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Sie schlafen ...

Ich habe es versucht.

Ich habe eine halbe Stunde ruhig dagelegen und alle möglichen Künste angewandt, den Schlaf herbeizuzwingen. Es gelang mir nicht.

Ich bin leise aufgestanden und sitze nun an dem Klapptisch vor meinen feuchten vergilbten Blättern. Ich schreibe. Die Tinte verläuft, der Kopf ist mir noch etwas benommen. Trotzdem habe ich all das, was ich nun über die Smaragd-Leute weiß, sehr sorgfältig nachgeprüft und glaube eine Erklärung für diese geheime Siedlung dort in den Sümpfen gefunden zu haben.

Glaube ...

Mac wird schon recht haben, der arme tote Mac, der hier sein Kind wiedersah – oder wiederzuerkennen meinte: es sind Edelsteinsucher, und es sind sehr kluge, sehr rücksichtslose, technisch sehr bewanderte Männer!

Blond – – blond, und das würde zu meiner Annahme stimmen: wahrscheinlich Nordländer, vielleicht gar Schweden, denn Elsie beherrscht meine Heimatsprache nicht.

Anderseits: Schweden würden ihr geheimes kleines Reich nicht so brutal verteidigen, wie die es tun – meine Landsleute sind anders geartet. Temperamentvolle Südländer – denen traue ich es wohl zu, so rücksichtslos die Grenzen des Sumpfgürtels zu schützen.

Gewiß, die Hauptfrage bleibt offen, denn die Nationalität der Leute ist schließlich nebensächlich: Wie gelangten sie dorthin, wie konnten sie einen Sumpfgürtel passieren, von dem der landeskundige Mac behauptete, es gäbe dort nur Morast, Dornen, Stachellianen und nirgends eine Stelle, wo etwa ein Nachen die Wildnis überwinden könnte?!

... Ich sauge etwas mißmutig an meiner Zigarre ... Sie ist feucht, und ihr Aroma ist nicht mehr einwandfrei.

Ich merke: versenkt man sich immer tiefer in dieses merkwürdige Geheimnis, dann schießen beständig neue Unklarheiten wie Pilze im heißen Gewitterregen aus dem Sumpf dieser phantastischen Geschichte. Helga Goßli mit ihrer Goldwäscherei und ihrer geheimen Liebe war im Vergleich zu diesen Smaragd-Leuten ein harmloses Kindermärchen.

Der Geisteradler ...

Schon der allein ... auch ein sehr dunkler Punkt. Als Ganzes betrachtet – gut, da weiß ich Bescheid. Ich bin ja von Hause aus selbst Ingenieur. Doch ein Ingenieur, ein Konstrukteur ohne die nötigen Maschinen und Werkzeuge, nein, unmöglich!

... Ich drehe mich mit meinen Gedanken immer im Kreise. Packen wir einmal die mehr menschliche Seite der Angelegenheit behutsam an, beginnen wir bei MacLoow Barny. Sein Mädel geht ihm aus Kanada mit einem Liebhaber durch ... Er selbst, vom Sturm des Schicksals gen Süden geweht, wird hier auf Formosa Jäger und Kampfersucher und glaubt mit dem Fernglas seine Mita, Kind einer Chippeway-Indianerin, wiederzuerkennen. – Mithin: Mita MacBarnys Geliebter befindet sich mit unter den Smaragd-Leuten – wahrscheinlich –, falls es diese Mita ist. Mac, der sterbende Mac, nimmt mir das feierliche Versprechen ab, für seine Tochter zu sorgen und die »Fremden« aufzusuchen.

Man verspricht vieles an einem Sterbelager. Werde ich halten können, was ich gelobte?!

... Und dann wieder: die Sache ist nach Macs Tode in ein neues Stadium getreten. Lord Bellegard, Wumbo und der schuftige Jazinto, an dem mir weiß Gott nichts liegt, sind geraubt worden. Elsie rechnet auf meine Hilfe, den Vater zu befreien.

Somit liegt mir eine doppelte Verpflichtung ob, alles zu riskieren und morgen den Marsch gen Westen anzutreten. Den Weg hat Mac mir beschrieben – ich weiß, daß es ein enger Weg abseits vom Alltag, vielleicht in die Hölle hinein ist. – Macht nichts ... Ich werde ihn gehen. Im Grunde freue ich mich darauf. Wir haben ja zwei Reitochsen, wir haben Chinin in Menge gegen Malaria, wir haben Medikamente gegen das Sumpffieber ... Dort in der Ecke steht Bellegards Medizinkasten, eine reichhaltige Tropenapotheke. Wir haben Waffen, Munition, und wir sind zwei Männer und ein Mädel, die gute Kameradschaft halten werden. Dann haben wir noch Taito – nicht zu unterschätzen! Taitos Nase, Ohren und Gebiß ersetzen den dritten Mann. – Ja, mich reizt das Abenteuer. Die Welt birgt doch noch immer so kleine niedliche Geheimnisse, die meine Nerven aufpulvern. Ich glaubte bisher, die Insel aus Stahl und das Reich der Affenkönigin und Malmotta seien so die Höhepunkte des Erlebens gewesen. Ich ahne: man soll mit derartigen Behauptungen vorsichtiger sein – Höhepunkte werden immer noch von höheren Punkten überragt. Das ist wie beim Bergsteigen: die höchsten Kuppen des Himalaya sind ebenfalls noch jungfräulich unberührt, und der Ehrgeiz entdeckt stets unerreichbare Ziele.

... Durch die Ritzen der Rindentür und des Fensters dringt bereits die matte Helle des Morgens.

Ein Blick auf die Uhr: Fünf! – Noch schlafen?! Nein ... Tee kochen, essen – heraus aus diesem stickigen Baumloch mit seinem Kampfergeruch!

Ich erhebe mich leise – ich greife nach der Winchester, entsichere sie für alle Fälle und öffne ebenso leise die Tür.

Die Waldlichtung leuchtet mir entgegen im Morgenglanz mit ihrem blinkenden Bach und dem hellen Steingeröll und den blanken Blättern der Bäume und Büsche, die noch vom nächtlichen Regen tropfen.

Die Luft ist noch kühl und erquickend, die Sonne vermag bei ihrem niedrigen Stand das Blätterdach des Urwalds noch nicht zu durchdringen.

Aber ein bedrückendes Schweigen herrscht ringsum, kein Vogel meldet sich, kein frecher Macac turnt durch die Zweige. Nur Bienen und Schmetterlinge aller Größen und Farben schweben und summen um die sich bereits öffnenden weißen Blüten des Kampfergiganten.

Diese Stille wirkt aufreizend, ängstigend. Es erscheint mir wenig glaubhaft, daß die Herde von großen Affen, die hier haust, etwa vor den dort im Geröll liegenden neun toten Chis ausgekniffen sein sollte. – Kein schöner Anblick, diese armen Kerle, die von den Kugeln des einen Smaragd-Mannes so blitzschnell niedergemäht wurden! In verrenkten Stellungen liegen sie da, neben sich noch ihre Hauptwaffe, den großen Bogen, im schmalen Lederköcher noch die Giftpfeile. Ich trete näher ... Ich staune: alles Kopfschüsse!! – Ich hebe einen Pfeil auf – er hat über der vergifteten Eisenspitze eine Lederkappe wie einen Däumling. Nur die Formosa-Wilden sind so vorsichtig, ihre Pfeilspitzen vor dem Gebrauch derart zu schützen. Und diese weiche Lederkappe hat noch einen anderen Zweck: schießt solch ein brauner Heide auf ein Wild, etwa auf eine der zierlichen Geisantilopen oder auf einen Hirsch (beide Wildarten sind im Gebirge sehr häufig), so wischt er vor dem Schuß mit der Kappe das klebrige Gift von der Pfeilspitze säuberlich ab und steckt die Spitze noch dreimal tief in die Erde. Auf diese Weise vermeiden es die Wilden, daß die Jagdbeute durch das Gift zu schnell in Verwesung übergeht.

Ich hatte bisher noch keinen Chihoan (Chi) deutlich zu Gesicht bekommen. Ich sah, daß dieser Volksstamm an Körpergröße weit hinter den mir bekannten Lekhoans (Lekhos) und den Lamsis zurückstand. Es waren kleine Kerle mit flachen Nasen und schmutzig-gelbbrauner Haut. Die Mischung mit Chinesenblut war hier unverkennbar.

Um Elsie Bellegard diesen Anblick der Toten zu ersparen, schleppte ich die Leichen nach einem raschen Rundgang um die Lichtung, bei dem ich nichts Verdächtiges bemerkte, nach einer Wurzelgrube eines gestürzten Baumes und warf Zweige, Erde und Steine darüber. In der Nähe befand sich ein übermannshoher Termitenhügel, der noch bewohnt war. Ich wußte, daß die großen Ameisen in kurzer Zeit von den Toten nur noch die Knochen übriglassen würden. Bedenkt man, daß solch ein Termitenbau schätzungsweise zweimalhunderttausend Tierchen beherbergt, so ist es begreiflich, daß die braune große Waldameise zum Beispiel mit einem Hirschkadaver in zwei Tagen restlos aufräumt.

Ich blieb noch ein paar Minuten unweit des Baues stehen, dessen Eingang wie stets nach Norden zeigte und sich aus drei sauber geglätteten Lehmröhren zusammensetzte. In diesen Röhren und vor dem Bau herrschte bisher ein scheinbar sinnloses Durcheinander von kribbelnden, eilfertigen Tierchen. Scheinbar. – Ein Termitenstaat ist eine Republik voller Ordnung und Zweckmäßigkeit. Die Lehmröhren liegen nebeneinander, die am weitesten rechts hat den größten Durchmesser, und sie dient ausschließlich den »Arbeitern« zum Hineinschaffen der Nahrung und des Baumaterials und zum Hinausschaffen überflüssiger Dinge. Die mittlere ist den »Kämpfern« vorbehalten, den Tieren mit Beißzangen, die linke den jungen Termiten. – Es dauerte noch keine vier Minuten, als das Signal »Beute in der Nähe« bereits den ganzen Staat in Aufruhr gebracht hatte. Eine ganze Armee setzte sich nach dem Baumloch hin in Bewegung. Die Breite dieses Zuges betrug fast einen Meter. – Wie immer schickten die Termiten auch jetzt ganz militärisch Seitendeckungen aus, denn ihr gefährlichster Feind, der Ameisenfresser, hat es gerade auf diese Massenwanderungen abgesehen, da er sich in die festen Bauten keinen Zutritt zu verschaffen vermag. Vielleicht ist es auch ganz interessant, daß Termiten sich niemals in unmittelbarer Nähe von Kampfer- und Sandelholzbäumen ansiedeln. So scharf ihre eigene Ausdünstung auch sein mag: gegen fremde Gerüche sind sie sehr empfindlich, und ein Haus, etwa aus Kampferholz erbaut, bleibt von ihnen bestimmt verschont, während sie doch sonst alles zernagen und anfressen.

Ich hätte diese meine Kleintierstudien hier nicht erwähnt, wenn nicht gerade mein Verweilen unter den vordersten Bäumen des Urwaldes mir noch eine Überraschung beschert hätte, die mir bewies, daß Elsie Bellegards Trauer um den Tod des Fremden, den mir Freund Tikku als kräftigen, gutaussehenden jungen Menschen geschildert hatte, keineswegs nur hysterischer Überreiztheit entsprungen war. Ich wollte mich gerade wieder der Lichtung zuwenden, als ich Elsie in der Rindentür erblickte und neben ihr meinen Musterhund Taito. Sie spähte vorsichtig umher und schritt dann rasch der Stelle zu, wo Tikku in der Nacht den Toten zwischen die starken Wurzelleisten niedergelegt hatte. Da dort hohes Gras wucherte, mußte sie unschwer an den niedergedrückten Halmen erkennen, welcher Grasfleck für so kurze Zeit den leider zu Unrecht Niedergestreckten beherbergt hatte.

Mit gefalteten Händen stand sie da, tief in Gedanken versunken, während Taito weniger respektvoll den Boden beschnüffelte. Dann bückte sie sich, hob ein weißes Papier auf, entfaltete es und verriet durch eine jähe Kopfbewegung ein leises Erschrecken.

Ich eilte zu ihr. Sie hörte mich, drehte sich halb um und lächelte mich an. Ein förmlicher Glücksschimmer lag auf ihrem vom Schlafe sanft geröteten Gesicht, und in freudigstem Tone rief sie, mir das Papier hinstreckend:

»Olaf, er lebt ...! Er lebt!! Er heißt John Burr ... John ... Burr! – Da – lesen Sie nur ... Die Fremden sind doch nicht so blutdürstig ...!«

Das Papier war ein Bogen guten festen Schreibmaschinenpapiers. Sehr flüchtig war da mit schwarzer Tinte geschrieben:

 

»Miß, unser Gefährte John Burr ist bereits wieder bei Bewußtsein, bedarf jedoch dringend ärztlicher Behandlung. Raten Sie Ihren Begleitern recht energisch, sich um uns nicht weiter zu bemühen, denn alle Versuche, den Sumpfgürtel zu überqueren, würden fehlschlagen. Er ist nicht passierbar. Ihren Vater und die beiden Farbigen werden Sie nach einem Monat spätestens in der Hafenstadt Kelung wiedersehen. Kehren Sie mit dem Motorkutter dorthin zurück.«

 

Eine Unterschrift fehlte.

»Ich bin so froh«, sagte Elsie nochmals mit strahlenden Augen. »Olaf, ich hätte es nie vergessen, wenn durch meine Schuld dieser Fremde ums Leben gekommen wäre.«

Aber ihre Freude fand bei mir wenig Widerhall. Der Inhalt dieser Nachricht war mir weit wichtiger, als dieses junge, frische Mädel, das sich da offenbar auf den ersten Blick in einen der geheimnisvollen Smaragd-Leute verliebt hatte, ahnen konnte.

Ich entnahm dieser Mitteilung weit mehr – der Schreiber der Zeilen (die Handschrift war derb und schmucklos und verriet einen eisernen Charakter) hatte sich in der Eile nicht recht überlegt, was alles er durch einzelne Sätze verriet.

Wer wie ich seit Jahren die ganze Welt und gerade ihre entlegensten Teile als seine Heimat betrachtet – wer wie ich die Gefahr, das Abenteuer fand, ohne es zu suchen – wer das eine zu begreifen gelernt hat: daß wir in der Wildnis unser Leben nur durch stete Wachsamkeit schützen können, durch stetes Beobachten selbst der geringfügigsten Vorgänge, der lernt auch von selbst, den Geist für Dinge zu schärfen, die eigentlich außerhalb des Beobachtungsfeldes eines Weltenbummlers liegen.

So hier dies Schreiben.

Da stand: Dringend ärztliche Behandlung! Und das hieß doch nur: Wir müssen John Burr schleunigst in unser unzugängliches kleines Reich schaffen!

Mithin hatten wir vor dem Geisteradler vorerst Ruhe. Mithin mußten wir, wie dies meine Absicht gewesen, schleunigst diesen Platz verlassen und in den Urwäldern untertauchen, mußten nur nachts die kahlen Gebirge übersteigen – dann würden die Smaragd-Leute unsere Spur verlieren.

Und weiter stand da, daß der Lord nach einem Monat wieder in Kelung sein würde – ein Satz, der mir bewies, daß die Fremden ihre Kolonie aufgeben wollten, verschwinden wollten, daß ihnen dann nichts mehr daran lag, ihr Geheimnis fernerhin strengstens zu hüten.

Wollte ich also das Mac geleistete Versprechen halten, tat Eile not! – Gewiß, der zweite Grund für das Eindringen in das unbekannte Gebiet, Bellegards Befreiung, war nun fortgefallen. Aber, der wichtigste blieb bestehen: Mita MacBarny konnte sich dort im Smaragdlande befinden – und ich wollte dieses Land um jeden Preis mit eigenen Augen schauen und nachprüfen, was die Leute dort trieben und ob meine Vermutungen in vollem Umfang zuträfen.

Ohne Zweifel waren die Aussichten für unser Vorhaben jetzt recht günstig. Der Geisteradler würde nach meiner Berechnung kaum vor Mittag wieder hier eintreffen können, falls er sich überhaupt bei Tage zeigte, was ich nach dem bisher Gehörten nicht recht glauben konnte. Die Hauptsache war: unverzüglicher Aufbruch, schärfste Wachsamkeit, ob etwa ein Spion uns folgte, und sorgfältiges Austilgen unserer Fährten.

Elsie hatte wohl gemerkt, daß das Schriftstück mir viel zu denken gab, und hatte mich durch keine Frage oder Äußerung gestört.

Ich schob das Papier in die Tasche und erklärte ihr nur kurz, ich würde jetzt unseren Freund Tikku nach dem Gehege der Reitochsen schicken – wir müßten in einer Stunde die Lichtung verlassen haben.

»Also Marsch zum Biba-Schoni-See, wo wir den Kutter verbargen«, nickte sie arglos. »Hat das wirklich so große Eile, Olaf?!«

»Allerdings – doch nicht zum See, Elsie ...! Wollen Sie es wagen, uns nach den Sümpfen zu begleiten?«

Eine überflüssige Frage – doppelt überflüssig, denn das blonde Mädel konnten wir doch unmöglich hier zurücklassen, anderseits würde sie es wohl mit Freuden begrüßen, wenn ihr Gelegenheit geboten wurde, John Burr wiederzusehen.

Und in diesem Punkte täuschte ich mich nicht. Ihre blaugrauen Augen begegneten meinem prüfenden Blick mit schlechtverhehltem Jubel ...

»Olaf – wirklich? – Sie wollen es trotz dieser Warnung versuchen, die Fremden in ihrem abgeschlossenen Gebiet zu überraschen ...? Wie gern begleite ich Sie, wie gern! Ich will doch recht bald meinen Vater wiedersehen und ...«

Sie verstummte, wurde sehr rot, bückte sich schnell und streichelte unseren Taito – vielleicht hatte sie noch das leise verständnisinnige Lächeln bemerkt, das meine Lippen umspielte.

Zum Glück vernahmen wir jetzt von Osten her im Walde allerlei Geräusche – Tikkus helle Stimme ertönte aus der Dämmerung des Urwaldes, und zu meinem Erstaunen tauchte der brave Lamsi, den ich noch fest schlafend in der Baumhütte wähnte, gleich darauf mit den beiden bereits gesattelten Reitochsen auf.

Es waren zahme Büffel mit mächtigem Gehörn, nicht etwa die weit unbeholfeneren chinesischen Rinder, die man meist nur an den Küstenstrichen antrifft. Tikku führte sie am Nasenring, und Tikkus großartige Selbstverständlichkeit, mit der er dann meinen Bericht über den Zettelfund hinnahm und hierauf ohne viele Worte das eine Tier sachgemäß mit allem Nötigen belud, zeigte mir abermals, wie wertvoll gerade dieser braune Landesbewohner uns sein würde.

Gewiß, Freund Tikku hatte auch seine Fehler und Eigenheiten, von denen am stärksten sein sehr stark entwickeltes Selbstgefühl war. Mit einem fast verletzenden Hochmut schwieg er, wenn ich einmal anderer Ansicht war – zuweilen befand er sich im Recht, wenn es eben um Dinge ging, die ihm als hiesigem Bergbewohner vertraut waren. Trotzdem fügte er sich meinem Willen, und dies besonders dann, sobald auf unserem Eilmarsch irgendwie Schwierigkeiten zu überwinden waren. – Sein Verhältnis zu Elsie war nicht das beste, bei Tikkus stolzem, sogar hochfahrendem Charakter insofern kein Wunder, als unser blonder Schützling wie alle Engländer gewohnt war, in jedem Farbigen den Menschen zweiter Garnitur zu sehen, meines Erachtens ein Nationalfehler, der England noch einmal seine indische Riesenkolonie kosten würde.

Elsie ritt den zweiten Büffel, und genau um acht Uhr begannen wir unseren Marsch, der meiner Schätzung nach volle acht Tage dauern dürfte.

Ich schritt mit Taito voran, hinter mir kam Elsie, den Beschluß machte Tikku mit dem Lastochsen. Ich schlug genau südwestliche Richtung ein, wir würden dann am Abend die Stromschnellen im Süden des Biba Schoni erreichen, würden ein Floß bauen, übersetzen und in das eigentliche Hochgebirge eindringen.

Die Hochlandwälder Formosas haben zumeist geringes Unterholz, besitzen weite steinige Lichtungen, zahlreiche Bäche und leider ebenso häufige ausgedehnte Sumpfstrecken. Innerhalb des Urwaldes spürt man kaum etwas von den Tieren der Wildnis. Großes Raubzeug, nur Leopard und Nebelparder, bevorzugen als Standquartier die grasreichen Waldblößen, wo Hirsche, Antilopen, Wildziegen und Büffel ihnen bequemere Beute gewähren. Auch die Macacs, die einzige Affenart dieser langgereckten Insel, meiden das Halbdunkel der endlosen Walddome, sogar Vögel hört man nur vereinzelt (Papageien fehlen auf Formosa ganz), lediglich die verschiedenen Arten von Wildtauben und Eulen sowie der äußerst zierliche kleine malaiische Bär fühlen sich in dieser Dämmerung behaglich und verraten ihre Gegenwart durch allerlei Geräusche, Töne und seltsame Stimmen.

Während der ersten beiden Stunden versuchte Elsie wiederholt, mit mir ein Gespräch in Gang zu halten. Aber sie gab dies bald auf, nachdem sie zweimal durch ihre Unachtsamkeit beinahe aus dem Sattel geflogen wäre, wenn ihr Reittier unversehens in ein Baumloch trat und stolperte. Ich war auch nicht dazu aufgelegt, über Dinge zu sprechen, die mir selbst noch reichlich vieldeutig und zweifelhaft erschienen. Elsie hatte meine Ansicht über den »Geisteradler« hören wollen – ich wich ihr aus, denn bei nüchterner Prüfung war meine Annahme über dieses geflügelte Ungeheuer wohl kaum recht zu verteidigen.

So bewegten wir uns denn in ziemlich flottem Tempo vorwärts, bis eine neue weite Waldblöße mit völlig kahlen Felspartien mich dazu bewog, nunmehr einwandfrei festzustellen, ob wir verfolgt würden. Da wir inzwischen mehrmals in steinigen flachen Bächen lange Strecken zurückgelegt hatten, durfte ich hoffen, unsere Fährte sehr gründlich verwischt zu haben. Wir hatten bisher auch weder von den räuberischen Chis noch von einem etwa uns auf die Fersen gesetzten Smaragd-Manne das geringste bemerkt. – Auf dieser Lichtung ließ ich jetzt unter einem einzelnen Baume zwischen hohen Felskulissen halten und wanderte dann mit Taito auf unserer Spur vorsichtig zurück, blieb immer wieder stehen, horchte, spähte, schickte auch Taito seitwärts auf die Suche – – wir trafen nichts als einen feisten pechschwarzen Kerl von Bär, der überaus geschickt einen kleinen Brotfruchtbaum erkletterte. Nach einer Viertelstunde machte ich kehrt, durchaus überzeugt, daß wir nun ohne weitere Besorgnis unseren Weg fortsetzen könnten. Trotzdem blieb in mir ein ganz geringer Rest von Mißtrauen wach. Wußte ich, ob die Smaragd-Leute nicht doch über andere eigenartige Machtmittel verfügten, die aller Vorsicht spotteten?!

Es war daher die Eingebung des Augenblicks, die mich kurz vor der Lichtung, fast schon angesichts der dort lagernden Gefährten, nach rechts abbiegen ließ, um die ganze Waldblöße einmal zu umrunden. Gewiß, dies bedeutete wohl eine halbe Stunde Zeitverlust, aber was bedeutete ein solcher Aufenthalt gegenüber jener inneren warnenden Stimme, die sich so häufig bei uns aus dem Unterbewußtsein meldet und auf die gerade der Kulturmensch so wenig achtet, während sich der mehr auf ererbte Instinkte bauende Wilde niemals einer derartigen Mahnung verschließen wird.

Ich schritt flott dahin, die entsicherte Büchse im Arm – Taito trollte jetzt mißmutig und müde und japsend hinter mir her – es war heiß und schwül geworden, die eigentümlich schwere, drückende Luft dieser ungeheuren Walddome erschlafft Körper und Hirn – ich spürte es selbst.

So hatte ich die Blöße vielleicht zur Hälfte umschritten, lautlos, ein wenig sorglos bereits, als ich einen Blick nach den Felsen hinüberwarf, hinter denen Elsie und Tikku lagerten.

Ich stutzte, schaute schärfer hin ...

Gewiß, Freund Mac, ebenso Major Sakomo und der treue Lekho hatten mir gelegentlich davon berichtet (was bisher alle Forschungsreisenden mit Ausnahme des Amerikaners Gilberson bestritten haben), daß es noch heute auf Formosa vereinzelt Tiger gäbe, und zwar von jener dunkel-gestreiften Art, wie sie in der Mandschurei und Südostsibirien sehr häufig sind.

Das, was dort oben auf dem einen Felsblock zwischen gelbblühenden Sträuchern lag, konnte nur ein Tiger sein.

Mein Herzschlag setzte für einen Moment aus, denn die zusammengeduckte Bestie verriet schon durch ihre Haltung, daß sie sich zum Angriffssprung bereit machte.

Unerklärlich war mir nur, daß die Büffel das große Raubwild nicht gewittert hatten. Möglich, daß Tikku die Tiere gerade irgendwo zu einem Wasserloch zur Tränke getrieben hatte – – dann war Elsie dort allein neben unserem Gepäck, dann ...

Ich riß die Büchse hoch.

Jede Sekunde war hier kostbar. Mochte die Entfernung für einen sicheren Schuß auch viel zu weit sein – zweifellos würde ich den Tiger wenigstens verscheuchen.

Ich achtete auf nichts ringsum.

Nicht auf Taito, der plötzlich verschwunden war ...

Nur die furchtbare Gefahr, in der Lord Bellegards Tochter schwebte, umnebelte förmlich mein Hirn.

Ich zielte ...

Der Tiger bewegte sich, drehte den Kopf ...

Ich mußte nochmals zielen ...

Eine Hand griff von hinten nach dem Büchsenlauf, und Tikku, der Lamsi-Thronerbe, sagte mit seiner unnachahmlichen Ruhe und Überlegenheit:

»Olaf, es ist nur ein Tigerfell ... Ich wollte Miß Elsie Gelegenheit geben, den kreisenden Riesenadler zu beobachten. Elsie steckt in dem Fell.«

In dem Augenblick trat mir wirklich der eiskalte Schweiß auf die Stirn. Es war ja gar nicht auszudenken, wenn ich abgedrückt und getroffen hätte.

Ich starrte Tikku böse an.

»Wie konntest du eine solche Maskerade nur gestatten oder gar ...«

Vor seinem unmerklichen hochmütigen Lächeln verstummte ich.

Und in dieser Minute erinnerte mich der Lamsi Tikku so sehr an meinen unvergeßlichen Coy, daß gerade dieses blitzartige Vergleichen der beiden Persönlichkeiten meinen Ärger und meine Bestürzung völlig wegwischte.

»Der Adler«, sagte Tikku nochmals und deutete schräg nach oben in den lichtblauen Äther, wo in schwindelnder Höhe langsam, bedächtig ein Vogel seine Kreise zog ...

Vogel?!

Nein – es war der Geisteradler, und seine übernatürliche Größe konnte ich leicht abschätzen: ein Vogel wie aus den Urzeiten der Erde, wo gewaltige Tiere von wunderlicher Gestalt und Vögel von phantastischer Länge mit den ersten Menschen furchtbare Kämpfe geführt haben mochten.

Langsam, sicher, überwältigend als vereinzeltes, Bild im Himmelsblau, kreiste das riesenhafte Geschöpf. Es schwebte nicht – es flog, ich sah die Bewegungen der dunklen Schwingen, die, mochten sie auch aus der Nähe hell gefärbt erscheinen, dort hoch oben im Sonnenglast sich scharf abzeichneten gegen die lichte Unendlichkeit des Weltenraumes.

»Nun hast du ihn gesehen, Olaf«, meinte der Häuptlingssohn ohne jede Erregung. »Er sucht uns. Er ist abgeschickt von denen, zu denen wir wollen ... – Ich habe die Büffel gut verborgen, und mag der Adler auch noch so gute Augen besitzen: er findet nichts – auch wir stehen jeder gedeckt.«

Meine Nerven gehorchten mir wieder, ich zog das Fernglas aus dem zerschabten Futteral, stellte es ein und bekam den Adler klar vor die Linsen.

Ein eigentümliches Rieseln ging mir über den Leib, als ich nun erst die Einzelheiten des seltsamen Geschöpfes feststellen konnte.

Die Größe allein war es nicht, die mich erschreckte – es war vielmehr die Erkenntnis, daß all meine Vermutungen falsch gewesen. Ich hatte in der verflossenen Nacht, ich, der einstige Ingenieur, sehr bald eine einleuchtende Deutung gefunden für das, was weder Flugzeug noch Luftschiff sein konnte:

Schwingenflieger!

Mir waren die unermüdlichen Versuche sehr wohl bekannt, die ein greiser deutscher Konstrukteur im felsenfesten Glauben an einen schließlichen Erfolg mit einem sogenannten Schwingenflieger angestellt hatte, das heißt mit einer Flugmaschine, die durchaus den Vogelflug nachahmen sollte durch bewegliche Flügel, getrieben von einem Benzinmotor.

Das hatte ich angenommen: Schwingenflieger, künstlicher Vogel!

Und jetzt konnte ich mit eigenen Augen erkennen, daß der Adler dort, dieses Riesengeschöpf, ein Gebilde von Fleisch, Blut, Knochen und Federn war!

... Unermüdlich kreiste er ...

Kam näher, entschwand fast, kehrte zurück ...

Suchte ... suchte nach uns!

So hatte Tikku, der Lamsi-Sohn, gesagt.

War das möglich?!

Sollten die Leute des Smaragdlandes wirklich ein solches Geschöpf so dressiert haben, daß es ihrem Willen gehorchte, daß es wohl gar einige von ihnen auf seinem Rücken trug?!

Ich ließ das Glas nicht von den Augen.

Gerade jetzt näherte sich der Adler und flog etwas niedriger. – Ich strengte meine Augen über Gebühr an, ich erkannte den gekrümmten Schnabel, sogar die Augen, auch den eigentümlich fächerartigen Schwanz – aber auf dem Rücken des unheimlichen Geschöpfes befand sich kein einzelner Mensch, befand sich nichts ... nichts ...

Aber – – der Adler suchte!!

Das merkte ich.

Er suchte ... uns!

In all seinen Bewegungen, in den Schleifen und Kreisen lag bewußter Wille, lag Sinn, Absicht.

... Es begann mir vor den Augen zu flimmern ...

Ich mußte das Fernglas sinken lassen.

Tikku, der Lamsi, kauerte gleichgültig am Boden und aß voller Gemütsruhe eine rosige, saftige Frucht.

»Nun, Olaf?!« In diesen zwei Worten lag mehr als in vier, fünf wohlgefeilten Sätzen. Nahm man zu der Betonung der Worte noch den Ausdruck der Augen und des hellbraunen, schmalen, fast europäischen Gesichts hinzu, dessen Haut niemals den matten Schimmer zartesten Crepe-de-Chine-Stoffes verlor und nie schweißig glänzte, so fiel eine Antwort wirklich nicht schwer.

»Ja, Freund Tikku – es ist unheimlich, ich gebe dir da rückhaltlos recht. Wärest du in technischen Dingen bewanderter, würde ich dir auseinandersetzen, wie ich anfänglich über dieses Geschöpf von so überwältigenden Maßen dachte.«

»Ich sah viele Flugzeuge in Schanghai«, meinte der Lamsi schlicht. »Ich sah auch Bilder von den Luftschiffen der Deutschen, mit denen sie im Kriege bis England fuhren. Ich kenne das Surren der Propeller, es ist sehr weit zu hören. Hier hört man nichts, und meine Ohren sind gut.«

Ich lehnte mich an einen Baum. Augenblicklich durften wir nicht zu Elsie über die freie Lichtung hinüber, denn der Adler schwebte gerade über uns, wir wären bemerkt worden.

»Ich stehe hier vor einem vollkommenen Rätsel«, fügte ich sehr wenig selbstbewußt hinzu. »In der verflossenen Nacht müssen doch die Smaragd-Leute mit diesem Riesenvogel, auf diesem Riesenvogel uns erreicht und mit den Gefangenen auch wieder verlassen haben. – Wie befördert der Adler sie?! Wie befestigen sie sich an ihm?! Wo sind sie auf, an ihm?! Man sieht nichts von ihnen.«

Tikku warf den Rest der Frucht in das Schlupfloch eines Ameisenfressers. »Es ist ein großes Geheimnis, Olaf, und wir sind hier an diesen Platz gebannt, solange der Adler sichtbar bleibt. Vögel haben noch schärfere Augen als ich ...« Er prahlte nicht, denn seine nächste Bemerkung bewies mir, daß er kein Fernglas brauchte. »Olaf, sahst du je einen Adler mit so starkem Flügelschlag seine Kreise ziehen?! Ein Adler schwebt ... Er gleitet durch die Luft, ohne sichtbare Bewegungen der Schwingen. Nur wenn er aufsteigt, wenn er höher der Sonne zustrebt, bemerkt man das Arbeiten der Flügel. Aber der Geisteradler da verhält sich anders. Seine Schwingen rühren sich unausgesetzt. – Ich wundere mich.«

Auch das besagte alles.

»Du glaubst also nicht an einen natürlichen Vogel, Tikku?«

Zu meinem Erstaunen holte er aus seinem langen Köcher einen schmalen, dünnen Holzspan heraus.

»Dies fand ich unter einem Baume am Rande der Lichtung heute früh, als ich die Reitochsen holte, Olaf.«

Ich betrachtete das Brettchen. Es war sauber geglättet und gefirnißt, aber nur in schräger Linie auf der einen Seite hellbraun mit Lack gestrichen, zweifellos ein abgesplittertes Stück eines größeren Holzes.

Ich wußte nichts damit anzufangen. Es konnte von einem leichten Kistchen herrühren – konnte.

Ich zuckte nur die Achseln. »Das macht uns nicht klüger, Tikku.«

Der Häuptlingssohn sagte kurz: »Mich gewiß nicht, Olaf. Du bist ein Europäer und ein Gelehrter.«

»Hier hilft mir mein Wissen nichts« – und ich schaute wieder empor zu dem Riesenvogel, der inzwischen bedeutend höher gestiegen und kaum noch zu erkennen war. Er entfernte sich nach Westen zu, und das war die Richtung, wo jenseits der Gebirgskette das Smaragdland liegen mußte. Ich nahm das Glas – in wenigen Minuten schrumpfte auch vor den Linsen der Adler zum Pünktchen zusammen und verschmolz dann mit dem blauen Äther vollkommen.

»Aufbruch, Tikku ...!«

In aller Eile beluden wir den einen Büffel, Elsie stieg in den Sattel – um zwei Uhr nachmittags hatten wir den Fluß hinter uns und erklommen auf schmalen Wildpfaden die schroffen Wände des Gebirges.

 

* * *

 


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