrickt. Ist das schon Land und Licht vom Lande? Oder ist es ein Schiff? Und wenn es ein Schiff ist, warum zeigt es nicht die üblichen Lichter aller Schiffe? Warum schickt es nur diesen einen, forschenden Lichtstrahl aus? Er drängt sich erregt zum Ruderhaus durch. Der Kapitän selbst steuert, Jakob steht neben ihm, in Hut und leichtem Mantel, als könne er jeden Augenblick aussteigen. »Haben Sie da steuerbord das Licht gesehen?« fragt Leo Flamm.

Jakob und der Kapitän tauschen einen schnellen Blick aus. »Wo?« fragt der Kapitän, und während er fragt, sieht Leo Flamm, dass er das Steuerruder unauffällig nach backbord umlegt. Flamm sagt: »Eben war es noch steuerbord. Aber jetzt, wo Sie den Kurs geändert haben, ist es mittschiffs achtern.« – »Kümmern Sie sich einen Dreck um meinen Kurs!« faucht der Kapitän. Leo Flamm verliert die Beherrschung. »Ich werde Sie nicht fragen, ob ich mich kümmern darf. Sie haben Menschen an die Küste zu bringen. Dafür sind Sie bezahlt. Sie haben für die Flüchtlinge zu sorgen, und nicht für Ausreisser, die sich drücken wollen.« Wütend fährt er ihm in die Speichen und will das Ruder wieder herumwerfen. Da klammern ihn von hinten zwei Arme ein. Er wird zu Boden geworfen. Noch währen er fällt, sieht er das Licht über dem Wasser zum zweiten male, aber jetzt als langen, spitzen Strahl, wie von einem Scheinwerfer in das Dunkel gestossen.

Jetzt haben auch die Menschen, die auf dem Deck kauern, das Licht gesehen, denn es fällt wie ein heller, scharfer Strich in ihre Augen. Wie vom Instinkt belehrt, ruft einer: »Hinlegen!«, und schon ist das Deck mit einer unförmigen Masse verschlungener Gestalten bedeckt. »Ruhe bewahren!« ruft Jakob aus dem Steuerhaus. Die Glocke im Maschinenraum schrillt grell durch die Stille. Der Kapitän ruft durch das Sprachrohr hinunter: »Volle Kraft!« Das Schiff zittert mehr denn je. Eine schwarze Rauchwolke, von Fahrt und schwerer Luft niedergedrückt, fegt erstickend über das Deck. Und in diese schwarze Wolke hinein, starr, zielbewusst, dauernd, drängt sich das Licht aus einem Scheinwerfer. Es kommt langsam, von der Seite her, an das stampfende Schiff heran.

»Wir fliehen!« schreit plötzlich einer auf. Dieser Schrei entfesselt einen Tumult, als hätte einer gerufen: wir sinken! Sie springen auf und drängen sich wirr durcheinander. Sie sehen zum Himmel auf. Sie starren in den Scheinwerfer hinein. Sie drängen gegen das Ruderhaus an. Sie bitten und toben. »Nicht fliehen! Warum fahren wir nicht einfach auf den Strand? Nicht umkehren! O nicht umkehren!! Nein!!«

Es ist die Hölle der Angst und der Verzweiflung. Und der Scheinwerfer liegt immer noch über ihnen, aber jetzt breiter, flächiger, blendender. Und der Ort, von dem er ausgeht, das Boot, das ihn trägt, kommt näher und näher. Sie drängen sich zur Mitte des Schiffes zusammen, gegen den Punkt an, von dem aus das Steuer betätigt wird. Nur eine kleine Drehung, und sie können gerettet werden. Diese kleine Drehung wollen sie erzwingen. Sie stürmen vor. Da steht plötzlich Jakob vor dem Ruderhaus und hält einen Revolver gegen sie auf. Sein Gesicht ist bleich, maskenhaft vom Suchlicht abgetastet und gestreift. »Zurück!« brüllt er. »Ich schiesse!! Ich mache keine Umstände. Es geschieht, was ich für gut halte.«

Es ist eine plötzliche Stille auf dem Deck. Die drängende Bewegung stockt. Langsam lässt Jakob seine Waffe sinken. »Ihr habt zu gehorchen« sagt er drohend. »Wenn wir landen können ...« Er stockt. Ein scharfes, knatterndes Geräusch ist in der Stille vernehmbar: tack-tack-tack, in einem schnellen, kalten, unheimlichen Rhythmus. Eine Stimme, unmässig vergröbert wie der formlose Ruf durch ein Megaphon, erreicht sie. »Stop!« Und wieder das Knattern. Und wieder die dumpf aufgeblähte Stimme: »Stop!« Jakob wirft den Kopf zurück – »Volldampf! Volldampf!« schreit er. Es knattert tack-tack. Es pfeift scharf, leise heulend über ihre Köpfe hinweg. Sie stehen wehrlos da. Es schlägt gegen den Mast, tack-tack, gegen die Wände des Schiffes, gegen das Ruderboot. Holz splittert. Es knattert und zischt, Maschinengewehr gegen Unbewaffnete, die sich nicht wehren und nicht wehren können. Tack-tack, wie nahe, wie drohend. Und dann schreit einer, spitz, schrill, hoch, wirft die Arme über den Kopf und schlägt zu Boden. Sie rennen alle in wilder Panik auseinander. »Wir müssen auf den Strand fahren!« schluchzt einer auf und läuft gegen das Ruderhaus. Aber mitten im Schluchzen schlägt das Tack-tack in ihn hinein, dass er still, jäh stumm geworden, in sich zusammensinkt.

Mit ihm zugleich sinken das Schiff und alle Menschen darauf in eine atembeklemmende Stille hinein. Der Tod ist hinter ihnen her. Der Tod jagt sie, weg von der Küste, zu der sie Heimat sagten. Der Tod sitzt in einem Boot. Er kommandiert Menschen, und diese Menschen gehorchen ihm. Und da der Befehl vollzogen wird, sterben Menschen, ganz so, wie sie in dem Lande gestorben sind, aus dem sie fliehen mussten, weil da der Mensch, weil da das Leben nichts mehr gilt. Keiner rührt die Toten an. Sie liegen da, um sie herum ein freier Raum, so schmal, wie dicht an einander gedrängte Menschen ihn frei geben können. Aber sie liegen in diesem geringen Raum wie in einer unendlichen Oede der Unbarmherzigkeit. Sie liegen da im Dunkel, und noch weiss niemand, wer sie sind. Und niemand weiss, wen das Tack-tack noch erreichen wird.

Aber es erreicht niemanden mehr. Es hört so unvermittelt auf, wie es eingesetzt hat. Der Scheinwerfer, als sei er des Suchens müde, wendet sich ab und erlischt. Das Boot taucht in das Dunkel zurück. Jetzt sind sie wieder allein auf dem Meer. Stimmen wagen sich wieder hervor. Eine Frau jammert. Sie hat einen der Toten erkannt. Um den anderen jammert niemand. Er war jung und allein und hat zu niemandem gehört. Und so ist er für sich allein gestorben.

Eine Parole wird von irgendwo ausgegeben: »Alles unter Deck gehen. Der Angriff kann sich wiederholen.« Die Menschen rühren sich nicht von der Stelle. »Wenn wir doch fliehen, was kann uns dann geschehen?« Jakob kommt hinter dem Ruderhaus hervor. Er trägt seinen Mantel bis an den Hals geschlossen. »Wieso fliehen?« sagt er, »Vielleicht landen wir heute Nacht noch. Es ist alles Strategie.« Es klingt nicht sehr glaubhaft und nicht sehr überzeugend. Aber wer Hoffnung braucht, kann sie auch aus dem Zweifel heraussuchen. Langsam gehen die Menschen unter Deck. Die Toten tragen sie mit sich.

Nur Leo Flamm rührt sich nicht vom Fleck. Er hat die ganze Zeit wie gelähmt dagesessen. Er hat nie gewusst, was das Schicksal eines Volkes sei. Jetzt hat es sich mit flammenden Narben in seine Seele gebrannt. Hätte er an Gott geglaubt, er hätte in dieser Stunde mit ihm gerechtet und wäre von ihm fortgegangen. Er hätte ihm gesagt: »Dass solche Leiden läutern, ist eine Irrlehre, ein Ketzertum am Glauben von der Gerechtigkeit im Weltgeschehen. Solches Leiden macht nur stumpf und tötet die Seele ...«

Jakob tritt an ihn heran. »Nun, wollen Sie nicht unter Deck gehen?« Leo Flamm ist sogleich wieder in die Wirklichkeit zurückgedrängt. »Ich gehe gleich« sagt er. »Ich möchte nur noch sehen, wie Sie abfahren.« – Jakob weicht unwillkürlich zurück. »Was reden Sie für Unsinn ...« Er spricht nicht weiter. Vom Achterdeck kommen streitende Stimmen der Matrosen, ein Geschimpfe und Gefluche. »Ruhe da!« ruft Jakob. – »Ach Dreck Ruhe! Die Kurbel ist weg! Wir können das Boot nicht hieven.«

Leo Flamm steht auf. »Wozu wollen die Matrosen denn das Boot hieven?« fragt er erstaunt. »Wenn Sie nicht fahren wollen, wer denn sonst?« – Jakob steht eine Sekunde reglos. Er starrt Leo Flamm ins Gesicht. Er horcht der Stimme nach, als wollte er etwas daraus erkennen. Ein dunkler Argwohn steigt in ihm auf. »Haben Sie da die Hand im Spiel?« Es ist eine blanke Drohung. Flamm nimmt sie an. »Und wenn ich hätte?«

Mit einer zuckenden Bewegung greift Jakob in die Tasche und reisst den Revolver hervor. Im gleichen Bruchteil der Sekunde schlägt Leo Flamm ihm seine Faust mit aller Kraft unter das Kinn. Jakob taumelt und streckt die Hände nach Halt aus. Die Waffe fällt zu Boden. Flamm bückt sich, rafft sie auf, wirft sie über Bord, und steht schon wieder da, die Fäuste in Brusthöhe. Jakob hält sich an der Reeling fest. »Ein andermal rechnen wir ab« flüstert er. – »Einverstanden« sagt Flamm. »Aber erst nach der Landung. Erst werden Sie Ihre Pflicht tun. Dafür werde ich sorgen. Und nun gehen Sie unter Deck. Der Angriff könnte sich wiederholen, nicht wahr?«

Jakob schleicht davon. Leo Flamm hockt sich hinter die Bündelhaufen am Achterdeck und starrt auf das Meer. Er hat das untrügliche Gefühl, dass jetzt erst die Flucht beginnt, dass jetzt erst Schicksal sich lauernd an den Weg gestellt hat. Der Gedanke macht ihn müde, denn es ist ein Schicksal, das er für andere trägt. Und fremde Schicksale löschen das eigene aus. Was bleibt ihm von alle dem? Die Spannung, die Unruhe, das Horchen auf jeden Laut, die Halluzination, dass sich von überall verborgene Lichter heranschleichen, Scheinwerfer ... da ist wieder ein Licht hinter ihm ... Er dreht sich erschreckt um. Karola steht da. Sie hat eine Taschenlampe in der Hand. Sie hockt sich zu ihm hin. Sie sagt nichts. Sie legt ihren Kopf in seinen Schoss, Sie ist da. Das ist alles, was sie jetzt geben kann.

Er streichelt ihr Haar und schaut wieder über das Meer. Ihm scheint, als tauche aus dem Nachtgrau der Umriss eines grossen Segels auf. Er sieht schärfer hin. Da ist ein breites, hohes Segel. Und ein schwaches Licht. Von Zeit zu Zeit erlischt es. Es müssen Menschen daran vorübergehen. Das Segel nähert sich scheinbar in schräger Fahrt. Und plötzlich sieht er Licht aus einer Blendlaterne aufblitzen, rhythmisches Licht, eingeteilt in kurze und lange Zeichen. Leo Flamm versteht sofort: Morsezeichen. Er kennt sie von seinen Jugendspielen her. Er liest Buchstaben ab, reiht sie aneinander und begreift, dass hier in deutscher Sprache Zeichen gegeben werden: wer-seid-ihr?

Er zittert vor Aufregung. »Deine Lampe! Gib mir deine Lampe!« Er versucht sie. In der Nacht ist der Schein hell genug. Er versucht Antwort zu geben: Verstanden. Wer ruft? Juden? – Antwort: »Ja. Fischer. Zuverlässig«. Er beginnt zu signalisieren: ›Dreihundert Flüchtlinge. Schiff Emma, Rotterdam, zwei Tote an Bord ...‹ Er konzentriert sich darauf, in den denkbar kürzesten Ausdrücken zu sagen, was er diesen unbekannten Menschen mitteilen will. Vielleicht kann von ihnen Hülfe kommen. Aber es dauert so lange, bis ein Wort sich fügt. Und mit Schrecken sieht er, dass das Licht aus der kleinen Lampe schwächer und schwächer wird. Jetzt ist es nur noch wie ein Aufglühen, wie ein matter Funke. Er schüttelt sie in ohnmächtigem Zorn. Da verlischt sie ganz. Er sieht stumpf und hülflos vor sich hin. Vom Fischerboot her, das immer weiter zurückbleibt, kommt die Frage: Wohin fahrt ihr? Wohin?

Ja, wohin? Er weiss es nicht. Er hätte nicht antworten können, selbst wenn noch Licht aus der Laterne gekommen wäre. Irgendwohin, wie es die Weise der Flüchtigen ist. Er birgt den Kopf in die Hände. So hat er die Ohnmacht des Lebens noch nie verspürt. Ganz fern schon fragt das teilnehmende Licht: wo-hin? Er sieht nicht auf. Er hat nichts mehr zu antworten.

Der Morgen zieht leicht verhüllt auf. Es verspricht ein warmer Tag zu werden. Am Stand der Sonne und an der Richtung des Schiffes erkennt Flamm, dass sie Kurs nach Norden genommen haben. Die ersten Menschen kommen an Deck, bleich, verstört, übernächtig. Sie gehen still hin und her, so wie man in einem Trauerhause geht. Und dann kommt ein Zug die Schiffstreppe hinauf. Voran geht Baermann. Er ist in seinen Gebetmantel gehüllt. Tränen laufen ihm über das Gesicht und er lässt sie strömen. Dann trägt man die Toten der Nacht hinauf. Es sind zwei lange, unförmige, in Segelleinen gehüllte Bündel. An die Fussenden dieser Bündel hat man grosse Kohlebrocken gebunden, um ihnen die Reise in die Tiefe des Meeres zu erleichtern. Sie werden auf zwei lange Bretter gelegt, die über der Reeling schweben.

Es ist sehr still und man hört keinen Laut und kein Weinen. Baermann tritt an die Bündel heran, sieht auf sie herunter und beginnt mit leiser Stimme zu sprechen: »Wenn Gott euch fragt, wofür ihr gestorben seid ...« Seine Stimme bricht ab. Er zittert am ganzen Körper. Er bemüht sich, wieder zu sprechen. Aber es formen sich keine Worte. Alles schweigt mit ihm. Alles kämpft seinen ohnmächtigen Kampf mit ihm. Endlich gibt er es auf. Er reckt den Kopf zum Himmel auf und beginnt die alte Klage seines Volkes um die Toten der Zeiten: el male rachamim ... Gott voller Barmherzigkeit …

 


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