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III.

Frau Bauer wartete auf ihre Tochter Helene, die nach Rudolstadt gefahren war, um Arbeit abzuliefern und neue zu holen. Sie nähte für eine große Fabrik ganz feine Wäsche – sogenannte Negligés – und verdiente recht hübsches Geld; die kurze und billige Eisenbahnfahrt machte keinen Unterschied. Frau Bauer und ihre Tochter wohnten noch immer in der Schwarzenauer Arbeiterkolonie, da der verstorbene Bauer lange Jahre Weber in der Fabrik gewesen war.

Die vortrefflichen Einrichtungen des Goldegg'schen Etablissements sicherten der Wittwe eine kleine Pension und freie Wohnung zu. Freilich, ob das lange so bleiben würde, auch nach dem Tode des gütigen, großherzigen Herrn, das war die Frage. Noch hatte Herr Director Hassemann nicht gewagt, einschneidende Veränderungen vorzunehmen – bis gestern war ja Frau Goldegg hier gewesen. Das Weitere mußte man abwarten.

Helene war nicht, was so nahe lag, in die Fabrik gegangen; der Vater wollte sie vor dem Schicksal der Kinder seiner Kameraden bewahren. Sie war ein begabtes, strebsames Mädchen und deshalb plante er, sie zur Lehrerin ausbilden zu lassen. Er wußte nur zu gut, daß sein Herr, der Fabrikbesitzer Goldegg ihm auch einen Beitrag zu den Kosten gewähren würde. In zahlreichen Fällen hatte sich der humane Sinn des Herrn in ähnlicher Weise bethätigt. Aber Bauer starb eines Tages nach kurzer Krankheit und Helene war nun auch nichts Besseres als eine Arbeiterin, wenn ihr auch die Fabrik erspart geblieben war. Vielleicht übrigens stand sie sich jetzt besser, denn als Lehrerin; denn bei jenen Arbeiten, wo selbstständiger Geschmack entwickelt wird, kann eine geschickte Näherin immerhin anständig verdienen. Schlecht bezahlt ist nur die mechanische Arbeit. Helenen wurden die geschmackvollen Morgenhäubchen, die zierlichen Tollen und Rüschen, die feinen Schürzchen, die eleganten Nachtjacken und Peignoirs ganz gut bezahlt.

Nur Frau Bauer war nicht zufrieden, daß die Absichten ihres Mannes sich nicht realisirt hatten. Weltunkundig, wie sie war, meinte sie, ihre hübsche Tochter hätte nicht nur ein besseres Loos, sondern auch eine gute Parthie gefunden, wenn sie sich hätte ausbilden können. Denn Frau Bauer wußte nicht, daß die armen, aber mit Ansprüchen auftretenden Mädchen sich am schwersten verheirathen.

»Wenn doch Helene nichts in der Hand hatte, kein Zeugniß und kein Diplom, so hatte ihre Bildung keinen Werth, war ihr eigentlich nur im Wege« – so meinte Frau Bauer, die ja selbst von Bildung nur unbestimmte Begriffe hatte, aber doch gerne etwas höher hinaus wollte. Zu ihrer Entschuldigung muß gesagt werden, daß sie selbst außerordentlich genügsam war. Sie kochte, wusch und scheuerte, und ihr ganzer Ehrgeiz erstreckte sich auf die Zukunft der hübschen und begabten Tochter.

Helene mußte den Zug versäumt haben; das kam manchmal vor. Frau Bauer war in solchem Falle nicht unruhig, nur ärgerlich. Ja, die Sache mit der Eisenbahnfahrt war ja nicht bequem, aber Frau Bauer war hier in Schwarzenau gefesselt durch die freie Wohnung. Im Städtchen hätte selbst das kleinste Quartier einen erheblichen Theil ihrer Einnahmen aufgezehrt.

Es schellte draußen; doch war es nicht Helene, sondern Paul Basler.

Seit dem Tode Bauers wohnte er hier im Hause. Obgleich ein »Studierter«, der recht gut situirt war, überdies ein Liebling Goldeggs, ein Mann, der sich mancherlei hätte vergönnen können, lebte er immer sehr einfach und bescheiden. Er arbeitete in dienstfreien Stunden, trieb chemische Studien und experimentirte. Es lag ihm wenig am Verkehr mit den Genossen, von denen ihn denn auch mancher »verrückt« nannte. Wenn er in seinem Dachstübchen bei seinen Retorten und Apparaten saß, fehlte ihm sonst nichts in der Welt.

Er war schweigsam, in sich gekehrt und seine dunklen, glühenden Augen schienen immer in irgend eine unbestimmte Ferne zu sehen.

Frau Bauer hatte eine Stube mit Küche und Alcoven; auf besonderes Bitten hatte ihr der verstorbene Goldegg auch noch das Dachstübchen in dem Zweifamilienhause eingeräumt, das jetzt Basler bewohnte. Es war ein kleiner, nur den mäßigsten Ansprüchen genügender Raum, aber sehr hell, mit schöner Aussicht über die qualmenden Schlote fort nach Berg und Wald.

Basler nahm seine bescheidenen Mahlzeiten meist von Frau Bauer, bisweilen auf seinem Zimmer, bisweilen in ihrer Stube. Mittag aß er in der Fabrikkantine, das Abendessen lieferte ihm in der Regel seine Quartierfrau, denn er mied fast ängstlich die Kneipe.

Frau Basler hätte es nicht ungern gesehen, wenn er und Helene ein Paar geworden wären. So solide junge Leute sind selten und die heitere, lebensmuthige Helene paßte gerade zu dem stillen, ernsten Manne. Helene neckte ihn häufig und er schien es nicht ungern zu sehen, aber er blieb völlig verschlossen. Von irgend einer Annäherung war bis heute nicht eine Spur zu merken. Frau Bauer meinte, nun Goldegg gestorben war, nun wäre der richtige Zeitpunkt für Basler gekommen, sich eine eigene Häuslichkeit zu gründen, denn er hatte jetzt nicht mehr den Anschluß an seinen gütigen Herrn, der ihn behandelte wie seinesgleichen. Auch ging er wirklich seit der entsetzlichen Katastrophe herum wie im Traume. Man mußte dem scheuen Menschen unter die Arme greifen, damit er nicht ganz melancholisch würde.

Als nun gar gestern die gnädige Frau so plötzlich abreiste, hatte er sich völlig sonderbar betragen. Er war ihr nachgerannt wie ein Besessener auf den Bahnhof und war ganz niedergeschmettert wiedergekommen.

Schon seit dem Tode Goldeggs war Verschiedenerlei gemunkelt worden. Paul Basler hätte mit Herrn Goldegg gemeinsam eine Erfindung gemacht und er würde einmal ein »großes Thier« werden und sogar Hassemann verdrängen.

Paul Basler freilich schwieg von dem Allen, aber Jakob, der Bureaudiener Hassemanns – er war auf directen Wunsch der Frau Goldegg im Dienst behalten worden – war es, der allerlei erzählte. Er wollte gehört haben, wie Goldegg am Abend vor seinem plötzlichen Tode im Laboratorium jubelnd ausrief:

»Baslerchen, wir haben's, wir haben's! Das wird eine große Sache, geben Sie Acht, Sie werden noch einmal ein reicher Mann!«

Und solcher Reden mehr. Dann hätte man ihm, Jacob, geklingelt und er mußte ein Gläschen oder Fläschchen nach der Villa tragen, das sollte sorgsam verwahrt werden, zum ewigen Angedenken.

Jacob behauptete auch, nur die tiefe Trauer der Frau Goldegg verhindere die Austragung der Sache. Die Beweise für Baslers Erfindung wären in Goldegg's Pult eingeschlossen und Paul Basler hätte gewiß nur aus Bescheidenheit, aus Rücksicht Frau Kamilla bisher nicht belästigen wollen.

Die alte Bauer reimte sich das alles zusammen: daß die ganz plötzliche Abreise der Fran Goldegg dem Paul vielleicht einen Strich durch die Rechnung machte und daß er hauptsächlich deshalb so erregt war, weil er nun von neuem zum Warten, zum Ausharren sich gezwungen sah.

Um so mehr sollte man ihm irgend einen Wink geben; der stille, ungeschickte Mensch traute sich an Helene nicht recht heran, das mußte eine Mutter selbst in die Hand nehmen.

Paul Basler kam, grüßte artig und begann das für ihn schon bereit stehende Abendessen, Wurst, Brod und dünnes Bier, achtlos zu verschlingen. Er starrte träumerisch vor sich hin, seine Gedanken waren sicher irgend wo anders.

Frau Bauer begann ihm jetzt von Helenes Ausbleiben zu sprechen, es sei zu ärgerlich, daß das Mädchen sich nun spät Abends auf der Landstraße herum treiben müßte.

Basler sagte, er wolle sie zum Siebenuhrzuge abholen.

»Sehr freundlich von Ihnen,« versetzte Frau Bauer, »sehr freundlich, aber …«

Er wurde aufmerksam.

»Aber …?«

»Sie bringen meine Helene in's Gerede,« meinte die Mutter.

»Ich sehe nicht ein, was Sie meinen.«

Mit größter Vorsicht machte Frau Bauer ihm begreiflich, daß dies Leben unter einem Dache, dies Begleiten, dies Abholen, der ganze vertrauliche Verkehr, Gerüchte zur Folge habe, welche es einem Mädchen schwer, ja unmöglich machen, irgend eine Parthie zu finden.

Paul verfärbte sich, er hatte begriffen.

Mit größter Spannung erwartete Frau Bauer, was nun folgen würde.

»Es wäre mir sehr leid,« sagte Paul, schwer aufathmend, »wenn Ihnen oder Fräulein Helene durch meine Schuld irgend ein Schaden oder auch nur eine Unannehmlichkeit entstände. Erlauben Sie mir nur, Frau Bauer, daß ich Ihr Fräulein Tochter heute noch abhole – ich werde mich mit ihr aussprechen.«

Frau Bauer lächelte befriedigt.

»Unter dieser Bedingung, sehr gern. Ich habe ja kein Mißtrauen gegen Sie, im Gegentheil …«

Er ging. Er würde doch Helene einen Antrag machen? Anders war ja seine Antwort gar nicht zu verstehen. Er würde doch nicht etwa kündigen? Das hätte er ja gleich thun können.

Dennoch blieb Frau Bauer nicht ohne Sorge zurück. Er war ein gar so seltsamer Mensch. Nun hatte der Narr nicht einmal ganz aufgegessen; vielleicht glaubte er, den Zug zu versäumen und würde nachher seine Mahlzeit beendigen. Sie deckte wegen der Fliegen den Teller zu und stellte das Bier in kaltes Wasser.

Nun schritt Paul draußen durch die dunkle Straße der Arbeiterkolonie. Er war mit sich klar: sein Geschick mußte sich heute entscheiden. Nur so ganz zufällig hatten die Worte der Frau Bauer ihm dies in's Bewußtsein gebracht.

In sträflicher Lässigkeit hatte er seine Angelegenheit fast ein Jahr ruhen lassen, nur darum, weil Frau Goldegg ihm damals Schweigen geboten hatte. Er Thor, der er war, darum wirklich zu schweigen! Er hatte gemeint, sie würde von selbst einmal auf die Sache zurückkommen, aber das hatte sie offenbar vergessen und war jetzt plötzlich, irgend einer Laune folgend, abgereist, ohne auch nur an ihn zu denken.

Von tiefer Bitterkeit erfüllt, schritt er dahin. Er gedachte seiner armen, dunkeln Jugend. Von Stipendien und Privatstunden bugsirt, hatte er mühselig sich fortgebracht. Sein Traum, es bis zum Doktor der Chemie zu bringen und dann vielleicht einmal eine unabhängige Stellung einzunehmen, war unerfüllt geblieben. Da war durch ein Inserat seine Aufmerksamkeit auf den freien Platz in dem Goldegg'schen Etablissement hingelenkt worden. Goldegg hatte bisher keinen Chemiker gehabt, aber seine Neigung, sich durch selbstständige Versuche zu bethätigen, ließ ihn dazu gelangen, daß er sich um einen jungen Mann umsah. Es interessirte ihn selbst, wie man die Färberei vorwärts bringen könnte.

Goldegg hatte den Brief Paul Baslers unter vierunddreißig Bewerbern berücksichtigt, weil gerade dieser Brief in seiner energischen Kürze und Klarheit dem Stellengeber gefiel.

Paul dünkte sich damals überglücklich; er arbeitete mit Begeisterung und Hingebung. Die Güte des Herrn Goldegg, die Schönheit und die Freundlichkeit seiner Frau, das Alles berauschte ihn.

An jenem Abend, da die allerersten Versuche mit den Azorfarben geglückt schienen, stand er auf dem Gipfel der Freude.

Und der folgende Morgen brachte die entsetzliche Katastrophe.

Aber Paul glaubte noch immer an seinen Stern, wenn auch durch den Tod seines Gönners und die Gleichgültigkeit der jungen Wittwe dieser Stern vorübergehend getrübt war. Nur galt es jetzt endlich, seine Rechte zu wahren, und zwar sollte das sogleich geschehen.

Erst nach dem Tode Goldegg's hatte man Versuche mit dem neuen Färbestoff auch in der Fabrik gemacht, und diese Versuche waren durchwegs geglückt. Aber Hassemann verschleppte die Sache, er fand Ausreden, ließ die Probefärbungen nicht in größerem Maaße vornehmen, weil die Sache angeblich noch »unreif« wäre. Davon hätte sich Paul nicht einschüchtern lassen, nur hatte er die ritterliche Regung, ohne die Zustimmung der gnädigen Frau nichts beginnen zu wollen.

Aber Frau Goldegg hatte sich ihm plötzlich entzogen, und jetzt mußte er handeln.

Noch stand er zögernd vor dem Direktionsgebäude. Er mißtraute diesem Hassemann, und ihm graute davor, Jenen auf dem Posten des seligen Goldegg thronen zu sehen. Aber gleichviel, es mußte sein.

Er war genöthigt, auch noch zu antichambriren, denn Andere warteten schon. Der »Herr Direktor« sollte überdies wenig gut gelaunt sein. Die Abreise der Frau Goldegg hatte wohl auch ihn überrumpelt.

»Was wünschen Sie, lieber Basler,« sagte er in seinem kühlen Tone, der nur noch dem Wortlaute nach ein freundlicher war.

Paul würgte schon an der Anrede, denn der »Herr Direktor« wollte ihm nicht recht von den Lippen. Hassemann aber that, als merke er nichts.

»Loyal, wie ich bin,« sagte Basler mit fester Stimme, »wollte ich Ihnen nur mittheilen, daß ich den Entschluß gefaßt habe, nunmehr meine Rechte zu wahren.«

»Ich verstehe nicht, Herr Basler; was wollen Sie wahren?«

Sogleich stieg Paul der Groll zu Kopfe. Hassemann verstand ihn ja sicherlich.

»Ich bitte, Herr Hassemann, Sie wissen und müssen wissen, was ich meine, wenn ich von meinen Rechten spreche.«

Hassemann rückte sich auf seinem Stuhl zurecht und nahm seine Imperatorenmiene an.

»Ah, Ihre sogenannte Erfindung! Wäre es nicht besser, lieber Basler, Sie sprächen gar nicht mehr davon?«

Dabei sah er ihn an, mit jener steinernen Freundlichkeit, hinter der die Malice lauert.

Mit Mühe nur bewahrte Paul seine Fassung.

»Sie haben Recht, Herr Hassemann, ich werde nicht weiter sprechen. Ich habe auch bereits gehandelt. Mein Gesuch an das Patentamt ist heute abgegangen. Ich werde mir meine Erfindung einfach patentiren lassen. Es ist im Grunde mein Werk und Frau Goldegg kann mir nicht zürnen, sie wird es auch nicht.«

Hassemann legte jetzt die Feder fort.

»Bitte, unterlassen Sie Ihr Patentgesuch,« sagte er in fast befehlendem Tone, »es ist gegenstandslos geworden, denn das Verfahren ist bereits patentirt. Ich habe seit drei Tagen das auf den Namen der Firma Goldegg lautende Patent in den Händen.«

»Es kann Ihr Ernst nicht sein, Herr Hassemann,« stammelte Paul Basler.

»Warum nicht, ich habe nirgend auch nur eine Spur, ein Wort auffinden können, welches auf Ihre Rechte deutet. Ich habe mich ein ganzes Jahr mit der Sache beschäftigt und immer noch erwartet, Sie persönlich werden irgend etwas beibringen können, was Ihre sogenannten Ansprüche begründet. Nun glaubte ich endlich, die Interessen der Firma wahren zu müssen. Das ist meine heiligste Pflicht, dazu bin ich da, und ich habe meine Pflicht gethan.«

Er nahm die Feder wieder, die Sache war für ihn abgethan.

Eine Weile stand Paul sprachlos, angewurzelt.

»Ich kann noch immer nicht fassen, Herr Hassemann, Sie sollten …«

Hassemann stampfte ungeduldig mit dem Fuße auf.

»Natürlich sollte ich – mußte ich – habe ich so gehandelt, wie geschehen. Ich verkenne auch gar nicht, daß Sie wahrscheinlich einiges Verdienst bei der Sache haben. Ich weiß ja, daß Sie redlich mitgeholfen. Aber einerseits standen Sie in festem Gehalt, wurden verhältnißmäßig gut bezahlt, wie Sie ja nicht in Abrede stellen werden, und andererseits bin ich durchaus nicht abgeneigt, Sie zu entschädigen, und zwar im Namen der Firma Goldegg.«

Mit flammendem Blick und energischer Gebärde gebot ihm Paul, zu schweigen.

»Ich will kein Geld,« rief er zornig, »ich will mein Recht und werde es zu wahren wissen. Ich bin überzeugt, daß, wenn Frau Goldegg wüßte, was Sie gethan, sie nie ihre Zustimmung gegeben hätte. Sie will nicht, daß Jemand geschädigt wird, den ihr Mann Freund nannte. Ich verehre den Namen Goldegg über Alles. Lieber aber wollte ich die ganze Fabrik in Flammen aufgehen sehen, bevor ich dulden würde …«

»Jacob, ich rufe Sie zum Zeugen für diese Worte,« rief der Direktor Hassemann dem eben eingetretenen Diener zu. Jacob war aus bloßer Neugier hereingekommen und hatte die Lampe angesteckt, obgleich es noch ganz hell war.

»Wir sind geschiedene Leute,« schrie Basler. »Ich betrete die Fabrik mit keinem Fuße mehr. Sie werden sich die Folgen zuzuschreiben haben.«

Er stürmte davon.

»Was fällt Ihnen ein, schon anzustecken,« schnauzte jetzt Hassemann den Diener an. »Machen Sie lieber die Fenster auf, es ist verdammt schwül hier,« und er fuhr sich mit dem Tuche über die Stirn.

Paul Basler war in die Nacht hinaus gestürzt.

Es gab nur zwei Möglichkeiten für ihn; entweder den Prozeß anstrengen, seine Ersparnisse einsetzen und auf diese Weise sein Recht erzwingen, oder Kamilla Goldegg von der Begründung seiner Ansprüche zu überzeugen suchen. Sie würde doch nicht immer fern bleiben, sie hatte gewiß nur eine Reise von einigen Wochen angetreten, dann würde sie wieder hier sein. Und sie, sie mußte ihn verstehen, ihn erhören in seiner Noth. Niemand glaubte ihm. Seit sein Gönner gestorben war, sah er sich in eine fremde, feindliche Welt versetzt, ein Verzauberter, ein Verhexter, dessen Sprache Niemand verstand. Man leugnete sein Recht, man wollte nichts von ihm wissen, man behandelte ihn wie einen Narren, ja, wohl gar wie einen Betrüger! Und sie, die Einzige, die ihm hätte können Gerechtigkeit gewähren, sie war ferne, ihm entronnen wie ein Traumbild.

Sie hatte ihn nur halb verstanden, das große Geheimniß seines leidenschaftlichen Herzens hatte sie geahnt, aber gerade darum war ihr das Andere entgangen. Ach, was sollte er beginnen, an wen sich wenden, wer würde ihn verstehen?

Da hörte er das Anschlagen der Signalglocken auf der Bahnstrecke, und er erinnerte sich, daß er Helenen abholen sollte. Er wandte sich dem Bahnhofe zu.

Einige Minuten saß er, in dumpfes Brüten versunken, im Wartesaal. Da waren ein paar Gäste aus dem Städtchen; der Eine hatte am Buffet ein Schnäpschen verlangt von jener Sorte, die der »Herr Direktor« immer trank, und ein Anderer, offenbar ein Handlungsreisender, erkundigte sich bei dieser Gelegenheit, wann man wohl den »Herrn Direktor« am wenigsten störe.

Immer Er, und immer wieder Er! Jener Hassemann hatte gesiegt – den Nebenbuhler unterbekommen. Er saß fest und in Ehren, und nun hatte er auch noch den Ruhm, das Interesse der Firma Goldegg so glänzend gewahrt zu haben.

Freilich, das war ja nicht zu bestreiten, der Mensch verstand seine Sache. Er entwickelte eine unermüdliche Energie, arbeitete mit außerordentlicher Tüchtigkeit, er war überall, oft da, wo man ihn am wenigsten vermuthete. Das letzte Geräthmagazin war ebenso wenig sicher vor seinen Augen, wie irgend ein Winkel im Zeichenatelier und in den eigentlichen Arbeitssälen. Im Kontor war er zu Hause, wie kein Anderer, er hatte Alles im Kopfe, sah Alles, wußte Alles, und Alles ging wie am Schnürchen. Der erste Buchhalter zitterte vor ihm wie die letzte Scheuerfrau. Man konnte ihm auch keine direkte Ungerechtigkeit vorwerfen oder grobe Härte. Nur ward das Hausgesetz unbarmherzig gehandhabt, gleichviel, ob mildernde Umstände da waren oder nicht.

Das war der Mann des Erfolges, und er, Paul, ein müßiger Träumer, ein Experimentemacher, der nicht einmal den Weg zum Patentamte gefunden hatte. Kein Zweifel, Hassemann würde auch noch Kamilla's Hand erreichen! Sollte er, Paul, auch das noch mit ansehen, oder sollte er gehen und hier Alles stehen und liegen lassen? Nein, das noch weniger, das zu allerletzt!

Momentan war er brodlos, aber das machte ihm wenig Sorgen. Er wußte, was er konnte, er würde überall ein Unterkommen finden.

In trotzigem Schweigen saß er da; nun klopfte ihm Jemand auf die Schulter.

»Herr Basler, sind Sie es?«

Es war einer der fleißigsten und tüchtigsten Maschinenarbeiter, der trotz strengen Verbots des Directors sich an sozialistischen Agitationen betheiligte. Er wohnte den Volksversammlungen im »Adler« bei, was seine sofortige Entlassung zur Folge haben konnte.

Aber der Director erfuhr nichts, obgleich sonst Alle es wußten; Niemand verrieth den braven Bärmann.

»Möchten Sie nicht auch einmal zum »Adler« kommen, Herr Basler?«

Paul zuckte leicht zusammen. So sah man ihm sein Schicksal an, wußte, wie es um ihn stand? Man forderte ihn auf, dem Director zu trotzen? Und doch wußte Bärmann noch nicht, daß er seine Stellung aufgegeben, konnte es noch nicht wissen.

»Ja, ich komme,« sagte er kurz.

Bisher hatte er eine derartige Versammlung nicht besucht, es fehlte ihm an Interesse dafür. Jetzt aber, wo ihm zu Muthe war, als sänke er ins Bodenlose, jetzt haschte er nach irgend etwas, daran er sich klammern konnte.

Draußen läutete es zur Ankunft des Zuges. Paul eilte auf den Perron und schritt die Wagenreihe entlang.

Helene kam, lächelte ihm dankbar freundlich entgegen. Es war so hübsch, abgeholt zu werden.

Sie war ein zierliches Mädchen, Anfangs der Zwanzig, von entschiedenem Wesen. Man hätte finden können, daß sie ein wenig kokett aufgeputzt war, aber damit zeichnete sie sich vor den Arbeiterinnen der Fabrik aus. Paul nahm ihr das Packet ab, ihre Arbeit.

Sie wurde ernst, als sie seine ernste Miene sah. Mit warmer theilnehmender Stimme fragte sie, was ihm sei.

Und auf einmal drängte sich sein sonst so stolz verschlossenes Herz auf seine Lippen.

»Ach Fräulein Helene, wenn Sie wüßten …« Er stockte.

»O bitte, bitte, sprechen Sie doch. Ich weiß schon alles halb. Es handelt sich um Ihre Erfindung. Nicht?«

Und er erzählte jetzt die ganze Leidensgeschichte von seiner Erfindung. O, wie wohl das that! Er schrie seine Entrüstung in die nur von einem Vierteldutzend spärlicher Petroleumlampen durchbrochene Nacht hinaus.

Helene lauschte athemlos. Er erschien ihr wie ein Held, ein Märtyrer. Sie hatte schon oft von dem traurigen Schicksal der Erfinder gehört: Sie bedachte gar nicht, daß es sich hier nicht um etwas, wie die Dampfmaschine, wie der elektrische Apparat, sondern nur um ein verbessertes Färbeverfahren handelte – sie sah nur den gekränkten »Erfinder«.

»Sie müssen prozessiren,« rief sie, »koste es was es wolle!«

»Das will ich auch,« versetzte er. »Ich habe ja auch etwas gespart, aber dafür bin ich im Augenblick ohne Stellung. Ich kann natürlich unter Hassemann nicht weiter dienen!«

»Sie wollen fort?« rief sie zu Tode erschrocken.

Wie Balsam floß ihr theilnehmender Ton in seine Seele.

»Nein, Fräulein Helene,« sagte er leise, »ich möchte eigentlich nicht fort, möchte sogar gern hier bleiben …«

Sie athmete auf.

»Aber Sie müssen sich eine Stelle suchen,« sagte sie mit stockender Stimme.

»Das weniger, ich habe eine Nebenbeschäftigung, wie Sie wissen. An den Tabellen für das chemische Laboratorium in Jena hätte ich noch ein Vierteljahr zu thun, ja das ließe sich vielleicht noch weiter ausdehnen, aber Ihre Frau Mutter …«

Er hielt wieder inne. Dann begann er zu erzählen, was Frau Bauer gesagt. Helene schwieg erschrocken. Sie fand nicht gleich eine Antwort. Merkwürdig, er erzählte ihr das, ohne etwas daran zu knüpfen! Wo die Gelegenheit so günstig war, sich auszusprechen! Und wiederum: warum wollte er denn durchaus hier bleiben, wo ihn alles kränkte? Jetzt aber fuhr er fort:

»Ich habe Aussicht für später, an der Versuchsanstalt in Jena anzukommen; nur zöge ich es vor, hier zu bleiben.«

Warum wollte er hier in dem kleinen Neste kleben? Was hielt ihn hier zurück, wenn nicht sie es war? Er war nur zu anständig, um zu sprechen in seinen jetzt so unklaren Verhältnissen. Sie sagte entschieden:

»Bleiben Sie bei uns, Herr Basler, ich bitte Sie darum. Ich werde das mit meiner Mutter ausmachen.«

Er drückte ihr die Hand.

»Ich danke Ihnen sehr!«

Paul sah sie verwundert an. Wäre es nicht so dunkel gewesen, der Ausdruck seines männlichen, ernsten Gesichtes hätte ihr vielleicht eine kleine Enttäuschung bereitet.

»Ich weiß wirklich nicht, ob ich das annehmen darf, Fräulein Helene,« meinte er zögernd.

»Ja, Sie dürfen! Ich bitte Sie sehr, zu bleiben.«

Und vor dem Hause verabschiedete er sich von ihr. Bärmann war eben in der Nähe aufgetaucht, um ihn abzufangen.

Auch Bärmann hatte eine Leidensgeschichte auf dem Herzen.

Hassemann, dieser Gewaltherrscher, ließ ihn nicht heirathen, weil das Hausgesetz eine bestimmte Anzahl von verheiratheten Arbeitern vorschrieb. Zu Zeiten des seligen Goldegg war diese Grenze wiederholt überschritten worden; auch jetzt war das Contingent der Verheiratheten übercomplett, aber Hassemann wollte nach und nach den regelmäßigen Status einführen.

Bärmanns Braut war ein Fabrikmädchen, eine hübsche, aber leichtsinnige Person. Er war überzeugt, sie zu »retten«, wenn es ihm möglich wurde, sie an den eigenen Herd zu führen. Beim Director Hassemann war gerade sie wenig beliebt. Dieser strenge Mann sah nicht, daß sie hübsch und zierlich war, er wußte nur, daß sie nicht selten auf der Liste Derer stand, die der Portier als zu spät gekommen bezeichnete. Auch vom Orte konnte sie nicht weg, sie hatte wenig gelernt, hätte sich nur mit Mühe in andere Arbeit hineingefunden. So war Bärmann durch sie gebunden an die Fabrik in Schwarzenau, er konnte nicht weg und konnte doch auch nicht bleiben, ohne Marie zu heirathen.

Die Unzufriedenheit darüber war es, was ihn in die socialistischen Versammlungen getrieben hatte. Und auch Paul Basler, der ihn jetzt zum »Adler« begleitete, kam, weniger, weil er mit der bestehenden Ordnung haderte, als weil er sich im Kampfe sah mit Direktor Hassemann.

Helene war inzwischen zu Hause angelangt. Während sie durch den schmalen Vorgarten geschritten war, reifte plötzlich ein kühner Entschluß in ihrer muthigen Seele.

»Liebe Mutter,« begann sie, »sei ganz ruhig – was den Paul Basler betrifft! Er wird um mich anhalten. Er thut es nur nicht, wegen seiner ungewissen Stellung und deshalb wünscht er, daß wir vorläufig noch von der Sache schweigen. Aber Du darfst mir's glauben, er wird sehr bald in bessere Verhältnisse kommen und dann …«

Die Mutter murrte noch, aber sie gab sich endlich zufrieden – freilich ohne zu ahnen, wie eigenmächtig sich Helene verlobt hatte.


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