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II.

Der Morgen dämmert mit einer kalten, klaren Sonne herauf. Er enthüllt ein Bild, das Leo Flamm ewig in der Seele bleibt. Da sind Menschen vor einem Erdbeben nächtens aus ihren Häusern geflüchtet. Sie haben sich irgendwo im freien Felde niedergeworfen, noch erschüttert von den unheimlichen Schwankungen der Erde, dicht an einander gedrängt wie Tiere, die frieren. Das Deck ist ein Heerlager von kauernden in Decken eingehüllten, auf Gepäck zusammen gerollten Lebewesen. Die meisten sind blass und übernächtig. Einige sehen aus, als seien sie krank. Ein Kind weint und verlangt zu essen.

Gesichter heben sich und sehen einander fremd und fragend an. Sie spähen über das Meer hin: kein Land ist mehr zu sehen. Die Gefahr, das Leisesein müssen ist vorüber. Es kann ihnen nichts mehr geschehen. Sie sind auf dem Wege. Und bald wird man kommen und ihnen die Kabinen anweisen. Und man wird zum Frühstück läuten.

Langsam, zögernd geraten die Menschen in Bewegung, wie ein Bienenhaufe, der von der Nachtkühle erstarrt, unter der Sonne zu summen beginnt. Neue Gesichter tauchen von unter Deck her auf und sehen befremdet auf das Heerlager. Und die aus dem Heerlager sehen neidisch auf die Heraufsteigenden, die aus den Kabinen kommen. Die beiden Ströme setzen sich gegen einander in Bewegung. Sie formen ein Labyrinth, in dem Menschen und Bündel, Koffer und Taurollen immer wieder den Weg versperren. Die Menschen pendeln misstrauisch an einander vorüber, bis Gemurmel, Worte, Gespräche entstehen. Das Wort Kabine hebt sich immer deutlicher hervor. Es beherrscht endlich alles und steht wie ein drohendes Fragezeichen da.

Was ist mit den Kabinen? denkt Leo Flamm. Er kämpft sich durch den Strom zur Treppe durch und geht hinunter, in einen halbdunkeln, stinkenden Raum. Wie er die Augen gewöhnt hat, sieht er am Ende der Treppe rechts und links je zwei Türen, je zwei Kabinen. Dahinter erhebt sich ein hohes, schweres Holzgitter. Es grenzt einen Lagerraum ab, nackt, leer, einen grauen schmutzigen Fussboden, auf dem Menschenbündel liegen. Das sind die Kabinen. Eine dunstige, verbrauchte Luft drückt darüber. Sie ist so erstickend, dass Leo Flamm die Treppe hinauf flieht.

Oben an Deck haben sich die beiden Ströme inzwischen zur Ruhe begeben. Sie hocken da und tauschen Reden aus. Leo Flamm horcht auf diese Reden. Empören sie sich? Wollen Sie zum Kapitän gehen und ihm die Faust vor das Gesicht halten? Wollen sie den Jakob oder den Schakel an Deck zerren und sie prügeln, bis sie winseln? Nein, sie beabsichtigen nichts dergleichen. Sie sind nur empört. Sie sind beleidigt und sprechen von Ausbeutung und Wucher.

Flamm sieht sie kopfschüttelnd an. Sitzt ihnen das Ducken noch so in den Gliedern? Sind sie noch betäubt von gestern? Dann muss man sie zum Erwachen bringen. Er steht wieder auf und drückt sich bis zum Steuerhaus durch. Er steht, ein wenig erhöht, auf einer schmalen Kommandobrücke. Ein Mann hält das Steuer. Ein anderer lehnt über das Geländer und sieht neugierig auf das Gewimmel der Menschen. Er wendet sich um, wie Flamm auf die Brücke steigt. »Betreten verboten. Lesen Sie gefälligst das Schild.«

Flamm kümmert sich um den Einspruch nicht. »Ich vermute, Sie sind der Kapitän. Wer ist hier für die Ordnung auf dem Schiff verantwortlich?« – Der Kapitän zuckt die Achseln. »Ich habe von vornherein erklärt, dass mich das nichts angeht. Ich bin nur für die Navigation verantwortlich. Wenden Sie sich an Jakob. Kabine Nummer zwei.«

Wie Flamm wieder über das Deck geht, sagt er laut und aggressiv zu den Menschenbündeln hinunter: »Jetzt werde ich meine Kabine verlangen.« Er wundert sich insgeheim, wieviele noch den Mut haben werden, zu fordern, was ihnen zusteht. Es erhebt sich ein Geschrei: »Sehr richtig!« Aber nur eine kleine Gruppe folgt ihm. Sie gehen zur Kabine Nummer zwei. Sie ist verschlossen. Leo Flamm klopft. Noch einmal, noch dringlicher. Dann antwortet eine ärgerliche, spitze Frauenstimme: »wir wollen noch kein Frühstück.« – Flamm lacht: »Ich werde es dem Obersteward ausrichten. Einstweilen ist hier Flamm und möchte Herrn Jakob sprechen.« – »Herr Jakob schläft noch« antwortet die Frau – »wirklich?« sagt Flamm höhnisch. »Dann wecken Sie ihn bitte. Aber sogleich.«

Schweigen. Flamm schlägt entschlossen mit der Faust gegen die Türe. Die Frau ruft: »Jakob, wach schon auf. Man will dich sprechen.« – Ein Krächzen und Gähnen. »Nachher. Gegen zwölf.« – Leo Flamm sieht rote Kreise der Wut vor den Augen. Er schlägt noch einmal krachend gegen die Kabinentüre. »Nein. Sofort! Oder ich komme hinein!« – Die Frau kreischt: »Sie wollen drohen?« – »Ja« sagt Flamm. Schweigen. Dann Jakobs Stimme: »Ich komme sofort.«

Ein Riegel wird geschoben. »Also was ist?« fragt Jakob durch den Türspalt. Flamm schiebt die die Türe ganz auf. In dem zweiten Bett der Kabine wird rauschend ein Vorhang zugezogen. Jakob macht Miene, als wolle er sich wehren. Aber er sieht hinter Flamm das Bündel Männer stehen und wird kleinlaut. »Was wollen Sie also?«

Flamm ist von einer eisigen Höflichkeit. »Sie sind der Veranstalter der Fahrt. Sie haben mir eine Quittung über fünfzig Pfund ausgestellt. Wollen Sie die Güte haben, mir meine Kabine anzuweisen? Auch meine Mitreisenden hier bitten um diese Gunst.«

Jakob scheint vollkommen ruhig. Jedenfalls scheint es den Männern so, die draussen stehen. Den blanken, höhnischen Hass in seinen Augen sehen sie nicht. »Ich bitte Sie, sich noch einen Tag zu gedulden. Wir sind früher abgefahren, als im Plan stand. Gewisse Herren Reisende hatten es sehr eilig, abzufahren. Die Kabinen werden heute gemacht. Wir bitten um Nachsicht.« – Er verbeugt sich. Die Frau hinter dem Vorhang lacht. Die Männer stehen verlegen da und sind geneigt, sich zufrieden zu geben. Flamm spürt, dass er an ihnen keinen Halt und keine Stütze hat. Er sagt langsam: »Alle Reisenden werden Ihnen dankbar sein, wenn Sie sie nicht länger als nötig wie das Vieh auf dem Boden herumliegen lassen. Die Nationale Vereinigung wird sich damit gewisse Verdienste um die … Menschlichkeit erwerben.«

Er dreht sich um und geht. Die Frau steckt belustigt den Kopf aus dem Vorhang. »Was meint er eigentlich mit der Nationalen Vereinigung?« Jakob speit wütend zur Türe hin aus. »Nichts. Das haben wir nur so auf den Stempel gesetzt. Aber jetzt will er mich daran aufhängen. Dieser Idiot! Dieser …« er sucht nach einem Wort tiefster Verachtung – »dieser Menschheitsbeglücker!«

Wie Leo Flamm auf das Deck kommt, ist er schon ein Mittelpunkt des Interesses geworden. Man nickt ihm anerkennend zu. Man hält ihn an und beginnt ihm Dinge zu erzählen, um die er nicht gefragt hat. Und man fragt Dinge, die er nicht weiss und nicht beantworten kann.

Ihm ist unbehaglich dabei. Was nützt es, dass er sich bei der Abfahrt geschworen hat, für diese Menschen da zu sein. Nun sie da sind, spürt er keine Liebe zu ihnen. Wenn er versucht, sie durch ein Beispiel aufzumuntern, so tut er es aus Mitleid, weil sie so armselig dastehen. Und wenn er ihnen hilft, so ist es aus Zorn, weil sie alles so verzagt über sich ergehen lassen. In allem, was sie tun, sind sie so zögernd und unbeholfen, dass er ungeduldig zuspringt. Sie stolpern über jedes Gepäckstück und über sich selber. Sie schleppen bei jedem Schritt Bündel mit sich, weil einer dem anderen nicht traut. Noch auf der Auswanderung wandern sie aus.

Leo Flamm fühlt, dass man sie erst einmal zur Ruhe bringen muss. Er hält sich darum an die nächsten und praktischen Dinge. Er findet heraus, dass im Kiel des Schiffes noch ein Laderaum ist. Er beredet die Menschen, dorthin alles Gepäck zu schaffen, das während der Fahrt entbehrlich scheint. Es geschieht, und der Raum lichtet sich bedeutend. Die Menschen recken ihre Glieder in der aufsteigenden Sonne und lächeln: »Beinahe kann man jetzt spazieren gehen …«

Unten hämmert es und lärmt es. Die Kabinen werden gebaut. In drei Schichten über einander werden rohe Bretter zu Pritschen zusammengeschlagen. Ein dünner Strohsack wird darüber geworfen. Das ist die Kabine. Es bleibt zwischen ihnen ein schmaler Mittelgang. Von dort aus kann man auf die Pritschen hinaufklettern. Das ganze sieht aus wie ein grosses Lagerhaus. In den Regalen liegen statt Waren Menschen und Schicksale. Aber diese Schicksale sind bescheiden. Sie schreiben ihren Namen auf die Querbalken und fügen sich und ihre Bündel in die Regale ein, die Aeltern unten, die Jüngeren oben. Es ist fast behaglich. Aus dem Rest der Bretter werden in dem hinteren Laderaum, der jetzt frei geworden ist, Bänke und Tische zu einem Speisesaal zusammengebaut. Dort schlafen auch die jungen Menschen, die auf einen eigenen Verschlag noch keinen Anspruch erheben können. Auch Flamm hätte dort als Einzelner seinen Platz bekommen müssen. Aber er findet seinen Namen auf dem ersten Lager gleich hinter den wirklichen Kabinen, neben dem hohen Holzgitter. Es ist der einzige Platz, der nur aus einer Pritsche besteht.

Er wäre lieber drüben bei den jungen Menschen geblieben. Jetzt zwingen ihm die Hülflosen hier ihre Nachbarschaft auf. Vielleicht meinen sie damit eine stillschweigende Gebärde der Anerkennung? Leo Flamm wirft sich müde und verhetzt auf sein Lager. Er hat nichts als seinen Mantel, um sich damit zu bedecken. Er zieht ihn bis über die Augen, nicht, weil er das fahle, graue Licht dieses Raumes ausschliessen will, sondern weil die ewige Bewegung dieser zahllosen Menschen auf so engem Raume ihm jeden Gedanken auswischt. Er fühlt eine ungeheure Leere in sich. Alles, was sich in den letzten Jahren ereignet hat: der Druck, die Erniedrigung, die Spannung, ja die Flucht selbst sind aus ihm herausgerissen worden, sind nicht mehr da, sind irgendwo geschehen und irgendwo versunken. Sie haben ihn so leer zurückgelassen, wie er da auf seiner Matratze liegt.

Bei solcher Leere im Herzen müsste man darüber nachdenken, was wohl morgen aus einem wird. Er kann es nicht. Es ist als ob sich aller Lärm zu seinem Lagerplatz hin konzentriert und ausrichtet. Sie haben von ihren Kabinen Besitz ergriffen wie von Rettungsinseln und weigern sich, sie zu verlassen. Und von dieser Insel aus halten sie Ausschau nach Gestern. Das ist die Zeit und das ist der Ort, in dem sie noch leben. Da ist keiner, zu dem er ein Wort gesprochen hat, der nicht sogleich beginnt, von den Stationen seiner Leiden zu sprechen. Jedem ist etwas geschehen. Dem einen ist ein Freund oder Verwandter ermordet worden. Dem anderen hat man Erwerb und Vermögen geraubt. Dieser hat eine Heimat verloren, und jener war an einem der Orte, an denen die Kultur, das menschliche Quantum eines Volkes sich selber verneint und auslöscht: in den Marterlagern. Nun sind sie alle auf der Flucht und kosten Gestriges mit traurigem Selbstgenügen aus. Noch durch die breiten Spalten der Holzverschalung stellen sie sich dem Nachbarn vor mit einem Bericht dessen, was ihnen gestern geschehen ist.

Und so wie ihr Gestern ist ihr Morgen: vague, ungeformt, unklar. Sie haben kleine Ziele: Verwandte werden sie aufnehmen; Bekannte werden ihnen Arbeit verschaffen; die Mitgliedskarte einer Organisation wird ihnen Protektion sichern. Und die, die Kinder haben, sagen: unser Kind wird aufs Land gehen, und wenn es erst seinen Bauernhof hat, werden wir zu ihm ziehen …

So reden sie, summen sie, klagen sie bis in die Nacht hinein. Der Tag hat sie müde gemacht. Mit solcher Müdigkeit kann man selbst auf dem harten Strohsack schlafen. Aber schon am anderen Morgen stehen sie vor der Notwendigkeit, sich eine Routine ihres neuen Alltags zu schaffen. Sie haben nichts zu tun. Nicht einmal sich zu fürchten und sich zu ducken haben sie. Sie wachen mit dem Gedanken an Morgentoilette und Frühstück auf. Sie sind ratlos. Die Frage nach Leben und Zukunft tritt zurück hinter der Frage: wie waschen sich dreihundert Menschen an vier Wasserkränen, die spärlich Wasser von sich geben? Wie frühstücken dreihundert Menschen an langen Brettern, an denen zugleich nur hundert sitzen können, dünnen Thee, dürres Brot und süsse Marmelade vor sich. Sie sehen alle ein, dass sie die Pflicht haben, über diese kleinen Ungelegenheiten mit grosser Gebärde heiter hinwegzugehen. Aber grosse Gebärden und Heiterkeit verlangen grosse Seelen und heitere Herzen. Sie haben beides nicht. Sie haben die normalen, primitiven Bedürfnisse des Lebens. Wenn man nicht gerade gejagt wird, will man in Ruhe sitzen können. Wenn man nicht gerade mit dem Tode bedroht wird, will man nicht vom ewigen Leben reden, sondern vom Mittagessen. Die Seele hat nicht immer Feiertag.

Leo Flamm sieht alles das und leidet darunter. Er ist kein Narr, der an die Grösse des Menschen glaubt. Aber er hasst die Bedingungen, die die Menschen unnötig klein machen. Er möchte ihnen alles das verschaffen, wonach sie jetzt mit ganzer Seele bangen: ein zureichendes Essen, mehr Wasser, mehr Sauberkeit und Behaglichkeit.

Aber dieser Haufe von Menschen ist amorph. Er hat keine Gestalt. Packt man einen von ihnen an, sinkt er gestaltlos, kraftlos, antwortlos in die Masse zurück. Man muss sich durch den Haufen hindurchtasten, um einen zu finden, der Gestalt hat.

Da ist ein Arzt, Dr. Fels, klein, kahlhäuptig, mit schweren, schwarzen Augenbrauen, mit nervös zuckenden Augen und einem Ausdruck vollendeter Güte. Ihn packt Leo Flamm zuerst und ihn reisst er als ersten aus der Lethargie heraus. »Sie können hier nicht zusehen und schweigen. Das sind alles Schiffbrüchige hier, Kranke. Ein Kranker hat keinen Willen. Sie müssen ihnen den Willen geben. Sie haben mehr Recht als ich, die Menschen zu etwas zu zwingen. Und ohne Zwang werden sie nichts tun.«

Es scheint, als habe Dr. Fels auf solchen Anstoss gewartet, um wieder lebendig zu werden. Drei Jahre ist er tot gewesen. Drei Jahre hat er seinen Beruf nicht ausüben dürfen, den er liebt. Jetzt entlässt er alle Liebe und Bereitschaft auf die Flüchtlinge dieses Schiffes. Er versammelt und bespricht und organisiert. Er sorgt sich um ihren Magen, als sorge er um ihre Seele. Und sie nehmen es hin, nicht immer freundlich; aber doch so, wie man einem Arzt folgt, der etwas Unangenehmes von einem verlangt. Und da es ihnen gut anschlägt, beginnen sie, sich wohler zu fühlen und einander mit freundlicheren Augen zu betrachten.

Dann packt Leo Flamm einen anderen Menschen an, Haller, einen gedrungenen, braunköpfigen Burschen, der in der Gruppe der Jungen das Regiment zu führen scheint. Zwischen dieser Gruppe und allen anderen an Bord weitet sich eine Entfernung wie ein luftleerer Raum. Sie halten zu einander, wenn sie vor den Bänken sitzen und essen und wenn sie an Deck sich um Haller scharen und leise mit einander sprechen, als hätten sie sich Geheimnisse mitzuteilen. Sie kümmern sich um nichts als um sich selbst. Sie verstummen, wenn Flamm sich ihrem Kreis nähert. Sie sind ein Lager für sich, still, bescheiden, aber in ihrer Absonderung ungemein hochmütig.

Eines Morgens geht Flamm auf Haller zu und sagt unvermittelt: »Was haben Sie gegen Ihre Mitreisenden?« – Haller wird rot. »Nichts. Natürlich nichts.« – Flamm nickt. »Gut. Dann verstehe ich nur nicht, warum Sie den kränkenden Eindruck erwecken dass nur Ihre Gruppe auf der Welt sei.« – Haller fährt heraus: »Was gehen uns diese Kleinbürger an?« – Flamm verbeisst sich ein Lachen: »Und was seid ihr?« – »Sozialisten!« – »Das bin ich auch« sagt Flamm ruhig. »Aber wahrscheinlich seid ihr eine besondere Spielart.« – Haller wird unsicher. »Wieso?« – »Weil sie euch anscheinend daran hindert, euch dem Nebenmenschen gegenüber menschlich zu verhalten.«

Das Gespräch wird nicht fortgesetzt, aber wie Dr. Fels Menschen sucht, die ihm bei seiner Arbeit helfen können, sind es diese jungen Menschen um Haller, die sich zur Verfügung stellen. –

Das schöne Wetter hilft der Stimmung und den Menschen. Das Meer ist blank. Sie fahren in den Kanal ein. Es ist eine sehr langsame Fahrt. Hätten sie verstanden, wie langsam dieser lebende Leichnam auf den Wellen daher treibt, es hätte sie bange gemacht. Aber so verschafft ihnen die bedächtige Fahrt Genuss. In diesen schmalen Meeresstreifen münden viele Wege der Welt. Folglich gibt es viel zu schauen. Aber dann dehnt sich das Meer. Die Wege der Schiffe verteilen sich. Zuweilen sind sie allein, so weit der Horizont reicht. Und manchmal scheint es, als bewegten sie sich nicht vom Fleck und seien in einer Wüste der Ozeane schwebend festgehalten. Dann werden sie bedrückt und gehen früh schlafen. Sie sind in einer anderen Fremde und haben keinen Halt am Nachbarn.

Leo Flamm wünscht brennend – er betet beinahe darum – es möge schönes Wetter bleiben. Denn es ist möglich, dass von der Schönheit und Ruhe ringsum etwas in sie eindringt und das Unbehagen verwischt, das immer wieder peinlich auf allen Gesichtern lauert. Aber der Wetterwinkel der Biscaja kümmert sich nicht um treibende Flüchtlinge. Er hat sein eigenes Hoch und Tief. Eines Abends hält das Meer den Atem an. Es ist eine verdrossene, mürrische Stille. Der Sonnenuntergang ist dunstig rot. Dann rümpft sich das Wasser, wie wenn Kälteschauer über die Haut gehen. Der Wind frischt auf. Er streift mit einem feinen, dünnen Zischen um jeden Gegenstand an Deck. Er tastet vorsichtig die Dinge ab, die ihm im Wege stehen. Vielleicht kann er sie zerbrechen, oder auseinander reissen, oder über Bord werfen. Er ändert plötzlich seine Richtung. Er will es von der Seite her versuchen. Da ist die Angriffsfläche grösser. Da hat er den bunt geflickten, alten Rumpf breit vor sich. Er lehnt sich mit einem Ruck dagegen. Die Wellen folgen ihm. Drei, vier Stösse, die sich überschäumen, und das Schiff beginnt zu wanken.

Die Menschen sitzen im dunstigen Speisesaal, trockene Kost vor sich. Sie kauen unlustig daran. Da neigt sich plötzlich der ganze Raum. Die alte Petroleumlampe hängt schief an der Decke. Geschirr rutscht und scheppert. Von draussen schlägt es dumpf und schütternd gegen die dünne eiserne Wand. Verwirrung hebt an, vom Geschrei der Ängstlichen aufgepeitscht. Leo Flamm steht im Eingang. »Nun, nun« sagt er laut. »Keine Angst. Das ist immer so in der Biscaja. Das geht schnell vorüber.« – Aber er sieht, dass die Panik in den Gesichtern lauert. Er späht nach Hülfe aus. Drüben im Winkel sitzt die Gruppe um Haller. Leo Flamm nickt ihm zu, und Haller nickt zurück, ruhig, ernst. Dann stehen sie auf und helfen, die Frauen, die Kinder und die alten Leute auf ihre Lagerstätten zu bringen. Andere, die sich ihrer Feigheit schämen, bleiben noch eine Weile verbissen sitzen und suchen sich gegen das Stossen und Rollen zu wehren. Dann verschwinden sie einer nach dem anderen. Leo Flamm bleibt allein mit der Gruppe der Jungen zurück.

»Es wird böse heute Nacht« sagt er. »Ich kenne diesen Winkel. Wer von euch nicht sehr müde ist oder krank wird, sollte wach bleiben.«

Haller zuckt sorglos die Achseln: »Was kann schon geschehen?« Flamm antwortete: »Wahrscheinlich nichts, als dass dieses und jenes an Deck zerbricht. Aber« – er deutet mit der Hand seitwärts – »wenn die da drüben spüren, dass andere wach sind und dass man sich um sie sorgt, dann fühlen sie sich nicht so elend. Dann haben sie nicht so grenzenloses Mitleid mit sich selber. Dann werden sie nicht … noch kleiner, als sie schon sind.«

Gegen Mitternacht bricht der Sturm los. Es ist ein Sturm besonderer Art. Nicht dass er stärker wäre als sonst in diesen Breiten und in dieser Jahreszeit. Er ist von besonderer Art durch die Menschen, die er angreift. Wer sonst zu Schiff fährt, hat einen Zweck und ein Ziel. Er will dieses und jenes, und will hier oder dort aussteigen. Der Sturm auf solcher Fahrt ist in die Reise eingerechnet. Aber diese hier sind in ihrem Zweck so unsicher wie in ihrem Ziel. Sie tragen das Risiko des Lebens. Sie verstehen nicht, warum sie noch ein weiteres aufnehmen sollen. Sie rechnen den Sturm nicht ein. Er ist ein überzähliges Leiden. Er unterstreicht ihre Zwecklosigkeit, ihre Weglosigkeit. Er ist eine Beleidigung, die das Schicksal hinzufügt.

Darum wird es eine Nacht der Verzweiflung. Sie liegen elend, gebrochen in ihren Verschlägen. Das Wrack rollt und stampft. Sie werden hin und her geworfen wie halblebendige Bündel. An Deck kracht es und splittert es. Es dröhnt, wenn die Wellen über den Planken zusammen schlagen. Es rauscht, wenn die weissen Wasser abfliessen. Es ist alles laut, unheimlich, bedrückend, stinkend. Sie sind alle vor dem Sterben geflüchtet. Sie haben alle einen gewissen Tod gegen einen ungewissen eingetauscht.

In der Wüste klagten die von der Sklaverei Befreiten Mosche an: ›Gab es in Ägypten keine Grabstätten, dass du uns in die Wüste führen musstest?‹ …

Am Morgen legt sich der Sturm. Es ist wieder hell und sonnig und heiter. Auf Deck ist einiges zerbrochen. Aber unter Deck ist mehr zerbrochen. Da sind Willen gebrochen, Hoffnungen, Gelassenheiten, Gutwilligkeiten. Das Meer ist wieder glatt. Aber ihre Seelen sind kraus geworden. Sie werden eine Verdrossenheit nicht los. Sie schleppen sie überall hin. Sie klagen über alles. Sie wissen nicht mehr, wozu sie auf der Reise sind. Die Tage werden feindselig.

Diese Feindseligkeit nimmt seltsame Formen an. Sie greift nicht an. Sie schliesst ab. Im Lagerhaus der Schicksale wird umgepackt und umsortiert. Die Bündel verteilen sich anders. Aber ist nicht eine Pritsche so eng wie die andere und der eine Strohsack so hart wie der zweite? Daran liegt es nicht. Es findet eine Umgruppierung nach Ländern des Herkommens, nach Wohnorten, nach Sprachbezirken statt. Flamm sucht vergeblich zu ergründen, ob ein bestimmter Anlass die Menschen auseinander treibt. Er bekommt ungenaue Antworten. »Nein, es ist garnichts geschehen. Aber wissen Sie: Art gehört zu Art. Man hat doch immer in einem gewissen Milieu gelebt. Man ist an bestimmte Sitten gewöhnt. Wenn zum Beispiel Leute mit dem Messer essen, das kann man doch nicht mit ansehen.« Und ein anderer motiviert: »Man hat sich auch nichts zu sagen. Da die ganze Gruppe da hinten spricht jiddisch. Die reden über ganz andere Dinge als wir. Ausserdem klingt es so hässlich.« Dieser Einwand wird in einem breiten, schwäbischen Dialekt vorgebracht. Flamm kann sich nicht enthalten, zu sagen: »Ich finde Ihren Dialekt auch nicht gerade schön.«

Das war unklug. Jetzt werden sie gereizt. Sie lassen ihre Heimat nicht beschimpfen. Da sind sie gross geworden. Da haben sie gelernt und gearbeitet. Da haben sie die schönsten Jahre ihres Lebens verbracht. Daher haben sie ihre Kultur …

Flamm starrt ihnen fassungslos ins Gesicht. Fast gegen seinen Willen ruft er in ehrlichem Entsetzen: »Aber um Gotteswillen, damit geht ihr nach Palästina?«

Sie verstehen den Einwand nicht, oder geben vor, ihn nicht zu verstehen. »Wir sind Zionisten und haben ein Recht dazu. In übrigen bringt jeder, was er hat. Mehr kann er nicht tun.« – »und soll das so weiter gehen, dass jeder auf seine Heimat und seine Kultur pocht? Und das soll so weiter gehen, dass einer jiddisch spricht und der andere schwäbisch?« – Sie meinen, das lasse sich wohl nicht vermeiden. Die Kinder werden in die Schule gehen und hebräisch lernen. »Und daheim« sagt Flamm, »bei den Eltern werden sie dann täglich hören, dass da hinten einer mit dem Messer isst und jiddisch spricht, und dass man doch mit solchen Leuten nicht Wand an Wand schlafen kann. Und da werden sie sich dann die … die menschlichen Voraussetzungen holen …« – Sie werden unsicher. »Welche menschlichen Voraussetzungen?« Flamm sagt betont: »Die menschlichen Voraussetzungen, die nötig sind, um aus einem Haufen von Flüchtlingen und Hinausgeworfenen ein Volk von aufrechten und anständigen Menschen zu machen. Das meine ich. Ich bin kein Zionist. Darum kann ich nicht mit euren Schlagworten arbeiten …« Einer unterbricht ihn: »Auch das mit der Menschlichkeit ist ein Schlagwort …«

Flamm geht stillschweigend fort. Aber ohne dass er es weiss, ist sein Ansehen bei ihnen gewachsen. Er hat in ihnen ein Unbehagen, eine Art Schuldgefühl hinterlassen. Sie spüren, dass sie ihn in irgend einem Punkte verletzt haben. Sie haben irgend etwas gesagt, was nicht fair ist, obgleich sie nicht genau bestimmen können, was es ist. Sie einigen sich unter einander darüber: er ist ein grundanständiger Mensch. Nur von Zionismus versteht er nichts. Aber das wird er noch lernen.

Für Tage hindurch ist Leo Flamm so bedrückt, dass er sich abseits hält und sich gegen alles verschliesst, was auf dem Schiffe vor sich geht. Er lässt sich von dem Lärm und von der unaufhörlichen Bewegung überschwemmen und denkt nichts. Er steht irgendwo an der Reeling und schaut in das Wasser. Wenn der Hunger ihn nicht gerade quält, geht er nicht in den Speisesaal, sondern sitzt mit einem Stück Brot auf einer Taurolle und kaut gedankenlos. Aber dann dringt es doch wieder gegen ihn an, fast körperlich wahrnehmbar, so wie ein Auge das Licht wahrnimmt, auch wenn die Lider geschlossen sind. Auf dem schmalen Raum dieses schwimmenden Wracks ist deutlich eine Aufteilung in Gruppen erfolgt. Fünf verschiedene, armselige Welten haben sich auf kleinstem Raum auseinander gedrängt, und können doch nicht auseinander kommen.

Die Schiffsbesatzung bildet einen Lebenskörper für sich. Es sind alles Vlamen, schwerfällige, schlichte Menschen, die gelassen ihren Dienst verrichten und an den Passagieren wie an staunenswerten Tieren mit halber Neugier schweigend vorübergehen. Auch die Gruppe um Jakob ist eine für sich. Jakob hat sich auf dem Hinterdeck, hinter dem Motorboot, aus Stangen und Segelleinen einen Raum absperren lassen. Dort hält er sich auf, wenn er nicht in seiner Kabine ist oder mit dem Kapitän zusammen die Mahlzeiten einnimmt. Bei ihm ist eine blonde Frau, jene, die Leo Flamm hat kreischen hören, als er Jakob am Tag der Abreise aus seinem Schlaf aufjagte. Auch der Schakal ist dort, und auch bei ihm ist eine Frau. Leo Flamm hat beide nur flüchtig gesehen; aber nach der lauten Art ihrer Kleidung und nach ihrem Gehabe hat er sie sofort klassifiziert: Huren. Wenn er abends vom Achterdeck ihr Lachen hört oder sie zur Musik eines Grammophon singen, zieht die Verachtung ihm die Mundwinkel herunter.

Auch die Jugend ist eine Gruppe für sich. Zu den anderen verhalten sie sich jetzt mit der bereitwilligen Sachlichkeit sozialer Hilfsarbeiter. Aber ihr Bezirk – wo sie sprechen, lesen, spazieren gehen, essen – ist nur noch abgeschlossener geworden. Sie wirken, als zögen sie immer die Augenbraunen hoch, um zu sagen: da drüben die alte Generation, verbraucht und abgestanden. Auswanderer. Wir sind die, auf die es ankommt. Auch Leo Flamm zieht unwillkürlich die Augenbrauen hoch, wenn er sie anschaut, und er denkt: dass sie als Jugend von morgen sich nicht eins erklären will mit denen, die nicht nur von gestern sind, sondern es zuwege gebracht haben, sich mit diesem Gestern noch in zwei Gruppen aufzuteilen.

Auch Dr. Fels hat es bemerkt. Er schüttelt verzweifelt den Kopf. »Verstehen Sie das, Flamm? Glauben Sie, dass die Juden ihren Individualismus jemals loswerden? Dass wenigsten das Schicksal das aus ihnen herausprügeln kann?«

Es hat sich in diesen Tagen ein Dritter zu ihnen gefunden, Baermann, ehemals Kultusbeamter. Er legt nachdenklich die Fingerspitzen gegen einander. »Sie müssen schon verzeihen, Herr Doktor. So einfach liegen die Dinge nicht. Es ist viel schlimmer: hier kollidieren zwei Völker. Sie mögen sagen, was sie wollen: zwei Völker. Juden aus dem Westen und Juden aus dem Osten.« Er sieht Flamm an. »Machen Sie kein so entsetztes Gesicht, lieber Flamm. Ich billige es ja nicht. Ich finde, dass es eine Tragödie ist. Aber sie besteht. Die Bedingungen, wissen Sie. Wenn man Jahrhunderte lang unter ganz verschiedenen Bedingungen gelebt hat. Das reisst auseinander. Wir haben in den Gemeinden dafür gekämpft, dass jeder Jude das gleiche Recht hat, woher er auch kommt. Aber das war Politik. So wie unser ganzer Zionismus Politik war. Wirklichkeit war er nicht. Jetzt kommt die Wirklichkeit. Und jetzt fällt das Bündel wieder auseinander. Sie verstehen: es war nur mit einem politischen Strick zusammen gebunden. Das richtige Band hat gefehlt ... und fehlt heute noch: das menschliche Band.«

»Und das gemeinsame Leid sollte dieses Band nicht schaffen?« erregt sich Dr. Fels. – »Nein, Doktor« sagt Baermann. »Nur die Menschen werden durch Leiden zu Brüdern, die für eine gleiche Idee, für einen gleichen Glauben, für eine gleiche Überzeugung des Herzens gelitten haben ...«

»Sie haben alle als Juden gelitten!« ruft Flamm, und er empfindet in diesem Augenblick etwas, das ihm immer sehr fern war: dass er sein Schicksal von gestern als Jude erlitten habe. Aber Baermann schüttelt still und entschieden den Kopf. »Das ist falsch, Herr Flamm. Man hat ihnen etwas getan, weil sie Juden waren. Aber war denn für alle das Jude-sein eine Idee? Manche waren schon getauft. Für manche war das Judentum ein Zufall, den sie nicht wollten, für manche eine Überlieferung und für manche ein echter Glaube. Aber verstehen Sie: so Ungleiches addiert sich nicht. Sie haben nicht alle für die gleiche Idee gelitten. Jeder hat besonders gelitten, einzeln, privat. Und darum kriechen hier die Menschen zusammen, deren privates Schicksal am meisten Ähnlichkeit hat. Da haben Sie die Teilung.«

Flamm sieht nachdenklich über das Meer. »Wenn die Dinge wirklich so liegen, … dann sollte man lieber die Hände davon lassen.«

»Auch das ist falsch« sagt Baermann. »Man soll es anpacken. Aber es ist eine Arbeit auf lange Sicht. Eine Arbeit der Erziehung. Und sie dürfen nicht merken, dass man sie erzieht. Man muss ihnen etwas in die Hand stecken, so wie man Kinder mit Spielzeug ablenkt und sie doch dabei erzieht.«

»Was wollen Sie ihnen geben?« fragt Flamm. »Etwa die Verwaltung des Schiffes?« – »Ja« sagt Baermann gelassen. »Gerade das. Sie jammern alle über die Zustände. Sollen sie doch die Dinge in die Hand nehmen. Sollen sie sich doch einmal darin üben, wie das ist, wenn einer die Verantwortung für alle tragen muss ...«

Der Gedanke ist neu und ungewöhnlich. Man müsste hier und da bei den Menschen vorsichtig horchen, wie sie ihn aufnehmen. Aber Dr. Fels ist zuversichtlich. »Meine Herren« sagt er, »das hängt vom Wetter ab. Richtiger gesagt: vom Wind und von der Seekrankheit. Wenn die einen sterben wollen vor Elend und die anderen nach Diät jammern, und wenn der Arzt die Achseln zuckt: ja, wenn Sie wenigstens die Küche selbst übernehmen wollten, dann könnte man für die Kranken etwas tun ...«

Es dauert zwei, drei Tage, dann spielen Wetter und stille Propaganda einander in die Hände. Das Unbehagen, das alle empfinden, überschlägt sich in einen Drang nach Tätigkeit, nach Selbstbehauptung und Selbständigkeit. Sie wollen etwas zu sagen und zu bestimmen haben. Sie sind in der Stimmung von Revolutionären, die noch nicht wissen, wie man Revolution macht.

Baermann sagt es ihnen. »Stellen Sie dem Jakob ein Ultimatum. Schicken Sie Leo Flamm zu ihm. Der weiss, wie man mit ihm umgeht.«

Flamm nimmt das Amt ohne Freude auf sich. Dass die Spontanität des Handelns und des gemeinsamen Agierens aus der Richtung des Magens kommt, scheint ihm als Motiv der Verbrüderung etwas zu schwach. Er legt sich nicht Rechenschaft darüber ab, wieviel Antrieb zur Gemeinschaft aus dieser Richtung kommt. Er ist auch ein wenig enttäuscht vom Ausgang der Verhandlung mit Jakob. Er hat sich auf Kampf und Widerstand und Gehässigkeit vorbereitet. In Wirklichkeit braucht er nicht einmal ein Ultimatum zu stellen. Jakob ist überraschend einsichtig und von einer Bereitwilligkeit, die Argwohn hätte erregen müssen. Er liefert Leo Flamm mit grosser Gebärde den Schlüssel zu den Magazinen aus. »Ich verstehe die Reisenden vollkommen. Ich will ihnen nicht im Wege stehen, wenn sie sich selbst ihre Bequemlichkeit schaffen wollen. Es ist ganz gut, wenn sich die Verantwortung etwas verteilt.«

Flamm geht wieder an Deck, den Schlüssel nachdenklich in der Hand. Er gibt ihn an Baermann. »Da, es ist alles in Ordnung. Das kollektive Leben kann beginnen.«

Es beginnt eine Stunde später mit einer stürmischen Ansammlung der Menschen auf Deck. Baermann sagt ihnen mit zwei Sätzen, was zu sagen ist. Es ist nichts, worüber man reden müsste. Aber sie reden, ziellos, uferlos. Bis Baermann aufsteht und sich stillschweigend entfernt. Sie warten einen Augenblick befremdet. Dann verebbt die Diskussion. Es wird Abend. Sie sind hungrig und die Küche ist leer. Der Koch steht grinsend und unbeschäftigt da. »Man hat mir keine Vorräte herausgegeben. Ich kann nichts machen.«

Baermann hat den Schlüssel! Baermann ist mit dem Schlüssel fortgegangen! Was für eine Anmassung von diesem ehemaligen Kultusbeamten. Er bevormundet sie und behandelt sie wie Kinder. Sie laufen ihm nach, spüren ihn auf, schreien gegen ihn an. Er bleibt ganz unberührt davon. Er fragt: »wer will den Schlüssel haben?« Fünfzig Stimmen antworten gleichzeitig: »Ich!« – Baermann nickt. »Gerne. Aber einigen Sie sich bitte erst darüber, wer es sein soll. Ich nehme an, dass Sie doch inzwischen eine Kommission gewählt haben, die Ihr Vertrauen besitzt und die alles für alle anordnet, nicht wahr?«

Sie schauen etwas verlegen und verärgert drein. Er hat Recht, dieser Kultusbeamte, aber er behandelt sie wie unmündige Kinder. Sie beginnen wieder mit dem zwecklosen Reden, die der Hunger verschärft. Bis Dr. Fels aufspringt. Ihm ist die Geduld gerissen. Das dunkle, gütige Gesicht ist noch dunkler vor Zorn. Er fuchtelt mit den Armen. »Jetzt genug! Was muten Sie uns zu? Wir hängen alle mit unserem Schicksal an einem Faden so dünn wie das Nichts, und Sie sind nicht einmal imstande, sich über eine Banalität zu einigen?«

Baermann zieht ihn freundlich auf den Platz zurück. »Die Einigung ist bereits vollzogen« sagt er. »Die Kommission, die das Vertrauen der Versammlung hat, besteht aus dem Arzt Dr. Fels, dem ehemaligen Kultusbeamten Baermann und unserem Freunde Leo Flamm. Recht so?«

Es ist eine Erlösung für alle. Keiner hat sich bei diesem sinnlosen Gerede wohl gefühlt. Aber die innere Spannung, dieses unklare Gefühl der Verlorenheit, der Wertlosigkeit, der Zwecklosigkeit hat sich irgendwo Luft machen müssen. Seit Jahren durften sie nichts mehr über sich beschliessen, und darüber haben sie das Mass für eigene Handlungen verloren. Jetzt fühlen sie sich befreit. Sie lachen Baermann an: »Recht so, Herr Baermann. Und nichts für ungut, Doktor.«

Leo Flamm staunt, wieviel Zufriedenheit plötzlich aus dieser kleinen Aktion erwächst. Die Menschen sind beinahe glücklich. Zwar die Scheidung in Gruppen ist bestehen geblieben, aber es gibt eine Art Wohlwollen der einen Gruppe für die andere. Das Wetter bleibt schön. Die Verpflegung ist besser geworden. Wäre nicht alles so eng gewesen, dass einer dem anderen unmöglich ausweichen kann, man hätte glauben können, dass sich Menschen zu einer Erholungsreise ins Ungewisse zusammen gefunden hätten.

Nur einer teilt die allgemeine Zufriedenheit um so weniger, je mehr die Zeit verläuft: Dr. Fels. Er streicht sich über die nervösen Augen und sagt heimlich zu Flamm: »Es wird nicht gut ausgehen. Ich habe Angst, dass wir eine Epidemie bekommen. Es ist viel zu wenig Wasser da. Und wir haben keine Medikamente. Und keine frischen Lebensmittel. Alles in Büchsen. Oder eingepökelt. Hülsenfrüchte.« – »Aber alle haben guten Appetit« wendet Leo Flamm ein. – »Das ist es gerade« sagt Fels. »Ich war im Magazin. Wir werden die letzte Erbse gegessen haben, wenn wir noch vierzehn Tage von der Küste Palästinas entfernt sind.«

Flamm wird unruhig. »Sind die Vorräte so knapp?« – Fels zuckt die Achseln. »Das ist relativ. Bei Unternährung könnte man auch damit auskommen. Aber bei den Rationen, die jetzt gegessen werden ... wie gesagt: vierzehn Tage vor der Küste.«

Sie beschliessen, die Mitreisenden vorerst nicht zu beunruhigen und auf eigene Verantwortung zu handeln. So muss Flamm noch einmal zu Jakob gehen.

Es ist heute sehr still in dem Verschlag aus Segelleinen. Flamm pocht gegen eine der Stangen. »Herr Jakob, sind Sie dort?« – »Ja. Was gibt es?« »Ich muss etwas mit Ihnen besprechen.« – Zögernde Antwort: »Ich komme gleich.« – »O, bemühen Sie sich nicht.« Damit bückt Flamm sich unter das Segelleinen und steht in dem abgesonderten Raum. Das Bild ist seltsam. Jakob und der Schakal, beide in fleckenloses Weiss gekleidet, sitzen in tiefen Korbstühlen. Auf der Erde liegen Haufen von bunten Kissen, und darauf die beiden Frauen, die Blonde und eine andere, braune, graziöse mit harmlos lasterhaften Augen. Sie gleichen sich darin, dass sie beide fast unbekleidet sind. Die Blonde schrillt und deckt sich mit Kissen zu. Die Braune sieht ihn nur neugierig an. Jakob ist verwirrt. Der Schakal will aufspringen. Aber eine unsichtbare Hand drängt ihn in den Sessel zurück. Flamm geniesst diese Verwirrung mit boshaftem Behagen. Er gleitet mit einem Blick über die Frauen hin. Dann wendet er ihnen den Rücken zu und setzt sich auf einen Hocker, Jakob gegenüber. »Sind Sie über die Vorräte an Lebensmitteln orientiert?«

»Ich war es« sagt Jakob betont. »Als wir abfuhren, wusste ich: es langt bis Haifa oder einen anderen Ort der Küste. Inzwischen haben Sie ja aber die Verwaltung übernommen ...« – »Es handelt sich nicht darum« sagt Flamm, »sondern ob das Quantum überhaupt zureichend war,« – »Zureichend ist ein Relativbegriff, Herr Flamm. Auf einem grossen Luxusdampfer ...« – »Reden Sie nicht um die Sache herum. Niemand wird die alte Emma mit einem Luxusdampfer verwechseln, nicht einmal, wenn er sich die Kabinen ansieht. Ich wünsche zu wissen, ob auch nur ein zureichendes Minimum an Bord war, als wir abfuhren.«

Jakob wird ungeduldig. »Seit die Passagiere die Küche selbst führen, werden Quantitäten gegessen, die unverantwortlich sind. Ganz unangemessen ...« – »Sie meinen: unangemessen für die Gegenleistung von fünfzig Pfund? Oder unangemessen in Bezug auf den nationalen Zweck, den Sie mit dem Transport verbinden?« – Jakob schüttelt die Faust: »Ihnen wird die Ironie noch eines Tages vergehen!« – »Ich hoffe nicht« sagt Flamm trocken. »Denn dann müsste ich ganz andere Fragen an Sie stellen. Sie verstehen mich hoffentlich.«

Jakob beherrscht sich. »Die Rationen sind so bemessen gewesen, wie wir es für richtig hielten. Wenn zu viel gegessen wird ...« – Flamm steht auf. Vor ihm, auf einem Korbtisch, steht eine grosse Schüssel mit Orangen. Er nimmt nachdenklich eine in die Hand. »Obst ist bestimmt nicht gegessen worden. Aber dem kann man abhelfen. Wir werden Lissabon anlaufen, Herr Jakob, und den Proviant ergänzen.«

Jakob zuckt die Achseln. »Wenn die Passagiere es bezahlen wollen, habe ich nichts dagegen. – Flamm sieht ein: hier ist nichts zu erreichen.« Er steht eine Weile da und mustert Jakob, dann geht er ohne Gruss. Wie die Zeltwand hinter ihm zusammenschlägt, sieht er die Augen der Braunen auf sich geheftet, mit einem Blick des Staunens und der Scham.

Die Kommission hat eine geheime Besprechung. Sie kommt zu dem Ergebnis, dass man Lissabon anlaufen wird, und erst im Hafen wird man den Passagieren den Grund sagen. Wenn sie Land vor sich sehen, wird es sie nicht mehr ängstigen, dass sie von Hungersnot bedroht sind. Wie Leo Flamm sich an diesem Abend auf seine Matratze legt – er ist jetzt schon im Besitz einer Wolldecke – hört er neben sich ein Tasten am Holzgitter, ein Schleifen und Greifen. Er richtet sich vorsichtig auf und beugt sich vor. Ein seltsamer Duft kommt ihm entgegen, ein Parfum, das von der dumpfen Luft des Schlafraumes grotesk absticht. Er sieht, dass eine Hand sich durch das Gitter zwängt. Sie lässt etwas fallen und zieht sich wieder zurück. Dann klappt die Türe einer der Kabinen ins Schloss. Leo Flamm tastet nach dem Fussende der Matratze, wohin der Gegenstand gefallen ist. Es ist eine Orange. – –

Der Kapitän ist bereit, den Kurs des Schiffes zu ändern und Lissabon anzulaufen. Aber er hat ein Bedenken. Er sagt zu Baermann: »Ich kenne diese Fracht. Ich weiss, dass viele Passagiere keinen Heller mehr haben. Die, die noch etwas haben, müssen für die anderen bezahlen.« – »Sie werden es tun« sagt Baermann zuversichtlich. – Der Kapitän schüttelt den Kopf. »Es ist besser, Sie lassen sich die Zustimmung vorher geben. Drohen Sie ihnen, dass sie sonst alle hungern müssen. Der Mensch ist kein Held, wenn er es nicht sein muss.«

Es stellt sich heraus, dass sie keine Helden sind. Der Chok ist gross. Aber im Angesicht des nahen Landes bezwingen sie ihn. Es sind Gesichter mit sehr zögerndem Ausdruck zu sehen. Aber das Land ist so nahe und das Meer so weit und die Reise so unbestimmt ... Es ist nicht fair, nein zu sagen. Und in dem Masse, wie das Schiff sich dem Hafen nähert, wächst in allen das Gefühl, es sei etwas Gutes geschehen. Und so können sie den Aufenthalt im Hafen wie einen gemeinsamen Ausflug geniessen. Freilich darf keiner das Schiff verlassen, weil sie Menschen ohne zureichende Dokumente sind, also nur halbe Menschen. Aber damit haben sie sich abgefunden. Sie stehen dicht an die Reeling gedrängt und schauen in das Treiben des Hafens. Es ist ein schmales Laufbrett ausgelegt worden, und neben ihm, auf dem Kai, stehen zwei Polizisten in bunter Uniform. Sie sind freundlich und lächeln unausgesetzt. »Adonde? Wohin?« fragt einer. Ein Passagier, der etwas Spanisch versteht, ruft wie im Triumph: »Ins Heilige Land!«

Leo Flamm hört es ungerne. Es ist nicht nötig, dass man das Reiseziel ankündigt. Er ist es vom Orte seiner Flucht her gewöhnt, dass jedes Wort von irgend jemandem aufgenommen und weiter getragen wird. So hat er auch hier ein unbehagliches Gefühl. »Ich bin sicher« sagt er zu Dr. Fels, »dass man schon von uns wissen wird, lange ehe wir an der Küste sind. Es gibt einen Nachrichtendienst, der sehr prompt arbeitet.« – »Wir müssen das in Kauf nehmen« sagt Fels. »Eine Wahl haben wir nicht.«

Im übrigen denkt niemand an Gefahr oder überhaupt an das, was ihnen bevorsteht. Es vergehen zwei gemächliche Tage, dann kommen Säcke und Kisten an Bord. Das ist ungeheuer interessant. Das ist ein aufregendes Erlebnis in ihrer eintönigen Existenz. Viele verspüren zum ersten male in ihrem Dasein einen Anhauch von Ungebundenheit und Abenteuer. Wie leicht das Leben sein kann, wenn man zwischen gestern und morgen ohne Fesseln und Pflichten steht!

Sie fahren früh am anderen Morgen wieder ins Meer hinaus, unter einer strahlenden Sonne, die schon südlich wird im Glanz und in der Stärke. Alles hat sich an Deck gedrängt, um den Anblick von Land und Küste zu geniessen. Nur Leo Flamm ist unter Deck geblieben. Er kostet diese wenigen Minuten aus, da er allein ist und nicht Menschen um ihn herum schwirren. Er steht auf seinem Koffer und sieht durch das Bullauge zum Land hinüber. Da berührt eine Hand seinen Rücken. Er fährt erschreckt herum. Die Braune steht vor ihm, mit offenem, ängstlichem, unsicherem Gesicht. Sie fragt flüsternd: »Wo ist er?« – »Wer denn?« fragt Leo Flamm, obgleich er im selben Augenblick wie unter einer Vision errät, wen sie meint und was geschehen ist. Sie ruckt den Kopf seitwärts zu den Kabinen hin: »Er!« – »Der Schakal?« entfährt es ihm. Sie starrt ihn an. »Haben Sie ihn so genannt? Aber wo ist er? Er ist nicht auf dem Schiff.«

»Warum fragen Sie mich? Wie soll ich das wissen? Melden Sie es dem Kapitän. Mich geht das nichts an.« Er schämt sich seiner Schroffheit und setzt hinzu: »Obgleich es mir für Sie leid tut.« Sie sieht ihn zweifelnd an. »Jakob sagt, dass Sie mit ihm verfeindet waren und dass …« – »Nun, und was?« – Sie zögert. »Nun was? Dass ich ihn heimlich über Bord geworfen habe? Leider habe ich es nicht. Leider …«

Die Braune nickt nachdenklich vor sich hin. »Wenn Sie es sagen, glaube ich es. Aber kann er nicht verunglückt sein?« – »Weiss ich nicht. Aber wenn Sie eine Vermutung hören wollen: er hat sich aus dem Staub gemacht. Und wahrscheinlich nicht mit leeren Taschen.«

Die Braune sieht so belustigt zu ihm auf, dass es ihn überrascht. Sie lacht beinahe. »Das ist ein guter Gedanke. Das ist wohl möglich.« – Leo Flamm kann bei so viel Gelassenheit eine Frage nicht unterdrücken: »Es scheint Ihnen nicht viel Schmerz zu machen, dass er verschwunden ist.« Sie wischt leicht mit der Hand durch die Luft: »Ach nein. Garnicht. Ich meine nur … wenn es so gewesen wäre, wie Jakob sagt, dann hätte es mir leid getan. Er ist nämlich nicht gemein, müssen Sie wissen. Er ist nicht normal. Er war im Konzentrationslager. Da hat man ihn zu viel geprügelt. Immer auf den Kopf. Und von da an hat er immer getobt. Man durfte ihm nie widersprechen. Dann tobte er. Und drohte mit Mord und Totschlag. Ich wollte nicht mit ihm gehen. Aber ich konnte nicht wieder frei kommen von ihm. Er hätte mich umgebracht. Aus Angst bin ich mitgefahren. Und schliesslich ist es ja gleich. Mit irgend jemandem muss ich doch fahren. Ich habe sonst niemanden. Solange ich eine Anstellung hatte, ging es ganz gut. Aber wenn Sie gekündigt werden – was wollen Sie tun? Was tut man nicht alles, wenn man nicht verhungern will?«

Es kommt ein schneller, schwerer Tritt die Stiegen hinunter. Die Braune wendet sich um und wird blass. Sie streckt zitternd die Hand gegen Leo Flamm aus: »Nehmen Sie sich in Acht. Er hat einen Revolver in der Tasche …« Schon ist Jakob hinter dem hölzernen Gitter. Er ruft mit drohender Stimme: »Karola?« Sie weicht zurück. »Ja?« – »Was machen Sie da?«

Leo Flamm ist auf den Mittelgang hinaus getreten. Er steht jetzt ganz dicht vor Jakob. Er gibt Karola einen Wink, sich zu entfernen. Dann geht er noch dichter an Jakob heran. Der kann nicht weiter zurückweichen, weil er mit dem Rücken gegen das Holzgitter stösst. »Kommen Sie mir nicht so nahe« schreit er. Flamm sagt gedämpft. »Doch. Gerade das will ich. Ich möchte Ihnen nämlich etwas sagen, was die anderen nicht hören sollen. Es ist nicht fair, dass Sie jemanden heimlich von Bord schicken und dann das Gerücht verbreiten …«

Das ist ein Schuss ins Dunkle. Aber es scheint, als habe er ein Ziel getroffen. »Hat Karola Ihnen das gesagt?« Er tastet langsam mit der Hand nach der rechten Hosentasche. Leo Flamm sagt eindringlich: »Vor zwei Dingen hüten Sie sich, Herr Jakob. Einmal davor, Karola auch nur mit einem schiefen Blick anzusehen. Denn das werde ich Ihnen nicht erlauben. Und ferner: nach Ihrem Revolver zu greifen, wenn Sie vor jemandem stehen, der auch einen hat.« Er hat plötzlich einen Browning in der Hand, als hätte er ihn aus dem Nichts hervorgezaubert. »Den habe ich mir in Rotterdam erstanden. Schön, ja? Ich habe ihn mir zu aller Vorsicht gekauft, weil ich mir sagte: da stimmt irgend etwas nicht mit …« Er macht eine Pause. Die Pause zwingt Jakob zu der Frage: »Womit soll etwas nicht stimmen?« Und jetzt schiesst Leo Flamm zum zweiten male ins Dunkel: »Mit der Nationalen Vereinigung.«

Jakob schliesst einen Moment die Augen. Er ist sehr blass. Aber er gibt nichts preis. »Ich habe Sie immer für einen Phantasten gehalten« sagt er und geht fort. Aber Leo Flamm weiss, dass er wieder in ein Ziel getroffen hat, wenn er auch nicht weiss, wie dieses Ziel heisst. –

Mit den neuen Lebensmitteln ist neues Behagen auf dem Schiff eingekehrt. Es ist jetzt alles sehr schön. Es ist jetzt sogar Raum für eine Spannung und Erwartung, an der alle Menschen auf dem Schiff gleichmässig teilnehmen: es ist die Geburt eines Kindes zu erwarten. Das wird das Gespräch des Tages. Mehr: es wird der Mittelpunkt des Denkens, Empfindens und Sorgens. Die werdende Mutter sitzt jeden Morgen rundlich, zufrieden und strahlend mittschiffs auf einem Sessel und lässt sich verwöhnen. Der Vater von morgen geht mit verlegenem Gesicht einher und wagt nicht, die Aufhebung des privaten, des diskreten Raumes um dieses Ereignis zu beklagen. Dr. Fels allein ist nachdenklich und besorgt. Es ist ein erstes Kind. Man kann nie wissen … Im Grunde seiner Seele weiss er, es wird alles einfach und natürlich verlaufen. Aber man hat ihn so lange von seinem Beruf fern gehalten, dass er sich beinahe eine Komplikation wünscht, um all seine Kenntnisse und Fähigkeiten einsetzen zu können. Und inzwischen nähen Frauen an Windeln und Säuglingskleidern und zimmern zwei Burschen mit Liebe und Ungeschick eine viel zu grosse Wiege.

Leo Flamm empfindet alle diese Vorbereitungen rührend und schamlos zugleich. Er bemüht sich, nichts davon zur Kenntnis zu nehmen. Irgend ein Bezirk der Heimlichkeit schein ihm hier – trotz der menschlichen Teilnahme – verletzt. Und doch kann er nicht umhin, daran zu denken. Dabei plagt ihn die Vorstellung: soll die Mutter ihr Kind in diesem Lagerraum, unter dieser Masse von Menschen zur Welt bringen? Gibt es für sie keinen abgesonderten Raum? So widerwärtig es ihm ist, er muss sich doch wieder an Jakob wenden.

Jakob ist seit der letzten Begegnung fast unsichtbar geworden. Es scheint ihn etwas zu drücken, das ihn stiller und gefügiger macht. »Es sind nur vier Kabinen da« sagt er. »Eine für den Kapitän, eine für die beiden Steuerleute, eine für uns … und … nun ja. Karola hat jetzt die Kabine für sich allein. Wenn sie einverstanden ist …«

Flamm hat Karola in diesem Tagen wenig gesehen. Gesprochen hat er nicht wieder mit ihr. Sie ist immer mit einem scheuen Blick an ihm vorüber gegangen. Aber das ist ihm aufgefallen, dass sie jetzt sehr einfach und bescheiden gekleidet geht. Vielleicht hat es ihr gut getan, dass der Schakal nicht mehr da ist. Vielleicht ist damit ein böser Einfluss von ihr abgefallen.

Sie sitzt auf dem Bettrand und näht an einem Kleid. Sie sieht ihn überrascht an. Noch unter der Sonnenbräune wird sie rot. Sie steht nicht auf. Flamm hält die Türe in der Hand. »Verzeihen Sie, dass ich störe« sagt er. Sie ist völlig verwirrt. »Ja« sagt sie und rückt ein wenig zur Seite, als müsse er dort neben ihr Platz nehmen. Es ist eine Bewegung äusserster Hilflosigkeit. Sie hört ihn aufmerksam an, mit seitwärts geneigtem Kopf. »Für die Mutter? Aber gewiss. Sie kann kommen. Sagen sie ihr, dass sie gleich kommen soll.«

Leo Flamm lächelt. »Sagen Sie ihr das nicht besser? Als Frau zur Frau?« Sie sieht zur Seite, »Ich möchte es nicht. Ich kenne die Frauen. Ich weiss, was sie von mir denken … was ich bin. Und wenn sie nein sagt … dann soll sie es mir nicht ins Gesicht sagen.« Er nickt. »Ja, das verstehe ich. Also werde ich es Dr. Fels sagen. Er wird Ihnen sehr dankbar sein. Und ich danke Ihnen auch.«

Sie steht auf. »Nicht wahr« sagt sie leise, »sie haben das auch von mir gedacht?« – Er mag nicht lügen. »Wenn Sie mich darum fragen: ja.« – »Aber es ist nicht wahr. Glauben Sie mir. Es ist mir gleich, was die anderen denken. Sie sollen es nicht denken. Es wäre schrecklich.« Es tut ihm weh. Er lächelt zu ihr hinunter: »Ich glaube es längst nicht mehr. Ich … ich habe Sie um Verzeihung zu bitten …« Da beginnt sie leise zu weinen. Erschrocken wendet er sich ab und geht hinaus.

In der übernächsten Nacht dringt aus der Kabine das erste Stöhnen. Es ist nur ein Augenblick, aber es scheint, als horche das ganze Schiff auf. Leo Flamm zieht sich die Decke über den Kopf. Er will nichts hören. Alles in ihm sträubt sich dagegen, Zeuge zu sein. Er weiss nicht, wie lange er so verhüllt gelegen hat. Vielleicht war er inzwischen wieder eingeschlafen. Da berührt jemand seine Schulter. Er sieht auf. Neben ihm hockt Karola, den Kopf gesenkt, die Hände in eine Decke vergraben, die sie vor ihren Körper hält. »Das Kind ist da« flüstert sie. »Es graust mich. Ich kann da nicht bleiben. Und die Schwester muss in meinem Bett schlafen. Ich habe nirgends, wohin ich gehen kann. Kein Platz für mich …«

Leo Flamm atmet tief auf, ein wenig zitternd. Was hier geschieht, trägt die Gradlinigkeit des Schicksals in sich. Er selber hat die Hand dazu gegeben. Aber ist es nicht immer so, dass Schicksale erst geschehen, wenn der Mensch zuvor die Hand nach ihm ausgestreckt hat? Er rückt zur Seite und macht Platz für Karola. Sie streckt sich langsam aus und zieht die Decke über sich. Sie atmen beide sehr leise und verhalten, als hätten sie Angst vor einander – – –


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