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IV.

In dem gleichen Hause, in dem die Theestube ist, im Süden der Stadt, hat Karola sich eine stille, schattige Wohnung eingerichtet. Eine volle Woche verbringt Leo Flamm dort. Die ersten Tage sind fiebrig und verdämmert. Dann sind sie gelassen, friedlich ausruhend. Er ist die meiste Zeit allein, liegt auf der Terrasse und schaut gedankenlos über das Meer. Wenn Karola aus der Theestube heraufkommt – zuweilen ist es schon nach Mitternacht – erzählt sie von dem Alltag, den sie da unten verbringt. Sie tut es halb wie im Spiel, mit Spöttereien gegen Gäste und Karikaturen von Lieferanten; und halb tut sie es sachlich, als wollte sie ihm Rechenschaft darüber ablegen, wie das Geschäft steht und was es einträgt.

Aber von sich selbst sagt sie nichts, was er nicht zu wissen verlangt; und sie fragt nichts aus ihm heraus, was er nicht sagen will. Er will nicht viel sagen, denn er kann nicht viel sagen. Wären die Ereignisse von gestern in ihm abgeschlossen, dann hätte er darüber sprechen können. Aber sie sind noch ungeordnet. Er ist noch nicht mit ihnen fertig. Je mehr er sich erholt, desto hartnäckiger wird in ihm die Vorstellung, dass er eine Niederlage erlitten hat. Er hat sich beiseite drängen lassen. Er hat das Feld geräumt. Er hat sich nicht behauptet. Aber was hätte er tun sollen? Er weiss die Antwort: er hätte in den Kreis dieser Menschen hineingehen und zusammen mit ihnen arbeiten sollen, um hinter das Gesetz, hinter die Triebkraft, hinter das Geheimnis ihres Lebens und ihres Verhaltens zu kommen.

Aber statt dieses Opfer zu bringen, ist er seiner Wege gegangen. Das ist bequem. Karola hat es sich nicht so bequem gemacht. Sie hat einfach die Dinge angepackt, wie sie sind, ohne etwas in sie hineinzutragen, was nicht in ihnen ist. Es ist ein Irrtum, zu glauben, dass hinter jedem Ding des Alltags eine Idee steckt. Es ist Sache der Narren und Phantasten, auf Enthüllungen zu warten, wo nichts zu enthüllen ist. Darum sind sie untüchtig für das Leben. Karola ist anders. Sie hat ihren Weg gefunden. Und er ... steht ausserhalb ...

Er weiss: das ist nicht wahr. Er spürt: sie ist in jeder Sekunde für ihn da, und sie hält immer unsichtbare Hände ausgestreckt. Aber er weiss nicht, wie er diese Gebärde der Bereitschaft und der Liebe annehmen soll. Dass einer von ihnen einen Weg gefunden hat, ist doch nicht genug, es sei denn, er sei so stark, dass er den anderen mit sich auf diesen Weg nehmen kann. Hier wäre es an ihm, stark zu sein, sich einen Weg zu bahnen und Karola zu sagen: Komm. Und da er das nicht sagen kann, schweigt er, während sein Herz immer schwerer und bedrückter wird.

Karola lebt alle diese Schwankungen seines Denkens und Fühlens mit. Es geschieht ihr zum ersten male in ihrem Leben, dass sie ohne jede Bedingung zu einem Menschen Ja sagt, und das gibt ihr Kräfte, von denen sie gestern noch nichts gewusst hat. Für sie hat das Leben in diesem Lande nicht damit begonnen, dass sie nach irgend welchen Ideen gesucht hat, dass sie irgend etwas von den Menschen erwartet und erhofft hat. Für sie hat es damit begonnen, dass sie einen Menschen liebt. Für sie liegt in dieser Begegnung mit Leo Flamm alles eingeschlossen, was ihr Herz vom Leben erwartet. Wenn sie es jetzt noch meistern könnte, ihn zur Ruhe zu bringen, ihn bei sich zu behalten, ihn innerlich und äusserlich frei zu machen: dann könnte man dieses Leben anpacken und gestalten.

Eines Abends, wie sie früher als sonst in die Wohnung hinaufkommt, legt sie ihm ein par Hefte hin, einfache Schreibhefte, wie Schüler sie benutzen. Sie sagt lachend: »Ich verstehe nicht viel von Buchführung. Aber ich habe gewissenhaft alles aufgeschrieben. Willst du es dir nicht einmal ansehen?«

Er öffnet erstaunt das erste Heft. Da sind mit grossen, deutlichen, etwas ängstlichen Schriftzügen Notizen und Ziffern eingetragen. Vornean steht ein Datum. Es ist das Datum, an dem das Schiff an die Küste gekommen ist. Darunter steht: ›Empfangen von L. F.  ...‹ und dahinter eine Summe Geldes.

Er lässt das Heft sinken. »Was ist das?« fragt er mit halber Stimme. Sie neigt sich vor. »Das? Das ist das Geld, das ich für dich mitgenommen habe.« – »Für mich mitgenommen?« – »Ja. Du hast es mir doch in den Koffer gelegt. Ich sollte es doch für dich aufheben, nicht wahr?« Er schweigt beklommen. Karola nimmt seine Hand. »War es nicht so gemeint? Du wolltest mir doch nicht Geld in die Hand drücken und mich auf den Weg schicken, nicht wahr? Du hast doch gesagt: Wir sehen uns später ...« Er nickt und fühlt eine unendliche Scham in sich brennen.

»Ich habe gewusst, Liebster, dass du eine zeitlang alleine sein wolltest. Inzwischen bin ich dahin gegangen, wohin man mich geschickt hat. Es war sehr schön in Giwath ha'ilanoth. Ich liebe Bäume und Tiere. Ich bin damit aufgewachsen. Ich habe Freude an der Landarbeit. Sie ist nicht zu schwer für mich. Ich wäre auch sehr gerne dort geblieben ...«

Leo Flamm erinnert sich seines Besuches in Giwath ha'ilanoth. Da ist noch eine Frage in der Schwebe geblieben, die er nicht fragen konnte. Vielleicht ist es besser, sie ungefragt zu lassen. Aber das ergäbe eine Unsicherheit, die dieses einfache, offene Gespräch nicht verträgt. »Warum bist du fortgegangen?«

Karola seufzt, so wie eine Mutter über ein Kind seufzt, das ihr Sorgen macht. »Wie konnte ich da bleiben? Wie ich deinen zweiten Brief gelesen habe, da habe ich dich plötzlich ganz deutlich vor mir gesehen, dich und die Pension und die Menschen darin, und die Pläne, die sie alle machen, und wie du ihnen doch glaubst ... mit dem Herzen, weisst du, nicht mit dem Gehirn ... Ich habe mir gesagt: irgend etwas wird er tun, was seine Phantasie reizt, was schön ist und gut ... und unvernünftig. Und da habe ich Angst bekommen: wenn ich das Geld einmal verliere, das er mir anvertraut hat Ich habe auch Angst gehabt, es irgendwo anzulegen. Ich weiss ja nicht, wem ich trauen kann. Und so habe ich es selber angelegt. Das schien mir am einfachsten und sichersten.«

Karola hat sich in Eifer geredet. Sie durchlebt alle Stadien dieser Sorgen und Entschliessungen noch einmal, und sie verrät damit, wie sie alles auf ein Ziel abgestellt hat: ihm ein Stück Sicherheit vorzubereiten, als Ausgleich für die Möglichkeiten, die sie für ihn befürchtet hat. »Weisst du: man kann die Theestube jeden Tag verkaufen, sogar mit Gewinn. Sie hat einen guten Namen. Aber es eilt nicht. Du kannst es dir in Ruhe überlegen. Wenn es in den chemischen Fabriken keine Arbeit für dich gibt, kannst du dir vielleicht eine Drogenhandlung dafür kaufen. Aber es eilt nicht. Wir haben ja Zeit ...«

Sie sagt es immer wieder: »Wir haben ja Zeit.« Es klingt zuversichtlich. Aber sie hat doch Angst dabei. Sie horcht vergeblich in sich hinein. Irgend etwas will sich nicht so fügen, wie sie es erwartet hat. Leo Flamm blättert in den Heften, als wolle er das Plus und Minus der Theestube ergründen. Aber seine Gedanken sind anderswo. Er weiss wohl: was Karola ihm vorschlägt, ist gut und praktisch und vernünftig. Es sichert seinen Alltag. Es würde ihn sichern ... wenn er nicht viel zu verschlossen und trotzig wäre, Hülfe anzunehmen. Es würde ihn über alle Konflikte und Probleme hinausheben ... wenn er nicht zugeben müsste, dass er garnicht den Willen hat, ihnen auszuweichen. Er hat mit der Sachlichkeit kokettiert. Jetzt grinsen ihn alle seine sachlichen Entschlüsse höhnisch an: na, wie wäre es, Freund Flamm, wenn wir jetzt auf dem Markt des Lebens erscheinen, und mit Fäusten und Ellenbogen um uns schlagen?, wenn wir uns Platz machen, uns Stellung, Beruf, Verdienst, Sicherheit erkämpfen?, wenn wir uns um niemand kümmern als um uns selbst?, wenn wir uns mit tiefem Pathos sagen: ich habe die moralische Pflicht, für das eigene Nest zu sorgen?, wenn wir uns ein wenig in den Phrasen des Gemüts und der Rechtlichkeit üben, mit denen die Gemütlosen und die Unrechtlichen Fangball spielen?

Leo Flamm legt die Hefte beiseite. »Glaubst du, Karola: wenn ein Mensch eine Welt verloren hat, in der er einmal gelebt hat ... ich meine: eine Welt, in der er wirklich gelebt hat ... mit seinen Gedanken und seiner Liebe, mit seinen Wünschen und Hoffnungen ... was glaubst du: kann er sich dann eine andere Welt dadurch aufbauen, dass er sich ... einen Laden einrichtet, und an dem vorüber geht, was ein neues Leben sein kann?«

Karola senkt den Kopf. Jetzt weiss sie, was in ihm vorgeht. Sie sagt mit tiefer Stimme: »Nein. Er kann es nicht.«

Wie sie am folgenden Abend in die Wohnung hinaufkommt, ist Leo Flamm nicht mehr da. Sie weiss: er ist fortgegangen. Sie erschrickt nicht. Kaum, dass sie es anders erwartet hat. Jetzt wird er noch einmal versuchen, sich in das Leben hineinzubeissen. Er wird noch einmal den Zusammenstoss erleben, der eintreten muss, wenn ein Glaube und eine Wirklichkeit sich treffen. Und dann wird er zu ihr heimkommen. Sie weiss es. Und sie beginnt, alles auf diesen einen Tag auszurichten. –

Leo Flamm ist schon in den Morgenstunden fortgegangen. Dieses Fortgehen ist ein Ausweichen vor einer neuen Niederlage. Er hat gegen die Versuchung anzukämpfen, sein Leben auf eine Bahn ohne Widerstand, auf ein totes Geleise zu schieben. Aber die Verlockung darin ist dennoch gross. Sie wächst mit jeder Minute, da er wieder durch die heissen Strassen geht. Es gelüstet ihn nicht, die Erfahrung der letzten Woche zu wiederholen. Wenn er jetzt noch einmal trotzig davon geht, dann muss es schon einen greifbaren Sinn haben. Aber der Sinn ist nicht da, weil er sich keine klare Aufgabe gesetzt hat. Was will er jetzt eigentlich beginnen? Wenn er den Mut hätte, jetzt zurückzugehen, dann würde Karola es ihm sagen. Aber er hat den Mut nicht. Zum Mut gehört, dass einer volles Vertrauen zu sich selbst hat, und auch dieses Vertrauen hat er nicht.

Er steht vor einem Hause und sieht nachdenklich in den Korridor hinein. Das Haus scheint ihm bekannt. Da hört er über sich eine Stimme rufen: »Ja, ist schon richtig.« Er schrickt zusammen. Das ist Frau Simsons Stimme. An Frau Simson hat er in all diesen Tagen nicht gedacht. Gewiss hat er den Gedanken an sie verdrängt, weil sie gesiegt hat. Aber er neidet ihr den Sieg nicht mehr, da er bereit ist, aus seiner Niederlage zu lernen.

»Sie wollten zu mir, nicht wahr?« ruft Frau Simson vom Balkon herunter. Er will nicht ja und nicht nein antworten. Er sagt statt dessen: »Kann ich einen Augenblick zu Ihnen hinaufkommen?« – »Zu mir können Sie immer kommen« schreit sie mit ihrer barschen Stimme.

Frau Simson hat zum ersten male ihre Gelassenheit verloren. Sie schluckt vor Aufregung. Sie nimmt ihn wie ein Kind bei der Hand und führt ihn in das Zimmer, in dem er gewohnt hat. Sie sieht ihn mit einer verdrossenen Nachdenklichkeit an. »Na, weggelaufen?«

»Von wem weggelaufen?« fragt er überrascht. Frau Simson hat wieder ihr altes Gleichgewicht der Aggressivität gefunden. »Na, tun Sie doch nicht so dumm. Von Karola natürlich. Ja, jetzt sperrt er den Mund auf. Sie meinen wohl, ich wüsste von nichts? Merken Sie sich eines: Frauen sind die geborenen Detektive. Aber wenn Sie sich da nur aufpäppeln lassen, um nach acht Tagen wieder wegzulaufen, dann hätten Sie ja gleich zu mir kommen können. Aber ich bin ja nur eine Zimmervermieterin ...«

Leo Flamm nimmt ihre schwere Hand. »Ich muss etwas mit Ihnen bereden. Etwas sehr ernstes und dringliches. Darf ich?« – »Eigentlich nicht« brummt sie. »Es ist unfair gegen Karola.« Er schüttelt den Kopf. »Das sind zwei ganz getrennte Gebiete. Hier handelt es sich um ein Problem ...«

Sie äfft ihm nach. »Problem! Sie haben sich ja schon ganz gut eingewöhnt. Sie reden ja schon genau so wie die anderen. Problem! Wenn die nicht gerade Stroh oder Ziffern im Kopf haben, haben sie Probleme darin. Wenn ihr wüsstet, wie komisch ihr wirkt, ihr ... Gehirnakrobaten! Könnt ihr überhaupt noch unbefangen leben, so wie ein normaler Mensch lebt: mit dem Herzen und mit dem Gefühl und mit dem Gewissen?«

Leo Flamm ist tief betroffen. »Vielleicht ist etwas richtiges darin. Wahrscheinlich sind wir alle schon sehr degeneriert. Aber man muss doch auch damit fertig werden, nicht wahr? Wenn Sie mich nur einmal anhören wollten, dann möchte ich Ihnen etwas erzählen ...«

Er beginnt zu erzählen, sehr zögernd, sehr sachlich, und ohne sich selbst dabei zu schonen. Frau Simson hat den Kopf seitwärts geneigt und hört aufmerksam zu. Dann sagt sie: »Alles, was Sie da treiben, ist Kinderei. Ich persönlich bin nicht objektiv, denn ich liebe solche Kindereien. Und ich bin dafür, dass Kinder ihren Willen bekommen, damit sie aus der Erfahrung lernen. Das Vernünftige wäre, sich jetzt eine Drogerie zu kaufen und langsam Kalk anzusetzen, Schön ist es nicht.«

»Und was wäre schön?« fragt Flamm. – »Schön wäre es, die andere Seite von Palästina kennen zu lernen. Gehen Sie auf das Land. Arbeiten Sie dort. Unsere Städte liegen alle in Europa. Und in keinem guten Europa. Aber auf dem Dorfe finden Sie hier und da Spuren ... vom Heiligen Lande.«

Flamm fragt vorsichtig: »Sie meinen wirklich, ich sollte in eine Gemeinschaftssiedlung hineingehen ...« »Das meine ich nicht. Da passen Sie nicht hinein. Es gibt private Dörfer, wo Sie bei Bauern arbeiten können. Ich werde Sie nach Bejt Amal schicken. Da ist es gut. Da sind Sie auch nicht so ... fremd. Da sind Menschen, die aus Ihrem Milieu kommen. Da werden viele als Bauern trainiert. Ich gebe Ihnen einen Brief mit. Mein Junge hat da auch gearbeitet.«

Leo Flamm hat lebhafte Erinnerungen an den Tag seiner Landung. »Ja, auf ein Dorf möchte ich gehen. Aber bitte: ich möchte schnell gehen. Ich kann die Strassen nicht mehr sehen. Ich muss vom Pflaster herunter kommen! Es bringt mich um!«

Schon am frühen Nachmittag macht er sich auf die Fahrt. Frau Simson bringt ihn an den Autobus. Da hilft kein Wehren. »Meinen Jungen habe ich immer zum Autobus gebracht. Warum soll ich ein fremdes Kind nicht auch hinbringen?«

Der Tag ist noch hell, wie der Autobus von der Landstrasse in den Dorfweg einfährt. Bejt Amal liegt auf einer geringen Anhöhe. Es ist in grossen Kreisen mit vielen Häusern, vielen Bäumen und vielen Wegen um einen Mittelpunkt aufgebaut. Es wirkt wie ein wohlhabendes, geschäftiges Dorf. Es hat den guten Geruch von Land und Stallungen. Es hat die guten Farben von Gärten und Beeten, von Obstbäumen und Blumen. Es hat ein Gesicht von Mühe und Ertrag, von Arbeitsamkeit und Fruchtbarkeit. Leo Flamm gewinnt es schon lieb, wie er da in den Strassen steht, den Brief in der Hand, etwas ungelenk und freudig aufgeregt.

Er fragt sich nach dem Hofe des Bauern Salman Neiger durch. Er liegt im mittelsten Ring des Dorfes, im Bau und in der Anlage ganz gleich den übrigen Häusern und Stallungen, und doch von ihnen unterschieden. Das Tor ist offen, da die Torpfosten zur Seite gesunken sind. Im Hofe sieht es aus, als habe seit Monaten kein Besen ihn berührt. Über dem Hause liegt ein leichter Hauch von Verfall. Hier und da ist der Verputz von den Wänden gefallen, eine Stufe eingesunken, eine Bank in sich zusammen gefallen. Es sind alles nur kleine Dinge. Aber zusammen ergeben sie einen ersten Eindruck: hier fehlt eine arbeitende, ordnende Hand.

An der Seite des Hauses ist eine offene, hölzerne Veranda. Dort sitzt eine Frau an einem Tisch und putzt Gemüse. Sie tut es mechanisch. Neben ihr auf dem Tisch liegt ein Buch, in dem sie gleichzeitig liest. Sie hört Schritte im Hof und hebt graue, verschleierte Augen. Sie sieht einen jungen Menschen dort stehen, der nicht zum Dorfe gehört. Mechanisch glättet sie die Haare, leicht grau getönte Haare, die einmal blond gewesen sein mögen. Leo Flamm geht auf sie zu und steht diesseits der Holzbrüstung. Er hält den Brief in der Hand. »Hier wohnt Salman Neiger?« Sie nickt. »Neiger ist noch auf dem Feld. Wollen Sie etwas von ihm?« – »Ja. Ich möchte bei ihm arbeiten. Hier ist ein Brief.«

Riwka Neiger nimmt den Brief, reisst ihn sorglos auf und fliegt darüber hin. Ihre Augen verschleiern sich noch mehr. Sie sieht Leo Flamm prüfend an. Der Blick ist beinahe feindselig. »Anstelle von Hans Simson?« fragt sie. Flamm versteht nicht. »Frau Simson hat mir den Brief gegeben ...« Sie unterbricht gereizt: »Das sehe ich ja. Also Sie wollen Hans Simson ersetzen?« Er weiss keine Antwort. Er will niemanden ersetzen. Er will arbeiten. Frau Neiger sieht wieder auf ihre Arbeit. Es kämpft etwas in ihrem Gesicht. Sie fragt: »Was hat Frau Simson Ihnen erzählt?« – »Worüber denn?« – »Ist schon gut« sagt Riwka Neiger leise. Aber dann stösst sie plötzlich heraus: »Für Hans Simson gibt es keinen Ersatz!«

Leo Flamm spürt Zusammenhänge. Aber er will sie nicht zur Kenntnis nehmen. »Soll ich hier auf Neiger warten?« fragt er. Sie nickt. Da wendet er sich dem Hofe zu, den Stallungen, den Hühnerhaus. Es ist alles so interessant, dass es ihm nicht in den Sinn kommt, Frau Neiger könne ihm anbieten, auf der Veranda Platz zu nehmen, etwas zu trinken, etwas zu essen.

Neiger kommt bald. Er ist ein gedrungener, vierschrötiger Mann mit bedachten und langsamen Bewegungen. Ein grauer, dichter Bart reicht ihm bis an die Brust. Er hält eine Zigarette zwischen den Lippen, und sie bleibt dort hängen, während er spricht. Dann dringt der Rauch in aufgelösten Schwaden durch die Barthaare. Seine Augen sind in unendlich viele Falten eingebettet und blicken scharf, misstrauisch, schlau. Er prüft zunächst einmal die Gestalt des neuen Arbeiters, ob sie wohl Kraft genug verrät. Die Prüfung geht gut aus. Dann geht er direkt auf das Ziel los. »Lohn kann ich nicht zahlen. Sie sind Anfänger. Und der Hof bringt nicht viel ein. Sie bekommen ein Zimmer und Essen. Frau Neiger ist eine gute Köchin ...« Seine Stimme hat nichts von ihrer bedächtigen Langsamkeit verloren. Es ist nicht zu unterscheiden, ob sie ernsthaft oder spöttisch ist. Leo Flamm sieht nur an Frau Neigers unwilliger Gebärde, dass hier ein Spott beabsichtigt war.

»Ich bin bereit, ohne Lohn zu arbeiten« sagt er. Neiger lässt Rauchwolken aufsteigen. »Ihr Vorgänger, der Hans Simson, hat Lohn bekommen. Er war ein guter Fachmann. Schade, dass man ihn totgeschossen hat. Er konnte den Salman Neiger vertreten, in jeder Beziehung.« Wieder ist die Stimme langsam und unbeteiligt. Aber Frau Neiger steht auf und geht in das Haus. Neiger fährt fort. »Es arbeitet noch ein Bursche aus der Jugendgruppe bei mir, der Nachum. Er wird Sie anlernen. Und nun will ich Ihnen Zimmer zeigen.«

Das Zimmer ist nicht im Hause. Es ist auch nicht eigentlich ein Zimmer. Es ist einer jener Möbelverschläge, in denen Einwanderer der Urväter Hausrat mitzubringen pflegen und die im Lande den Namen Lift führen. Er steht im Obstgarten zwischen Orangenbäumen. Ausser einem Feldbett steht nichts darin. »Es war noch ein Schrank da. Aber den hat Nachum sich ausgeborgt« sagt Neiger bedauernd. Leo Flamm fragt: »Hat Hans Simson hier auch gewohnt?« Über Neigers Gesicht kriecht eine Rauchwolke. »Das geht Sie nichts an« sagt er und speit den Rest der Zigarette zu Boden. »Um 7 Uhr wird Abendbrot gegessen.« Dann geht er.

Leo Flamm ist entschlossen, sich um nichts als seine Arbeit zu kümmern. Die Bedingungen sollen ihn nicht drücken. Allerdings wehrt sich in ihm ein Drang zur Ordnung und eine Liebe zur Form gegen den allzu kahlen Raum. Er findet im Wagenschuppen einige alte Kisten und, verstreut hier und da, Tischler-Werkzeug. Noch vor dem Abendessen gelingt es ihm, einen Tisch, einen Stuhl und eine Borte schlecht und recht herzurichten. Damit ist die Illusion eines Wohnraumes geschaffen. Zugleich laufen Pläne für den weiteren Ausbau durch die Handreichungen.

Das Abendessen wird auf der Terrasse eingenommen. Neiger sitzt schwer und gelassen da, ein Stück Scholle, unter dem Gedanken ruhen. Er verschlingt Mengen, die Leo Flamm zum Staunen bringen. Frau Neiger ist schweigsam und abweisend. Sie rührt kaum etwas von den Speisen an. Von Zeit zu Zeit streift sie mit ihrem grauen Blick den neuen Arbeiter. Die Falten über ihrer Stirne vertiefen sich. Es kostet Leo Flamm einigen Zwang, zu essen. Die Luft ist so mit Spannung geladen, dass sie bedrückt. Aber er stärkt nur seinen Entschluss, nichts von diesen Dingen zur Kenntnis zu nehmen. Er hat hier das Handwerk des Bauern zu lernen, sonst nichts. Also bleibt nur der Weg, sich in sich selber abzuschliessen und sich mit einem Schutzwall der Gelassenheit zu umgeben.

Das gelingt ihm in einem Masse, dass er zusammenschrickt, wie Neiger ihn anspricht. »Sie können tischlern?« – »Ja.« – »Fachmännisch?« – Unwillkürlich über nimmt Leo Flamm die kurze Sprechweise: »Ausgebildet.« Neiger gräbt Erde unter seinen Fingernägeln hervor. »Sie bauen sich da einen Salon, ja?« – »Es kommt auf den Maasstab an, den man anlegt.« Neiger nickt zustimmend: »Ich lege den Maasstab des Bauern an. Wir haben genug notwendige Dinge zu tun. Das sind so Spielereien von Stadtmenschen. Import von Westeuropa. Kokettieren mit Aesthetik und so.« Leo Flamm antwortet nichts. Jetzt versteht er den Sinn der eingesunkenen Torpfosten, der schadhaften Schwelle, des ungefegten Hofes. Es ist nicht das Fehlen einer ordnenden Hand. Es ist das Fehlen eines Willens zur Ordnung. Aber er schweigt. Frau Neiger sieht ihn an. Sie schüttelt kaum merklich den Kopf und steht auf. Neiger sitzt noch eine Weile rauchend, nachdenklich, abwesend da. Dann steht er auf und geht über den Hof, durch das Tor, auf die Strasse und in das Dorf hinein.

Flamm sitzt da und vergisst die Menschen und ihren verborgenen Hader. Die Welt wird friedlich und füllt sich, wie die Stille des Abends tiefer wird, mit den Geräuschen eines Bauernhofes. Ein Maulesel stampft im Stall. Kühe brummen. Aus dem Hühnerstall bricht von Zeit zu Zeit sinnloses, aufgescheuchtes Gackern. Von den Feldern her hört man Schakale grell, hungrig, mit dummer Aufdringlichkeit heulen. Der Himmel überwirft sich mit blassem Blau, das grün hinter einer versinkenden Sonne her verdämmert. Dann werden die ersten Sterne hell, strahlend angezündet. Leo Flamm geht zu seinem ›Salon‹ im Obstgarten. Er hockt noch eine Weile vor der Türe, still, der Landschaft, der Erde, dem Grün der Bäume willig ausgeliefert. Dann legt er sich müde und zufrieden schlafen.

Mit dem Morgendämmern steht er auf. Vom Hofe her hört er schon Stimmen. Neiger spricht, und eine sehr junge Stimme antwortet. Es ist Nachum, ein kräftiger Bursche mit zerzaustem Haar und vergnügtem Gesicht. Er sieht Leo Flamm von der Seite an und strahlt. »Na, Ihnen wünsche ich viel Glück.« – »Wieso?« – »Bei dem alten Neiger müssen Sie genau so viel arbeiten, wie Sie Muskeln haben, Haben Sie sich schon Ihr Frühstück verdient? Noch nicht? Na, dann wollen wir mal Mais schneiden gehen. Wenn der Wagen voll ist, dürfen Sie frühstücken.«

Er spannt die Maultiere vor den Ackerwagen, steht gespreizt da und treibt die Tiere mit wildem Geschrei und heftigem Peitschknall zum Galopp an. Leo Flamm hockt auf dem Boden und wird hin und her geschleudert. Nachum lacht und jagt die Tiere. Andere Wagen treffen auf der Dorfstrasse zu ihnen. Auf den meisten sitzen junge Burschen und Mädel. Sie grüssen sich mit Geschrei und veranstalten Wettrennen, bis sie sich auf die einzelnen Felder verteilen.

Leo Flamm lernt Mais schneiden und den Wagen beladen. Er lernt den Kuhstall reinigen und die Kühe füttern. Er lernt Unkraut hacken und Gemüse ernten. Er lernt die vielen hundert Handgriffe, aus denen die Arbeit eines Bauern sich zusammenfügt. Er ist in der ersten Woche nichts als eine rastlos arbeitende Maschine, die am Abend vor Müdigkeit den Dienst versagt. Was er denkt und beobachtet, vollzieht sich fast ohne Bewusstsein. Nur langsam fügen sich die Eindrücke zu festen Vorstellungen zusammen. Es wird ihm immer mehr deutlich, dass hier drei Gruppen von Menschen leben. Da sind diejenigen, die als Bauern dieses Ortes erkennbar sind. Und da ist eine Schicht von erwachsenen Menschen, die nicht wie Bauern wirken, auch wenn sie deren Arbeit verrichten. Flamm hat wenig Gelegenheit, mit ihnen zu sprechen, und Neiger sieht es auch nicht gerne. Aber soviel findet Flamm aus Bruchstücken der Gespräche heraus, dass sie Flüchtlinge Europas sind. Das Dorf hat sie aufgenommen, und da arbeiten sie, ohne Lohn, nur für das Essen und Trinken und ein Blechdach über dem Kopfe. Und da ist endlich eine Schicht von jungen Menschen, Jugendgruppen, aus den Verfolgungen des Exils gerettete junge Menschen, die hier zu Bauern ausgebildet werden.

Dieser Gruppe begegnet er im Laufe der ersten Wochen überall. Sie scheint – neben den alten Bauern – das Gesicht dieses Dorfes zu bestimmen. Die Flüchtlinge wirken dazwischen wie eine Schicht, die morgen verschwunden oder aufgerieben sein wird. Leo Flamm hält sich von ihnen fern, vielleicht unabsichtlich, vielleicht aus einer unbewussten Gegenwehr gegen die Erinnerungen seiner Reise über das Meer. Aber was ihn lebhaft anzieht, ist diese Jugend und das Bild des Morgigen und Zukünftigen, das sie in ihm wachruft. Er beneidet Nachum darum, dass er in einer solchen Gruppe lebt. Nachum sagt ihm: »Wir wundern uns schon lange, dass Sie nie zu uns herauskommen. Sie sollten uns einmal am Schabbat besuchen. Wir sind draussen neben der Schule, im Zeltlager.«

An einem Schabbat, wie die Morgenarbeit getan ist, macht Leo Flamm sich auf den Weg. Dabei entdeckt er einen ganz neuen Teil des Dorfes. Neigers Felder liegen im Osten, in das Tal hinein. Und mehr als diesen einen Weg ist Flamm noch nicht gegangen. Neiger findet immer irgend eine Arbeit für ihn, die gerade jetzt getan werden muss. Auch heute hat Neiger hinter ihm her gerufen, aber er hat es überhört, und Neiger hat sich offenbar mit dieser stillschweigenden Verneinung zufrieden gegeben. Jetzt geniesst Leo Flamm es doppelt, durch die unbekannten Wege wie ein Entdecker kleiner Dinge zu gehen.

Neben der Schule sieht er ein Zeltlager. Es umrahmt einen runden Platz. Dort sitzen Burschen und Mädel im Kreis auf dem Boden und hören einem älteren Manne zu, der zu ihnen spricht. Im Zentrum des Kreises erhebt sich ein Mast, und an seiner Spitze weht eine rote Fahne.

Leo Flamm bleibt in einiger Entfernung stehen. Er empfindet eine Scheu, da zu stören. Es kümmert sich auch keiner um ihn. Der Kreis dieser jungen Menschen wirkt so geschlossen und in sich gebunden, dass er alle auszuschliessen scheint, die nicht zu ihm gehören. Leo Flamm schaut alle Gesichter prüfend an. Er kennt viele von ihnen aus der Nähe der Arbeitsplätze. Aber Nachum ist nicht unter ihnen. Er tritt verlegen auf die Strasse zurück, und da sieht er etwas entfernt, jenseits der Schule, ein zweites Zeltlager. Er geht dorthin. Auch da sind die Zelte im Kreis geordnet und lassen einen Raum frei. Auch in diesem Raume sitzen Burschen und Mädel auf der Erde und hören einem Menschen zu, der zu ihnen spricht. Und auch hier ragt ein Mast auf und an seiner Spitze flattert eine blau-weisse Fahne. Das gleiche Fluidum abwehrender Geschlossenheit geht von dem Kreis aus. Aber aus dem Kreis hebt sich eine Hand und winkt. Das ist Nachum. Leo Flamm geht zu ihm und hockt sich neben ihm auf den Boden.

Der Mann, der in der Mitte des Kreises steht, ist hager und gebückt. Er spricht mit langsamer, etwas keuchender Stimme. Er hat gerade von den Anfangsjahren dieses Dorfes erzählt, von Steinen und Dornen, von Fährnis und Fieber, von Opfer und Aufbau. Es packt. Es ist etwas von Unbedingtheit und Kraft darin. Es schwingt eine menschliche Note mit. Es ist eine Legende vom Kampf der Brüder um Boden und Leben. Es ist ein Märchen vom Heldentum, ein bescheidenes, aber ein ehrliches. Aber der Erzähler selbst sieht müde und gebrochen aus. Leo Flamm hat ihn nie im Dorfe gesehen. Das Gesicht ist so leidend, dass Leo Flamm sich flüsternd zu Nachum wendet: »Wer ist denn das?« – »Der kleine Josef. Wie er wirklich heisst, weiss ich nicht.« – »Er wohnt hier im Dorf?« – »Nein. In Tel-Aviv.« Leo Flamm wundert sich. »Ist er ausgeschieden?« Nachum nickt nur. Mehr weiss er nicht.

Der kleine Josef berichtet jetzt, warum er hier zur Jugend gekommen ist: im nächsten Monat wird das Dorf 25 Jahre alt. Darum soll ein Fest gefeiert werden. Freunde aus dem ganzen Lande werden kommen. Eine Ausstellung soll zeigen, was geleistet worden ist. Die Jugend aber soll ihre Kraft zeigen und ein Sportfest der Jugend, der Generation von morgen veranstalten.

Leo Flamm ist von allem, was er gehört hat, so mitgerissen, dass er sich selber angesprochen fühlt, als gehöre er zu diesen jungen Menschen und als müsse er selber morgen auf den Sportplatz gehen, um an diesem Bild der Generation von morgen mitzuwirken. Wie der kleine Josef sich mit unsicheren Schritten aus dem freien Platz heraus an den Rand des Platzes begibt, wartet er voll Spannung, voll Neugierde auf irgend eine Fortsetzung, eine Antwort, eine zweite Rede, einen Ausbruch der Teilnahme oder der Begeisterung und Zustimmung. Aber nichts dergleichen erfolgt. Eine Weile herrscht Schweigen. Dann erhebt sich einer der Burschen und sagt: »Wir vom Sportverein Schimschon sind bereit, mitzumachen. Aber wir müssen erst unsere Zentrale fragen, ob wir gegen die Leute von Gideon spielen dürfen.« Der kleine Josef nickt, als wäre das eine ganz alltägliche Erwägung. »Wir werden ein neutrales Komitee gründen. Jeder Verein bekommt die gleiche Anzahl von Stimmen. Für dieses spezielle Fest werden alle politischen Fragen ausgeschaltet.«

Aber damit ist es nicht getan. Das Gespräch geht weiter, aber nicht über das Fest, nicht über seinen geistigen Inhalt, sondern über Komitee, Verteilung der Stimmen, Entscheidung bei Streitigkeiten, Vertretung nach aussen ... Leo Flamm horcht hell auf. Er reibt sich vor Ungeduld die Hände. Spricht hier die neue Jugend eines neuen Landes oder diskutieren hier politische Greise? Geht es um Menschen einer neuen Zeit oder um Mitglieder gestriger Gruppen? Er geht, wie die Versammlung abgebrochen wird, mit Nachum durch das Dorf. Er fragt: »Habt ihr eigentlich mit den Anderen da drüben Streit gehabt?« – »O nein« sagt Nachum. »Wir haben garnichts mit einander gehabt. Es sind die prinzipiellen Unterschiede. Es sind weltanschauliche Dinge. Es sind politische Differenzen. Weiter nichts.«

Flamm sieht ihn von der Seite an. »Ja, sag mal, und dann ... dann könnt ihr nicht ohne weiteres zusammen Fussball spielen?« Nachum bleibt vollkommen ernst: »Natürlich nicht. Glaubst du, dass wir auf den Spielplatz gehen, wenn die anderen die rote Fahne rausstecken?« Leo Flamm sagt: »Und die werden nicht kommen, wenn ihr die blau-weisse Fahne raussteckt?« Nachum antwortet gelassen: »Natürlich nicht.«

Dieses ›natürlich nicht‹ irritiert Leo Flamm. Ihm scheint es so durchaus unnatürlich. Da sind junge Menschen, vom Fluch der Verbannung einer Heimat zugetrieben, und stehen noch kaum auf eigenen Füssen, und sind schon in Lager zerspalten, reden schon von Weltanschauung, von Politik, von prinzipiellen Unterschieden. Aber vielleicht ist es doch natürlich? Er kennt sie nur, wenn sie arbeiten. Aber er kennt sie nicht, wenn sie denken, fühlen, empfinden. Was aber kann da so verschieden sein? Ist ihnen nicht vom Schicksal mit gleichem Masse zugemessen worden?

Die Neugier wird in ihm wach. Wie sie am zweiten Zeltlager vorüber kommen, sagt er: »Da ist Michael. Ich möchte ihm mal guten Tag sagen.« Nachum bleibt sogleich stehen. »Wie du willst« sagt er steif, wendet sich um und geht zurück. Es ist sichtbar, dass er gekränkt ist. Aber auch Michael, mit dem Leo Flamm jeden Morgen auf dem Wege zum Acker zusammentrifft, ist zurückhaltender als sonst. »Sie waren schon drüben?« fragt er und zeigt mit dem Kopf zum Lager von Schimschon. »Ja. Ich habe den kleinen Josef reden hören. Weisst du, wer er ist?«

Michael verzieht das Gesicht. »Ja. Ein Bürgerlicher. Ein Renegat. Erst war er Sozialist. Hat das Dorf mit gegründet. Jetzt hat er einen Posten in Tel-Aviv und gehört zu den Allgemeinen Zionisten.« Leo Flamm schüttelt den Kopf. »Davon verstehe ich nichts.« Michael zuckt überlegen die Schultern: »Das muss man eben verstehen, wenn man Land und Leute kennen lernen will.«

Leo Flamm schaut um sich. Da ist Lärm und Bewegung und Fröhlichkeit. Da hausen junge Menschen in primitiven Zelten und scheinen froh und unbesorgt. Da scheint die Sonne über Gärten und Felder, und ein Feiertag, ein Ruhetag geht mit gemessenen Schritten durch das Dorf. Aber da sind zwei Zeltlager, zwei Fahnen, zwei Namen von Helden aus dem Umkreis der Bibel, und zwei Welten. Leo Flamm verspürt keine Lust, sich den Ruhetag durch die zwei Zeltlager verstümmeln zu lassen. Er nickt freundlich. »Du hast Recht. Ich bin noch zu unerfahren.« Er grüsst und geht fort.

Michael schaut ihm zweifelnd nach. Irgend etwas gefällt ihm nicht daran, dass dieser Flamm in das Lager von Schimschon geht und dann zum Lager von Gideon kommt. Die Leute von Schimschon machen sich immer gleich an die Flüchtlinge heran. Es ist Material, das man leicht fangen kann. Sie sind ehemalige Kleinbürger, die nie in einer jüdischen Jugendgruppe, nie in einer jüdischen Partei waren. Die lassen sich überreden. Man braucht ihnen nur etwas von der jüdischen Nation und von der Einheit des Volkes und vom Aufbau des Heiligen Landes und ähnlichen Phrasen zu erzählen. Das genügt. Weltanschauung haben sie ja nicht. Die brauchen sie bei Schimschon auch nicht. Aber bei Gideon brauchen sie eine reale Weltanschauung. Da muss man Gesinnung haben, den Glauben an den Sozialismus als das Heil der bankerotten menschlichen Gesellschaft, an das Recht des Arbeiters, der alles schafft, an die Macht der Masse, die Gerechtigkeit auf Erden walten lässt und die Armut abschafft und alle Kriege verhindert.

Und jetzt haben sich die Schimshoniten an Leo Flamm heran gemacht. Dieser Flamm ist undurchsichtig. Er ist immer freundlich, ein wenig zurückhaltend, ein wenig überlegen. Das mag daran liegen, dass er viel älter ist als die Mitglieder der Jugendgruppen. Seinem Herkommen nach ist er aber auch ein Bürger. Er hat bürgerliche Manieren. Er geht am Schabbat mit einer Krawatte spazieren. Und er trägt einen weissen Leinenrock. Wie gesagt: ein typischer Bourgeois. Aber gebildet scheint er zu sein. Es wäre schade, wenn er Schimschon in die Hände fiele. Man sollte sich doch um ihn kümmern. Man müsste die rote Malkah einmal auf ihn hetzen. Malkah ist unübertrefflich in Diskussionen. Sie weiss auf alles eine Antwort. Wenn sie ihren roten Haarschopf hochwirft, macht sie auf jede Versammlung Eindruck. Michael beschliesst, dass Malkah Fühler ausstrecken soll.

Leo Flamm geht langsam durch die Dorfstrassen zum Hof zurück. Er beeilt sich nicht. Er weiss: wenn Neiger zuhause ist, findet er gewiss irgend eine Arbeit, die Leo Flamm am besten eben jetzt tun wird, da er doch sonst nichts zu tun hat. Und die Mahlzeiten am Schabbat sind mühsamer zu ertragen als an allen anderen Tagen. In der Woche deckt die Hast der Arbeit manches zu. Am Schabbat drängt keine Arbeit und werden keine Gedanken verdrängt; und drei schweigsame Menschen an einem Tisch, jeder so voll mit sich selbst beschäftigt, dass es aus jeder Bewegung und jeder Stirnfalte herausschreit, vollführen einen Lärm, der die Nerven zerreist. Leo Flamm wird sich nie an diese beiden Menschen und ihr tiefes inneres Zerwürfnis gewöhnen. Sie werden ihm immer fremd bleiben. Er wird bei Salman Neiger etwas vom Ackerbau lernen, aber nicht vom Bauerntum. Die beiden sind keine Bauern. Sie üben nur einen bäuerlichen Beruf aus.

Schon vom Tor aus sieht er, dass Riwka Neiger auf der Terrasse sitzt. Neben ihr ist der kleine Josef. Leo Flamm will mit einem Gruss vorüber gehen. Aber Riwka ruft ihn an und winkt ihm, zu kommen. Das hat sie noch nie getan. Sie ist heute noch unruhiger, noch zerfahrener als sonst. Ihre Augen sind glänzend und böse. Ihre Hände fahren immer wieder über das sorgfältig gescheitelte Haar. Aber eines sieht Leo Flamm mit Staunen: das nahende Alter ist von ihr gewichen. Sie ist jung geworden. Ein verhaltenes, unruhiges Leben drängt aus ihr heraus. »Da«, sagt sie, »der Josef will mit Ihnen sprechen.«

Josef lächelt freundlich. »Ich habe hier so etwas wie Vaterrechte an diesem Dorf. Darum interessiere ich mich für die neuen Menschen hier. Sie waren natürlich früher nicht Bauer?« – Flamm lacht: »Natürlich nicht. Ich bin es auch heute nicht. Ich lerne erst die Handgriffe.«

Josef stützt sich mit den Armen auf die Brüstung der Terrasse. »Sind Sie gerne hier? Gefällt es Ihnen hier?« – Leo Flamm zögert mit der Antwort. »Die Arbeit als solche macht mir noch viel zu schaffen ... Ich habe für nichts anderes Zeit und Kraft ... Ich bin eigentlich noch fremd hier ...«

Riwka mustert ihn mit einem kurzen, neugierigen Blick. Es ist etwas in diesem Blick, was in ihm eine unverständliche Gereiztheit erregt. Darum sagt er etwas, was er garnicht hat sagen wollen: »Ich glaube, dass man sehr lange in diesem Dorfe leben und doch ganz fremd bleiben kann.«

Er erschrickt; nicht vor seinen Worten, sondern vor dem plötzlichen Schweigen der beiden anderen. Dieses Schweigen sagt ihm, dass er etwas Gefährliches, Verborgenes angerührt hat. Er will gehen. Aber Josef lässt ihm nicht fort. »Das ist mir sehr interessant« sagt er eindringlich. »Haben Sie denn hier garkeinen Anschluss gefunden? Ich glaube doch, ich habe Sie heute Morgen in der Schimschon-Gruppe gesehen. Gehören Sie nicht dazu?«

»Nein« sagt Flamm. »Ich war nur Gast. Ich gehöre zu Niemandem ...« Er verbessert sich: »... zu keiner Gruppe.« Wieder sieht Riwka mit diesem kurzen, bohrenden Blick auf. Josef nickt: »Ich verstehe: Sie haben sich noch nicht entschieden.« Leo Flamm antwortet nicht. Das Gespräch nimmt eine Wendung, die er nicht will. Was wollen diese Menschen von ihm? Beide sind erregt, beide auf ihre eigene Weise. Er will nicht die Wand sein, gegen die sie sprechen. Aber er kommt nicht los. Josef senkt den Kopf und betrachtet die hageren, rastlosen Hände. »Von mir brauche ich Ihnen ja nicht viel zu erzählen, nicht wahr? Man wird doch dort über mich gesprochen haben. Ich setze das voraus ...«

Leo Flamm möchte ausweichen. Er möchte lügen, denn in diesem gesenkten Kopf ist ein Ausdruck von Hinfälligkeit und Niederlage und Ratlosigkeit. »Man hat mir gesagt, Sie wären einer der Gründer des Dorfes.« – »Mehr nicht?« – Leo Flamm schweigt und wird rot. Josef lacht kurz und heiser. »Na, den Rest kann ich mir denken: Bourgeois, Ausreisser. Je nachdem ob es Gideon oder Schimshon sagt. Aber eines haben sie gemeinsam: das zu hassen, was sie nicht verstehen.«

Leo Flamm steht wie auf brennenden Kohlen. Es ist zu hell für solche Gespräche, für solche verhüllten Bekenntnisse. Mitten am Tage soll man solche Kämpfe des Lebens nicht ausfechten. Es ist schamlos. Und doch kann er nicht von der Stelle gehen. Er spürt aus jeder Geste, dass Josef ihm etwas sagen, etwas anvertrauen, sich von einer Last erleichtern will. Wie muss es in ihm drängen, dass er ihm, einem fremden Menschen, Bekenntnisse anvertrauen will. Da hat man kein menschliches Recht, gelassen wegzugehen. So bleibt Flamm. Er sagt entschuldigend: »Ach, diese Burschen und Mädel sind ja alle noch so jung ...«

Da fährt Josef auf. Jetzt ist alle Hemmung von ihm abgefallen. Jetzt sind alle drei in einen Ring gespannt und es gibt kein Geheimnis mehr des einen vor dem anderen. »Jung, sagen Sie? Das eben sind sie nicht. Sie sind alt. Sie sind so alt, so greisenhaft wie die Dogmen, die Greise ihnen aufdrängen. Sie sind so alt wie Siegel auf Pergamenten. Sie sind so alt, dass sie sich nicht mehr entscheiden können. Die Zeit für Entscheidungen ist vorbei. Jetzt werden unsere Menschen schon nach alten Schablonen gestanzt. Wir, wir vor dreissig Jahren, haben noch Entscheidungen gekannt. Wir haben ein altes Leben aufgegeben und haben ein neues Leben angefangen. Wir sind in die Einöde gegangen, unter Felsen und Dornen, und Skorpione, unter Räuber und unter Malaria. Wir haben gejätet und gesät und geerntet. Wir haben unsere Kraft hergegeben und unsere besten Jahre und unsere Gesundheit und unser Denken. Wir haben geträumt und gesungen und geweint. Es ist etwas unter unseren Händen gewachsen. Es stand eines Tages ein Dorf da, gross, voll Zukunft. Zukunft, das will sagen: mit der Hoffnung auf ein neues Geschlecht. Ein Geschlecht der Gerechten, der Brüder, der Bauern mit Leib und Seele. Ich weiss: das sind Feiertagsgedanken. Und eines Tages ist der Alltag darüber gekrochen, ganz langsam, so unmerklich, dass die meisten es nicht sahen und es nicht zugeben wollten. Bauern? Ja, einige von ihnen sind Bauern geworden. Sie leben wirklich mit dem Land. Sie haben den Stolz des Bodens. Sie wissen, dass sie das Salz der Erde sind. Und Gerechte? Ja, es sind zehn Gerechte unter ihnen. Um ihretwillen wird Sodom nicht zerstört werden ...«

 

Riwka Neiger zuckt zusammen, als habe man sie geschlagen. Josef spürt es und wacht auf. »Habe ich Sodom gesagt? Ich wollte es nicht sagen. Das ist ungerecht. Sodom war verderbt. Bejt Amal ...« er hebt den Kopf zum Himmel, »Bejt Amal ist mehr als das! Es ist tot! Es hat sich getötet! Es hat den Gedanken verraten! Es glaubt nicht mehr an Brüder. Es glaubt an Genossen. Es glaubt nicht mehr an Gerechtigkeit. Es glaubt an die Wirtschaft. Sie sind nicht mehr gleich. Sie sind längst in Arme und Reiche zerfallen. Der Mensch, der Mensch ist nicht mehr da! Es ist die Einöde des Kollektivs! Die Wüste der Genossenschaft! Und aus dieser Wüste bin ich geflohen ... in eine andere Wüste ... in die Stadt ...«

Riwka Neiger richtet sich auf, zornig, aggressiv, völlig verändert. »Was jammerst du? In der Stadt lebt man doch wenigstens. Stadt ist Leben. Was hast du hier? Eine falsche Stadt. Nur von der Spannung der Stadt haben sie nichts. Sonst haben sie alles: Arbeit, Not, das Laufen nach dem Verdienst, die Ausbeutung ...«

Josef unterbricht sie: »Das darfst du nicht sagen!« Riwka wirft den Kopf auf: »Ich darf es! Wir haben hier Hunderte im Dorf, die wir ohne Lohn arbeiten lassen: Flüchtlinge, Jugendliche. Sie ziehen unseren Pflug. Wenn wir ihnen noch ein Leben dafür gäben, ein Heim, eine Geborgenheit. Wir füttern sie mit Politik. Und die meisten lassen sich damit füttern. Aber wenn einer darunter ist, der sich nicht füttern lässt, dann muss er erfrieren. Hans Simson ...« Sie schliesst krampfhaft die Hände zusammen und schweigt.

Damit zerbricht die Spannung der Herzen. Josef steht auf. Mit einer grossen, langsamen Bewegung drängt er alles beiseite, verneint es, löscht es aus. Er sagt »Was tut der Mensch sein ganzes Leben lang, wenn er nicht unterwegs zum Lügner wird? Er läuft den Träumen seiner Jugend nach und versucht, sie zu gestalten. Der Mensch, der lebendige Mensch kehrt immer wieder an den Ort zurück, wo er Unvollendetes hat stehen lassen. In der Jugend geträumt haben, ist ein Fluch ... oder ein Segen ...« Er lächelt verhalten: »Und so muss ich nach Bejt Amal zurück ... und Riwka Neiger wieder in die Stadt zurück ...«

Eine Weile herrscht Schweigen, so wie Menschen einem Gewitter nachhorchen, das sich verzieht. Riwka sieht schräg neben sich zur Erde, und in dieser Haltung geht sie in das Haus. Auch Leo Flamm geht über den Hof, an den Ställen vorbei, in den Obstgarten und in seinen Verschlag. Er lässt die Türe hinter sich offen. Er sitzt an dem primitiven Tisch, ganz benommen von dem Gewitter, das da vorüberzog. Da fällt ein Schatten in den Raum. Josef steht in der Türe. Er tritt ein und setzt sich auf die Bettkante. Er sagt nichts. Sein Gesicht ist unendlich müde. Es vergeht fast eine halbe Stunde in diesem Schweigen, in einem Schweigen, das diese beiden Menschen mehr mit einander verbindet, als viele Gespräche es gekonnt hätten. Dann streckt Josef seine Hand mit einer fragenden Gebärde aus: »Warum haben Sie gesagt, dass Sie zu Niemandem gehören? Hätten Sie das nicht gesagt, dann wäre das ganze Gespräch nicht gewesen. Sie sind schuld ...«

Leo Flamm nickt. »Vielleicht. Vielleicht bin ich an dem Gespräch schuld. Und vielleicht bin ich sogar schuld daran ... dass ich zu Niemandem gehöre. Ich habe in den letzten Monaten seltsame Erfahrungen gemacht. Um die Menschen im Lande ist eine unsichtbare Mauer gezogen. Ich habe in der ersten Zeit irgendwo in einer Siedlung eine Frau kennen gelernt ... oder richtiger: wir sind uns spontan begegnet. Sie hat mich fallen lassen. Warum? Um der Gruppe willen, zu der sie gehört. Ich bin Arbeiter gewesen, und ein Arbeiter hat mich aufgenommen, als ich in Not war. Und doch hat er mich fallen lassen ... wieder um seiner Gruppe willen. Und hier ist es schon unter den unreifen Kindern dasselbe. Wenn die Gruppe es will, sind Sie morgen ein Fremder, auch wenn Sie gestern noch ein Freund waren. Ich muss immer wieder staunen: der Einzelne ist meistens gut und menschlich. Aber sobald er in die Gruppe geht, hört er auf, Mensch zu sein. Er wird ... Mechanismus, Abziehbild, ein schreiendes, tobendes, fanatisches Etwas. Und doch etwas Unlebendiges. Etwas Kaltes, Totes ...« Er zuckt die Achseln: »Ich verstehe es nicht. Es ist, als ob sie alle eine böse Erbschaft angetreten hätten.«

Josef nickt. Er sagt geheimnisvoll: »Ja, sie haben alle Europa geerbt. Europa, wo es so leer im Herzen ist, dass es übervoll ist im Gehirn. Und Gehirne erleben nicht. Gehirne rechnen sich das Leben aus ...«

Sie reden bis in die Dunkelheit. Der Unterschied der Jahre und der Vergangenheit ist gefallen. Und langsam tasten sie sich an reale Dinge, an eine greifbare Aufgabe heran. Was, um Gotteswillen, soll aus einer Jugend werden, die so in das Leben hineingestellt wird wie diese, die sich in Schimshon und Gideon spaltet und zwei kleine Ghettos aufrichtet, wo sie die Aufgabe hätte, eine weite Halle des Lebens zu bauen. Aber Flamm schreckt vor dieser Aufgabe zurück: »Ich bin nicht befugt, sie zu erziehen. Ich habe kein Recht ...«

»Keinen Mut« unterbricht ihn Josef. »Mann, Sie vergessen, dass man nicht nur urteilen und fordern kann. Man muss sich auch einsetzen und versuchen, die Dinge zu beeinflussen. Wer draussen bleibt, hat keine Rechte.«

Flamm gibt nach, wenn auch schweren Herzens. »Aber sagen Sie selbst: was kann ich tun? Ich habe keinen Zugang zu den Menschen. Ich weiss nicht, was ich ihnen neues geben soll, was ich ihnen als Ersatz geben soll für ihre Ideen von heute. Ich habe garkeine Handhabe.«

»Die Handhabe werde ich Ihnen geben. Sie ist ganz primitiv. Sie ist so simpel, wie sie für eine solche Jugend sein muss. Sie werden mir helfen, das Fest herzurichten. Sie schauen doch aus, als hätten Sie in Deutschland Sport getrieben?« Flamm sagt bitter: »Welcher deutsche Jude hat nicht darum gekämpft, sich in einem nichtjüdischen Sportverein auszuzeichnen?« – »Nun also. Jetzt kann es Ihnen zugute kommen. Sie werden für mich das Sportfest vorbereiten. Die Jugend verlangt von mir einen neutralen Mann. Hier haben wir ihn. Und das ist die ganze Handhabe. Das ist der Zugang von aussen. Wie Sie den Zugang von innen finden, ist Ihre Sache.«

Es bleibt für Leo Flamm ein Wagnis, aber er gewinnt doch Geschmack an der Sache. Es steckt ja mehr dahinter als eine sportliche Veranstaltung. Es ist ein Mittel zum Zweck: die Feindschaft der Gruppen zu überbrücken, unauffällig, im Spiel und als Spiel. Aber dann: wie geht es weiter, wenn das Fest vorüber ist? »Auf jedem Wege« sagt Josef, »der zwei Menschen zusammen bringen kann: im Fest, in der Arbeit, im Lernen, in der Kultur. Warum sollen Shimshon und Gideon nicht zusammen Theater spielen, ein Buch lesen, eine Ausstellung veranstalten, Musik hören?«

Sie verbeissen sich in das Thema. Sie vergraben sich wie Verschwörer in die Idee, einer Jugend, die sie lieben, Wege zu weisen. Noch während des Abendessens sprechen sie weiter. Salman Neiger sitzt schweigend und mit zynischem Gesicht daneben. Nur einmal sagt er durch eine Wolke von Zigarettenrauch: »Solange die Arbeit dadurch nicht vernachlässigt wird, können Sie so viel Gruppen kombinieren wie Sie wollen.« Riwka Neiger zieht die Mundwinkel und sagt: »Freilich«. Es ist ein beziehungsloses Wort, aber es ist so voll von konzentriertem Hohn, dass selbst Neiger erstaunt aufsieht. Aber sie sitzt ganz abgeschlossen da, so fern, als sei sie nicht mehr in Bejt Amal.

Die Jugendgruppen erkennen Leo Flamm ohne weiteres als den neutralen Mann an. Er ist es für sie ja nur im sportlichen Sinne. Da bei dem Fest Gruppe gegen Gruppe spielen wird, muss es – wie bei jedem ordentlichen Spiel – einen Schiedsrichter geben. Das ist Flamm. Mehr nicht. Aber eines Tages geht er einen Schritt weiter. Dieser Schritt ist unbeholfen und harmlos, so harmlos und so ungeeignet, irgend einen Einwand zu erheben, dass er gelingt. Aus der Erbschaft seiner Jugend, aus der Freude an Ordnung und Gleichmass schlägt er ihnen vor, alle guten Turner aus beiden Gruppen zusammen zu fassen und von ihnen – nach den Wettkämpfen natürlich – Freiübungen vorführen zu lassen. Es ist ein Gedanke, der sie zum Lachen bringt. »Das ist eine germanische Angelegenheit« sagt Michael. Aber schon nach den ersten Übungen, nach dem ersten Auftauchen jenes geheimnisvollen, unerforschten, gefährlichen Gefühls, das aus der Gleichheit der Bewegung, der Aktion, des Rhythmus kommt, lachen sie nur noch, um den Schein zu wahren. Solange sie im Gleichtakt Arme und Beine rühren, schweigen die Weltanschauungen. Leo Flamm sieht sich auf dem Wege.

Nur die rote Malkah hat nicht gelacht, als dieser kindische Plan besprochen wurde. Sie ist nicht nur eine gute Diskussionsrednerin, sie hat auch einen klaren Kopf mit klaren Gedanken. Gefühle beschweren sie nicht und stören sie nicht im Denken. Sie ist in der Armut einer ostjüdischen Gasse aufgewachsen. Ihre Kindheit und ihre erste Jugend waren beschattet von einer einzigen, täglich neu auftauchenden Frage: werden wir heute Brot zu essen haben? Für sie ist die Menschheit sehr bald aufgeteilt worden in Jene, die zu essen haben, und jene, die es nicht haben. Wie sie reifer wurde, haben diese beiden Menschengruppen einen Namen bekommen: Ausbeuter und Ausgebeutete. Und wie sie zu lernen begonnen hat, ist sie eine Stütze der sozialistischen Revolution geworden. Und als solche ist sie in das Land gekommen. Sie fühlt sich verantwortlich für die Verbreitung ihrer Lehre und ihres Glaubens. Sie verneint alle Götter und alle Religionen. Aber in dem, was sie glaubt, ist sie absolut und orthodox. Sie duldet keine anderen Götter.

Da sie so absolut denkt, ist Leo Flamm ihr verdächtig. Hätte nicht Michael ihr den Auftrag gegeben, sich mit diesem jungen Bürgerssohn zu befassen, so hätte sie es aus ihrem Misstrauen getan. Auf dem Felde ergibt sich leichte Möglichkeit, ein Gespräch zu beginnen. Aber der erste Versuch scheitert. Es ist offenbar, dass Leo Flamm nichts von der Begriffswelt versteht, deren sie sich bedient. Für sie stehen alle Begriffe fest; für ihn nicht. Er fragt immer. Aber es ist nicht so, dass er den Begriff nicht kennt oder ihn nie gehört hat. Es ist so, dass er ihn bezweifelt, dass er ihm misstraut, dass er seine Absolutheit infrage stellt. Und so verläuft dieses erste Gespräch in lauter Voraussetzungen, die einander nicht treffen. Malkah ist etwas irritiert, wie sie das Gespräch mit dem Vorwand dringender Arbeit beendet.

Inzwischen ist Leo Flamm seinen einfachen Weg weiter gegangen. Er hat eine neue Parole für den Sport ausgegeben: Bejt Amal fordert die anderen Dörfer zu einem Wettkampf heraus. Das ist ein sehr ernsthafter Vorschlag. Niemand belächelt ihn mehr. Das Denken geht schon in ganz anderen Bahnen: welche Kräfte können wir einsetzen und welche Kräfte die anderen? Das Dorf Bejt Amal ist berühmt im Lande durch seine Produkte. Vielleicht machen wir es auch noch berühmt durch seine Sportsleute, durch das Beispiel einer Jugend, die auch körperlich gesund geworden ist? Sie leben sich immer mehr in den Vorschlag hinein. Malkah sieht voll Unbehagen, wie dieser kindliche Ehrgeiz des sportlichen Sieges die Burschen und Mädel ergreift. Es ist ein Rückfall in die primitive Romantik. Sie hätte eigentlich die Pflicht, dagegen aufzutreten, um diese lächerliche Romantik unschädlich zu machen. Aber das würde zugleich bedeuten, gegen Leo Flamm zu arbeiten. Und das empfiehlt sich nicht. Sie spürt, dass er sich hüben und drüben menschliche Sympathien erworben hat, durch seine Geschicklichkeit, seine Freundlichkeit, seinen Eifer. Statt ihn zu bekämpfen, ist es besser, ihn zu binden. Es wäre eine Aufgabe, die sich lohnt, ihn in die Gideon-Gruppe hinein zu zwingen.

Es ist schwer, ihn zu zwingen. Der Begriffe beraubt, mit denen sie sonst zu agitieren pflegt, wird sie auf ein Gelände gedrängt, das ihr fremd ist. Sie ist gewohnt, von der Masse zu sprechen. Leo Flamm spricht vom Menschen. Sie spricht von der Gesellschaft. Er spricht von der Gemeinschaft. Ihr Kolorit des Sprechens ist das Eifern, der Fanatismus. Sein Kolorit ist die Nachdenklichkeit und das Werben. Das macht sie rasend vor Ungeduld. Sie fragt höhnisch: »Wollen Sie die weltumspannende Liebe aller Kreaturen predigen?«

Er lächelt. »O nein. Es gibt Kreaturen, die ich liebe, und Kreaturen, die ich hasse. Ich bin da ganz normal. Ich bin sogar vielleicht primitiv. Ich bemühe mich, mit ganz wenigen Begriffen zu denken.« Sie nickt überlegen: »Recht wenig Begriffe.« Es stört ihn nicht. Er sieht darin nur einen Vorteil. »Ich finde, die Dinge werden dadurch nur klarer. Ich bin ja nicht verpflichtet, alle Probleme der Welt zu lösen. Ich habe es zunächst mit meinem eigenen, kleinen Problem zu tun. Und das will ich mir von euch nicht ... verbiegen und verfälschen lassen.«

Malkah fährt wütend auf: »Wer ist ›euch‹, und wer fälscht?«

Leo Flamm sagt bedächtig und nachdrücklich: »Ihr alle, die ihr das Universum definieren und einordnen wollt, ehe ihr in euren vier Wänden auch nur die Luft zum Atmen bietet. Und darum geht es mir. Erst habe ich geglaubt, man könnte in das Gelobte Land kommen und durch die Strassen gehen und sofort das Gefühl haben, man wäre hier zuhause. Ich weiss schon, dass das nicht geht. Wir haben alle ein verschiedenes zu Hause gehabt. Ich sehe jetzt, dass hier ein Phänomen geschieht: hundert fremde Stämme drängen sich auf einen Raum und wollen einer vom anderen leben. Sie sprechen alle verschiedene Sprachen, innerlich und äusserlich. Sie verkehren in Esperanto mit einander. Aber Esperanto ist eine tote Sprache. In Esperanto können Sie sagen: gib mir Geld! Aber Sie können nicht sagen: wir haben ein gemeinsames Schicksal. Es gibt wohl die Vokabeln dafür. Aber sie sind nicht lebendig. Und darum, Malkah, verstehen wir beide uns nicht. Sie sprechen Esperanto.« – »Es ist die Sprache von Millionen« trotzt sie auf. – »Leider« sagt Leo Flamm und wendet sich seiner Arbeit zu.

Auch Malkah geht wieder an ihre Arbeit. Ein unbekannter Zorn schüttelt sie. Dieser Leo Flamm spielt die Rolle des schlichten, empfindsamen Menschen. In Wirklichkeit ist er ein Gebilde der Literatur, ein hochmütiger Westeuropäer mit einem Anflug von Greisenhaftigkeit. Der Typus des verwöhnten Bürgers. Er hat in der Jugend nicht zu hungern brauchen. Für ihn war der Tisch gedeckt. Die Stube war warm. Er hatte gute Kleidung. Er konnte Bücher lesen, Musik hören, Theater besuchen. Er konnte sich satt essen an schönen Dingen, an Kultur, an den kleinen Dingen, die den Tag behaglich machen, die dem Menschen Form geben. Er hat es nicht nötig gehabt, die Menschen in Arme und Reiche aufzuteilen. Er durfte sie aufteilen in Angenehme und Unangenehme. Wenn es hoch kam: in Gute und Böse. Und alles das hat er nach hier geschleppt. Und steht da auf dem Feld, gräbt Rüben aus und wischt sich den Schweiss mit dem Handrücken von der Stirne ... und ist doch, Zoll für Zoll, das verwöhnte Kind einer Welt geblieben, die zivilisiert war ... wohlhabend ...

Sie schlägt wütend mit der Hacke in den Boden. Das Geräusch ist hart und dumpf. Es soll das Grollen in ihr übertönen. Aber es bleibt hörbar. Es bleibt noch neben der Stille hörbar, die von dem Felde nebenan kommt. Arbeitet Flamm nicht mehr? Ist er fortgegangen? Sie schaut auf. Da steht er plötzlich zwei Schritte neben ihr, den Blick voll auf sie gerichtet. Sie fährt in einem wilden Schrecken zusammen. Alle ihre Sicherheit verfliegt. Eine ungeheure Unruhe packt sie unter diesem Blick. »Was wollen Sie?« fragt sie rauh.

Er wendet seinen Blick nicht ab. Er fragt: »Was ist mit Ihnen, Malkah? Warum sehen Sie mich so böse an?« Sie wird flammend rot. Sie hasst diese Art zu fragen. Wer hat sie je im Leben gefragt, oh es ihr gut geht oder schlecht, ob sie freudig ist oder zornig? Sie sagt: »Ich habe Esperanto gedacht. Das ist alles.« Aber sie bereut ihre Worte sofort. Sie verraten, dass der Vorwurf sie verletzt hat. Und schon sagt Flamm: »Ich wollte Ihnen nichts Böses sagen. Wirklich nicht. Ich habe nicht Sie gemeint, sondern die Sache.« Er kommt noch einen Schritt näher. Er streckt ihr die Hand hin. »Wirklich! Ich habe Sie nicht verletzen wollen. Ich habe Sie nicht persönlich gemeint.«

Malkah kann es nicht ertragen. Sie zwingt sich mit aller Anstrengung eine Antwort ab. »Schon gut. Ich weiss.«

Dann geht sie. Sie ist in ihrem Leben noch nicht so mühsam gegangen. Jetzt weiss sie erst, wie tief er sie verletzt hat. Sie wiederholt sich seine Worte: Ich habe Sie nicht persönlich gemeint! Also unpersönlich? Sie ist ein unpersönliches Ding für ihn, ein Gegenstand. Etwas, das Begriffe von sich gibt und dem man mit Begriffen antwortet! Persönlich ist sie garnicht gemeint!

Sie geht langsamer. Sie wehrt sich mit all ihrem kühlen Geist verzweifelt gegen eine aufdämmernde Erkenntnis. Sie wirft den Kopf mit dem roten Haar in den Nacken. Nein! Es ist weiter nichts, als dass sie seine Gebärde der Überlegenheit hasst. Dass sie wütend wird, wenn er den Bauern spielt und doch bis in jede Pore ein hochmütiger Bürger ist. Es ist nichts von persönlicher Kränkung. Es ist nichts vom persönlichem Empfinden. Es ist nichts ... Sie drückt verzweifelt beide Hände gegen die Brust und bleibt mitten auf dem Felde stehen: O Gott, es ist nicht ... Liebe ...


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