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Vorspiel

Nebel, Flucht und ein Schatten

Ueber dem englischen Kanal lagerte das zähe, feuchte Gebräu, der Schrecken der Seefahrer ...

Man sah kaum die Hand vor Augen.

Nur wenn ein Windstoß die grauen Schwaden zerriß, gewahrte man die Kreidefelsen der englischen Küste.

Zwei Schiffe schlichen mit halber Maschinenkraft durch die gefährliche Finsternis, weit voraus ein deutscher Frachtdampfer, hinter ihm ein deutscher Kreuzer.

Ihre Nebelhörner schwiegen. Wie Diebe suchten sie ihren Weg. Aber die Wachsamkeit ihrer Besatzung war größer denn je. Sie kamen weither, ein Zufall schien sie zusammengeführt zu haben.

Ihr Kurs lief außerhalb der üblichen Route. Auch das hatte seinen Grund.

In der Kapitänskajüte des Frachtdampfers saßen mehrere Leute beieinander und sprachen miteinander in kurzen, abgehackten Sätzen. Die Männer waren ernst, horchten immer wieder auf die fernen Stimmen fremder Fahrzeuge und dann warf Käpten Jochem Menzel von der Reederei Petersen, Hamburg, die halblaute Bemerkung hin:

»Das wäre so eine Gelegenheit für freche Piraten, dieser verdammte Nebel!!«

Ein Matrose trat ein, stand stramm.

»Käpten«, meldete er zaghaft, »der Kreuzer scheint uns verloren zu haben.«

Wenzel zuckte die Achseln.

»Bei dem Wetter – kein Wunder!! Ich wünschte, wir wären erst in der Nordsee!«

Steuermann Fritz Wenzel wagte einen Vorschlag.

»Ob wir nicht doch Signale geben, Vater?«

»Nein!!! Zu gefährlich! Ihr wißt das!«

Der Matrose entfernte sich.

Die vier Männer brüteten mit ernsten Gesichtern vor sich hin.

In der Kajüte herrschte Gewitterstimmung. Der alte Jochem Wenzel kaute am Mundstück seiner erloschenen Pfeife.

»Bei alledem gehen die Nerven zum Teufel!!«, murrte er verbissen.

Holger Jörnsen lachte.

»Sie – – und Nerven?!«

Der junge Petersen, der nur als Gast die abenteuerliche Fahrt mitmachte, pflichtete dem Alten nachdrücklichst bei.

»Ich kann das durchaus verstehen ... Mir geht es nicht anders.«

Er war bleich und nervös. Bei jedem Geräusch zuckte er zusammen.

Der Dampfer schlich weiter. Seine Maschinen arbeiteten dumpf, träge Wogen klatschten gegen die Bordwände.

Der Käpten trank sein Grogglas leer.

»Ich muß auf die Brücke ... Hier ersticke ich ...!

Er erhob sich schwerfällig, und zwei der Männer folgten ihn an Deck.

Langsam tappten sie zur Brücke, das Deck troff infolge des Nebels vor Nässe, und die Gestalten zerrannen zu verschleierten Klumpen.

Der in der Kajüte Zurückgebliebene wartete noch einige Minuten, wischte sich den Schweiß von der bleichen Stirn und zögerte ...

Sein Gewissen sträubte sich. Aber das Gift, das ihm von Jugend an eingeimpft worden, war stärker.

Unbemerkt begab er sich nach seiner Kabine, öffnete seinen Koffer und hantierte äußerst vorsichtig mit einem Gegenstand, der das Verderben in sich trug.

Dann schlich er wie ein Verbrecher davon, zitternd vor Aufregung, abermals gepeinigt von Selbstvorwürfen ...

»Ich bin ein Schurke!«, dachte er ehrlich.

Doch das, was er mit der Muttermilch eingesogen, siegte wiederum.

Er haßte Deutschland.

... Und der Dampfer suchte weiter seinen pfadlosen Weg durch das dicke Gebräu, und die Männer auf der Brücke spannten alle Sinne an, jedem Unheil auszuweichen und zuvorzukommen. –

Urplötzlich erschütterte ein gewaltiger Stoß den Frachter. Das Schiff hob sich förmlich aus den Wogen, fiel zurück, die Maschinen schwiegen, und aus den Luken taumelten verstörte Heizer hervor.

»Käpten, – – ein Riff!!«, gellten heisere Stimmen auf.

Jochem Menzel und sein Sohn stürmten nach unten.

Wasser flutete ihnen entgegen, krachend barsten die Schottentüren unter dem ungeheuren Druck des hereinflutenden Meeres.

Der Käpten brüllte seinem Sohn zu:

»Zurück, – – wir sinken!«

Alle Lichter an Bord waren erloschen. Zusehends sackte der Frachter in die Tiefe.

Es gab nichts mehr zu retten, die Boote wurden ausgeschwungen, und die Besatzung verließ das Schiff, das bereits von den Wogen überspült wurde.

Stumpfsinnig vor Grauen saß der alte Wenzel im Großboot.

Er begriff nichts von dem Geschehenen, nichts ...

Stumpfsinnig ruderten die Matrosen ...

Hinter ihnen versank der Dampfer, – die Kessel explodierten, warfen Riesenfontänen hoch ...

Dann war alles vorüber ...

*

Jahre waren dahingegangen.

Ueber der Ostküste des Golfes von Mexiko mit seinen Lagunen, Uferwäldern und Inselchen brütete die stechende Sonne und gebar die Fieberdünste der sinkenden Einsamkeit ...

Inmitten einer der Inseln, deren Ufer von Dornen, Kakteen und Stachellianen zu einem undurchdringlichen Wall verfilzt waren, erhob sich unter Riesenbäumen auf steiniger Anhöhe eine große Blockhütte, vor der im Schatten des weit vorspringenden Daches einige Bluthunde lagen und träge nach den Fliegen schnappten.

In einem durch trockenes Holz genährtes Feuer glühte ein langer Eisenstock. Neben der Tür lehnte ein Halbneger in malerischer mexikanischer Banditentracht und rauchte Zigaretten, die er mit flinken Fingern selber drehte.

Sein brutales, durch Narben entstelltes Gesicht war dem lodernden Feuer zugekehrt.

Dann nahm er ein paar Lederstücke, ergriff das Eisenstück und betrat die Hütte.

Auf einem plumpen Bretterstuhl saß ein Gefesselter, und zwei Kerle, ähnlichen Schlages wie der bezahlte Bandit, hielten des Gefangenen Kopf mit ihren muskulösen Pranken wie im Schraubstock fest.

»Willst du endlich die Wahrheit sagen?«, fragte der Mexikaner mit dem glühenden Eisen drohenden Tones.

Der Gefangene schwieg.

Das Eisen fuhr über seine Augen hin ...

Der Schmerz entlockte ihm ein Stöhnen, nichts weiter ... –

Dann kam die Nacht.

Die Tageshitze hatte Gewittergewölk herbeigelockt, über Meer und Insel lagerten Finsternis und drückende Schwüle.

Lautlos kam vom Festlande her ein Boot herbei. Der einzige Insasse, der heute zum fünften Male diese Fahrt wagte, zog die Ruder ein, und das dunkle Boot glitt zum einzigen Pfade, der durch den stachligen Gürtel führte.

Der Mann bückte sich, und die Fleischstücke flogen hierhin und dorthin. Das Knurren der Bluthunde trieb den Ruderer zurück auf den schützenden See.

Nach einer Stunde näherte er sich abermals der Insel, entsicherte seine Pistole und schlich den Pfad entlang, trat auf einen Hundekadaver und lächelte grimmig.

Unangefochten gelangte er zur Blockhütte, öffnete die Tür, horchte und hörte die Banditen schnarchen.

Der Gefangene in der Ecke auf dem Maisstrohlager erwachte. Eine Hand hielt ihm den Mund zu, der Strahl einer Laterne zeigte ihm seinen Retter.

»Du?!«, flüsterte er ungläubig.

Ein Messer glitt durch seine Fesseln, eine Freundeshand half ihm auf die Beine ...

Sie bestiegen das Boot, und das ferne grelle Aufzucken von Blitzen zeigte ihnen eine weiße Jacht, die in voller Fahrt auf die Insel zuhielt.

Auch die Gefahr ging vorüber.

»Wer bezahlte die Schufte?!«, sagte der Gefangene verständnislos.

»Wenn ich das wüßte! – Ich weiß es nicht genau ...«, erwiderte der andere, »jedenfalls müssen wir ins Innere flüchten ... Unsere Feinde verfügen über ein Heer von Spionen ...«

»Ich danke dir«, flüsterte der Befreite gerührt.

Dann nahm die Einöde der Hochsteppen Mexikos sie schützend auf.

Inzwischen hatte die Jacht beigedreht und ein Boot ausgesetzt. Drei Herren in tadellos weißen Tropenanzügen, glatten Gesichtern und schillernden Monokeln stießen auf den ersten Hundekadaver.

Ihre Laternen schwankten hin und her.

»Verrat!«, zischte der eine.

Sie eilten weiter ...

Mit Fußtritten weckten sie die halbbetrunkenen Mexikaner. Rumflaschen standen auf dem Brettertisch. Der ganze Raum stank nach Alkohol.

Die drei Europäer kannten sich kaum vor Wut.

»Hat er etwas gestanden?«, brüllte der eine ... »Half auch das glühende Eisen nichts ...?«

Die eingeschüchterten Mischlinge verneinten.

– Und aufs neue begann die Menschenjagd. Spione durchstreiften das Land ...

In den fernen Bergen aber hausten zwei Flüchtlinge und durchwühlten das Geröll einer Höhle, in der einst ein Puma seinen Schlupfwinkel gehabt hatte ...

*

Man sagt mit Recht, daß große Schatten ihre Ereignisse vorauswerfen.

Zwei dieser »Schatten« habe ich hier als Vorspiel kurz skizziert.

Mitunter kann dieses »Schatten Vorauswerfen« aber auch wörtlich zutreffen. So auch an jenem dunklen, düsteren Novemberabend, als Harst und ich bei offenen Fenstern ohne Licht hinter den Tüllvorhängen saßen und eine jener Plauderstunden genossen, die für ein Freundespaar mehr bedeuten als vielleicht jene Minuten innerer Einkehr und Selbsterkenntnis, die für den Durchschnittsmenschen so spärlich – leider! – aus dem ewig gleichmäßigen, abstumpfenden Alltagstrott sich herausschälen.

Wir hatten von vergangenen Zeiten gesprochen, wir hatten liebe Tote wieder aufleben lassen, und allmählich glitt das halblaute, pietätvolle Rückerinnern in die Gegenwart hinüber und wurde zu behutsamen kritischen Bemerkungen über unseren neuen Hausgenossen.

Harsts Zigarette, nur ein glühendes Pünktchen, beschrieb einen kurzen Bogen. Die Handbewegung mußte ich mir dazudenken. »Die Frau«, sagte er bedächtig, »könnte uns zweifellos Stoff für eine gründliche Nachprüfung der Vorgänge beim Schiffbruch des »Triton« liefern. Aber sie will es nicht. Sie hat sich mit ihrem Lose abgefunden, und achtzehn Jahre sind ja auch eine lange Frist ... – Freilich, ihrem Gatten ist übel mitgespielt worden, und ihre Verbitterung und ihre unbeugsame Härte gegen sich selbst und gegen andere erscheinen genugsam begründet. Trotzdem hat sie sich ein goldenes warmes Herz bewahrt. Wie könnte sonst ihre Enkelin ein so frisches, heiteres Mädel geworden sein?! Und doch ...! Ich werde das Gefühl nicht los, daß sich hier um unser kleines Eigenheim ein Gewitter zusammenbraut, das ...«

Er schwieg plötzlich.

Nur aus dem leisen Klirren der Sprungfedern des Klubsessels entnahm ich, daß er sich jäh erhoben hatte.

»Leise!!«, flüsterte er warnend. »Tritt hier neben mich ... Stelle den Aschenbecher beiseite ... – So, – was siehst du dort im Vorgarten, mein Alter?«

Unser Eigenheim in der Arnoldstraße ist klein und bescheiden, im Vorgarten stehen ein paar alte Kastanien, und das Licht der Straßenlaterne vor unserer Zaunpforte beleuchtete auch die drei Beete mit prächtigen Spätrosen.

»Was siehst du?!«, raunte Harst mir aufmunternd zu. »Strenge deine Augen nur ein wenig an! Es gibt wirklich etwas zu sehen!«

Gewiß ... Da waren die Rosen, die im Nachtwinde sich verneigten ... Da waren die ersten frühwelken Blätter, die von den herbstlich verfärbten Bäumen in unregelmäßigen Spiralen zu Boden schwebten. Da waren Fledermäuse, die lautlos dahinschossen und ganz leise zuweilen pfiffen ...

Und da waren die schwarzen Schattenstriche der Stämme der Kastanien auf den hellen Kieswegen und ...

Da war an dem einen breiten Schattenstreifen ein Buckel, der nicht etwa einem Auswuchs des Baumes seine Entstehung verdankte.

Nein – der Buckel bewegte sich ...

Es war der Schatten des Kopfes eines Mannes, der dicht an den Stamm geschmiegt stand und uns unsichtbar blieb.

Nur der Schatten des vorgereckten Kopfes verriet seine Anwesenheit.

»Achtung?!«, flüsterte Harst von neuem.

Der Kopf verschwand ...

An seiner Stelle erschien ein langer Schattenstrich, der hin und her schwankte und immer mehr sich ausreckte: Der Schatten einer dünnen Stange!

»Ein Angelstock aus Bambus, fünfteilig!«, zischelte Harst ... »Also ein Dieb, der nach bewährtem Rezept mit Hilfe des Angelstockes eine leichte Strickleiter mit einem Haken an unserem kleinen Balkon befestigen will ... – Uns gilt dieser Besuch nicht, er gilt der Frau Kapitän. Warten wir ab ...«

Ich schrak leicht zusammen.

Hinter mir begann die Standuhr Mitternacht zu schlagen.

Und diese infame Standuhr ist wie ein Barometer.

Bei trockenem Wetter, wenn das Gehäuse nicht verquollen ist, schlägt sie ihre Gongtöne weich und mild und nachhallend. Hat es geregnet, klingt der Schlag blechern, billig, schundig ...

Es ist eine merkwürdige Uhr.

Der Gauner da draußen mußte die Uhr hören, und wenn der Bursche nur ein Quäntchen Verstand besaß, mußte er sich sagen, daß unsere Hochparterrefenster offenstanden und wir somit noch nicht zu Bett gegangen waren.

Der Kerl hatte Heu im Schädel.

Er huschte jetzt tief gebückt mit seiner Angelrute hinter der Kastanie hervor und verschwand nach links um die Hausecke.

Harst sagte halblaut: »Eine Frechheit!! Und eine Dummheit!! Trotzdem, – mein Vorgefühl hat mich nicht getäuscht ... Wir bekommen Arbeit ... Wir wollen den Herrn zunächst nicht stören. Bevor er seine Strickleiter befestigt hat und über den Balkon in das Zimmer eingedrungen ist, können wir unsere Hausschuhe mit soliderem Schuhwerk vertauschen und die Mäntel anziehen ...«

Für gewöhnlich berechnet Harst die Zeit, die ein solcher nächtlicher Gast für seine Vorbereitungen nötig hat, sehr richtig und irrt sich kaum um Sekunden.

Diesmal sollten wir eine arge Enttäuschung erleben.

Als wir die Haustür lautlos geöffnet hatten und nun gleichfalls um die Hausecke nach links huschten, war unter dem Balkon weder von einer Strickleiter noch von einem Angelstock, geschweige denn von dem Diebe etwas zu sehen.

Harst meinte ärgerlich: »Ausgekniffen!! Der Kerl ist durch irgend etwas verscheucht worden. In vier Minuten erledigt niemand einen Einbruch. – Hole doch mal vom Hofe die Gartenleiter, mein Alter ...«

Er lehnte die Leiter dann an den Balkon, kletterte nach oben, betrat den Balkon und kehrte sehr bald zurück.

»Die Frau Kapitän schnarcht wie ein Kürassier«, sagte er belustigt. »Kein Wunder, daß der Gauner Angst bekamt! Er hat wahrscheinlich geglaubt, du schliefest dort oben. Leute mit Fettansatz schnarchen stets.«

»Danke!! Sehr liebenswürdig! Aber den Fettansatz bei der Frau Kapitän mußt du mir erst mal zeigen!«

»Oh, sie wird sich bei uns schon herausfuttern, mein Alter ... – Tragen wir die Leiter wieder weg. Jedenfalls sind wir gewarnt ...«

Daß dieses nächtliche Vorspiel zu der geheimnisvollen Persönlichkeit eines sehr seltsamen Milliardärs überleiten sollte, ahnten wir beide nicht.


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