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Gestern war, nach dem Geräusch des Maitages, ein Tag der Stille und Ruhe. Während des Morgens gesellte ich mich zu den Damen in einem kleinen Zimmer, dessen Fenster Thüren bildeten, aus welchen man auf die Terrasse des Gartens trat, die mit schönen Sträuchern und Blumen besetzt war. Der sanfte Sonnenschein, welcher durch die über die Fenster hängenden Zweige der Bäume in das Zimmer fiel, der angenehme Geruch der Blumen und der Gesang der Vögel schien einen freundlichen, beruhigenden Eindruck auf die ganze Gesellschaft hervorzubringen, denn es verging einige Zeit, ohne daß irgend Jemand etwas sprach. Lady Lillycraft und Miß Templeton saßen an einem zierlichen Arbeitstische, in der Nähe eines der Fenster, mit einer artigen Damenarbeit beschäftigt. Der Capitain war auf einer Fußbank zu den Füßen seiner Gebieterin und sah Musikalien durch, und die arme Phöbe Wilkins, die immer eine Art Schooßkind bei den Damen war, welche aber bei Lady Lillycraft, wegen einiger zärtlichen Geständnisse, die sie abgelegt hat, in außerordentlichen Gnaden steht, saß in einer Ecke des Zimmers, mit geschwollenen Augen, gedankenvoll an dem Hochzeitstaate der schönen Julie arbeiten.
Das Stillschweigen ward endlich durch Ihre Herrlichkeit unterbrochen, welche dem Capitain auf einmal etwas zu thun gab. »Ich bin in Eurer Schuld, für die Erzählung, die Ihr uns neulich vorgelesen habt,« sagte sie: »ich will Euch nun eine andere dafür geben, wenn ihr sie vorlesen wollt: sie paßt gerade zu diesem lieblichen Maimorgen, denn sie handelt ganz von Liebe.«
Der Vorschlag schien der ganzen Gesellschaft Vergnügen zu machen. Der Capitain lächelte zustimmend. Ihre Herrlichkeit klingelte ihrem Pagen und schickte ihn nach ihrem Zimmer, die Handschrift zu holen. »Da der Capitain,« sagte sie, »uns eine nähere Nachricht über den Verfasser seiner Geschichte gegeben hat, so ist es nicht mehr als billig, daß ich auch Nachricht von dem meinigen gebe. Sie ist von dem Pfarrer des Kirchspiels geschrieben, in welchem ich wohne. Er ist ein magerer, ältlicher Mann, von schwächlichem Körperbau, aber gewiß einer der angenehmsten Leute, die je lebten. Vor einigen Jahren verlor er seine Gattin, eine der lieblichsten Frauen, die ich je sah. Er hat zwei Söhne, die er selbst erzieht, und welche Beide bereits liebliche Gedichte machen. Seine Pfarrwohnung ist ein angenehmer Ort, dicht bei der Kirche, ganz mit Epheu und Geißblatt bewachsen, von dem schönsten Blumengarten umgeben; denn bekanntlich sind unsere Landgeistlichen immer Liebhaber von Blumen und machen ihre Pfarrwohnung zu vollkommnen Gemälden.«
»Sein Einkommen ist bedeutend genug und er ist äußerst beliebt und thut viel Gutes in der Nachbarschaft und unter den Armen. Und dann, was für Predigten hält er! Ihr solltet einmal eine solche über einen Text aus dem Hohen Liede Salomonis hören, ganz von Liebe und Ehe, das Schönste, was man hören kann! Er predigt sie wenigstens ein Mal im Jahre, im Frühling, denn er weiß, daß ich sie gern habe. Er speiset des Sonntags immer bei mir, und bringt mir oft einige von den schönsten Dichtungen über den Reiz der Schwermuth und ähnliche Gegenstände, worüber ich so weinen muß, Ihr könnt es gar nicht denken. Ich wollte nur, er ließe etwas drucken. Ich denke einige Sachen von ihm sind so schön, als irgend etwas von Moore oder Lord Byron.«
»Vor einiger Zeit ward er sehr krank und man gab ihm den Rath, nach dem festen Lande zu gehen; ich ließ ihm keine Ruhe, bis er ging, und versprach ihm, für seine zwei Knaben zu sorgen, bis er wieder käme.«
»Er war über ein Jahr abwesend und genas völlig. Als er zurück kam, schickte er mir die Erzählung, die ich Euch nun zeigen will. – O, da ist sie!« sagte sie, als der Page ihr ein schönes Kästchen von Atlasholz brachte. Sie schloß es auf und unter mehreren Päckchen Billets auf Papier mit gepreßten Verzierungen, Karten mit Charaden, und Abschriften von Versen, zog sie ein Futteral von rothem Sammet hervor, das stark von Wohlgerüchen duftete. Aus diesem nahm sie eine, sehr zierlich auf Velinpapier mit goldenem Schnitt geschriebene, mit himmelblauem Bande zusammengeheftete Handschrift. Diese reichte sie dem Capitain, welcher nun folgende Erzählung las, die ich mir zur Unterhaltung des Lesers verschafft habe.