Washington Irving
Bracebridge Hall oder die Charaktere
Washington Irving

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Geschichten-Erzählen.

Ein Lieblings-Abend-Zeitvertreib auf der Halle, und dem der würdige Squire gern Vorschub leistet, ist Geschichten-Erzählen, »eine gute altväterische Kamin-Belustigung,« wie er es nennt. Ich glaube, daß er besonders deßwegen so dafür eingenommen ist, weil es eine der Hauptergötzlichkeiten in jenen alten Zeiten war, wo Herren und Damen noch nicht so viel zu lesen pflegten. Dem sei jedoch, wie ihm wolle, so fordert er oft bei dem Abendessen, wenn die Unterhaltung stockt, Einen oder den Andern aus der Gesellschaft auf, eine Geschichte zu erzählen, wie man sonst die Gewohnheit hatte, Jemanden zum Singen aufzufordern, und es ist erbaulich, die musterhafte Geduld und selbst das Vergnügen zu sehen, womit der gute alte Herr da sitzt und einer abgedroschenen Erzählung lauscht, die er wenigstens hundert Mal gehört hat.

Auf diese Weise kam eines Abends die Reihe auch an Erzählungen und Anecdoten von geheimnißvollen Leuten, die zu verschiedenen Zeiten eine Rolle gespielt und die Welt mit Zweifeln und Vermuthungen erfüllt haben; wie der wandernde Jude, der Mann mit der eisernen Maske, der die Neugierde von ganz Europa in Bewegung setzte, das unsichtbare Mädchen, und zuletzt, wiewohl nicht die unbedeutendste, die Dame mit dem Schweinsrüssel.

Endlich ward Einer in der Gesellschaft aufgerufen, der für einen Geschichten-Erzähler das unversprechendste Aeußere hatte, das mir je vorgekommen. Es war ein magerer, bleicher, schwindsüchtig aussehender, sehr nervenschwacher Mann, der an einer Ecke des Tisches, gleichsam in sich selbst zusammengefallen und wie eine Schildkröte in der Schale, beinahe ganz von seinem Rockkragen verschlungen, dagesessen hatte.

Schon die Anforderung schien ihn in ein Nervenzucken zu versetzen, doch weigerte er sich nicht. Er tauchte seinen Kopf aus seiner Schale heraus, machte ein paar seltsame Gesichter und Gesten, ehe er seine Muskeln in Ordnung bringen oder seine Stimme in seine Macht bekommen konnte, und sagte dann, daß er etwas von einem geheimnißvollen Wesen erzählen wolle, dem er kürzlich auf seiner Reise begegnet sei, und das er völlig geeignet fände, dem Mann mit der eisernen Maske an die Seite gestellt zu werden.

Ich war von seiner außerordentlichen Erzählung so ergriffen, daß ich sie, so gut ich mich derselben noch erinnern kann, zur Unterhaltung des Lesers niedergeschrieben habe. Ich meine, sie hat alle die Bestandtheile der geheimnißvollen romantischen Erzählungsart in sich, die in der gegenwärtigen Zeit so sehr gesucht ist.


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