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10. Die Treue siegt

»Eben habe ich einen Brief von meiner Jugendfreundin Hedwig erhalten«, sagte Frau Scheller eines Tages zu ihren Töchtern; »sie hat sich endlich entschlossen, mich einmal zu besuchen, ich freue mich, daß ihr sie nun auch kennenlernt.« – »Als wir Kinder waren, hast du uns viel von Tante Brok erzählt, Mutter«, meinte Anna, die ältere. »Nicht wahr? Deine Freundin ist sehr pedantisch, du sagtest uns, man dürfe nichts anrühren bei ihr, müsse sich in acht nehmen, daß man nichts in Unordnung bringe, müsse sich die Füße sehr putzen!« »Ja, pedantisch ist Tante Brok, aber sonst gut und treu«, versetzte die Mutter. »Ich freue mich unendlich auf das Wiedersehen.«

»Minna«, rief sie dem Mädchen zu, welches in der andern Stube die Fenster putzte, »Minna, du mußt das Gaststübchen in schönste Ordnung bringen, wir bekommen am Dienstag Besuch von einer Dame, welche sehr eigen ist, es muß alles blitzen und funkeln.« Minna antwortete bescheiden, daß sie alles wohl ausrichten werde. Sie glühte wie eine Rose, aber niemand achtete darauf. Wie konnte auch die Herrschaft ahnen, welche große Teilnahme sie an dem Besuch nahm, der in Aussicht stand. Hatte sie doch schon neulich aufgehorcht, als von Frau Brok in S. die Rede war. Sie hatte bald gemerkt, daß sie eine Freundin von Frau Scheller war und daß die Damen, die jahrelang außer Verkehr gewesen, in letzter Zeit wieder angefangen hatten, in Briefwechsel zu treten. Daß aber Frau Brok, die ihres Wissens nie verreist war, nun zur Winterszeit eine Reise nach Berlin unternehmen wollte, setzte sie in großes Erstaunen; daß es gerade zu Frau Scheller sein mußte, erschreckte sie. Was sollte nun aus ihr werden? Sobald Frau Brok sie erkennen würde, würde sie den Damen von dem Verschwinden des Geldes erzählen, dann würden Frau Scheller und ihre Töchter auch Mißtrauen zu ihr fassen und sie mußte weiter wandern. Jetzt half es aber nichts, sie mußte über sich ergehen lassen, was da komme; sie wollte sich so unsichtbar wie möglich machen, so daß Frau Brok sie gar nicht gleich erkennen sollte. Gerufen wurde sie Minna, das war in diesem Falle auch gut. Und doch – auf der andern Seite freute sie sich, das geliebte Angesicht ihrer Herrn bald wiederzusehen.

Sie ließ sich ihrer Herrschaft gegenüber nichts merken; diese staunte nur, mit welchem Eifer und welchem Geschick sie die Gaststube in Ordnung brachte, wie sie nicht ruhte und rastete, bis alles sauber und blank war, wußte sie doch am besten, wie Frau Brok es gern hatte, ja, sie wollte ihr alles so machen, wie sie's daheim gewohnt war, sie sollte keine Bequemlichkeit entbehren. Sie bat Frau Scheller um dieses und jenes, was noch fehlte, so daß diese zu ihren Töchtern sagte: »Es ist gerade, als ob die Minna jemand erwartet, den sie lieb hat, sie denkt mehr an alles, als ich.« »Ja, es ist ein gutes Mädchen«, versetzte Marie, »so eine haben wir noch gar nicht gehabt.«

Nun war der Dienstagabend gekommen. Da der Bahnhof, an welchem Frau Brok ankommen sollte, sehr nahe der Wohnung lag, so beschloß Frau Scheller, die Freundin mit den Töchtern selbst abzuholen. Minna sollte mitgehen, und der Dame die Tasche tragen. Annas Herz klopfte hörbar, als sie auf dem Bahnhof standen, des Zuges harrend. Jetzt brauste er heran. Als er hielt, sahen die Damen ratlos von einem Abteil ins andere, Annas Augen hatten längst die geliebte Frau Brok entdeckt. Da stand sie in der offenen Wagentür, mit der Reisetasche in der Hand. Anna winkte den Damen und lief schnell auf Frau Brok zu, nahm ihr die Tasche aus der Hand und half ihr aussteigen. Frau Brok sah mehr auf die heraneilenden Damen als auf die helfende Magd, welche sich die Kapuze möglichst weit ins Gesicht gezogen hatte und sich damit beschäftigte, die Reisedecke und den Fußsack aus dem Wagen zu holen.

Die Begrüßung mit den Damen, besonders mit ihrer Elisabeth, war herzlich; sie nahmen Frau Brok in ihre Mitte und ließen Minna mit den Sachen folgen. Wie klopfte dieser das Herz, als sie ihrer Wohltäterin so nahe war und durfte sie nicht begrüßen. Sie gingen durch die hellerleuchteten Straßen und waren nach zehn Minuten zu Hause. Eine warme, gemütliche Wohnung nahm sie auf. »Nun machst du es dir hier bequem«, rief Frau Scheller, »wir lassen dich fürs erste nicht fort.« Wie wohl tat es Frau Brok, sich von Liebe umgeben zu sehen; die angenehme Häuslichkeit, der zierlich gedeckte Teetisch, alles machte einen so heimischen, freundlichen Eindruck.

Von dem eigentlichen Zweck ihres Kommens wollte Frau Brok heute noch nicht reden, dazu war am morgigen Tage auch Zeit; heute wollte sie nur der Freundschaft mit ihrer Elisabeth leben. Die beiden Freundinnen saßen zusammen auf dem Sofa, während die Töchter den Tee besorgten und die älteren Damen bedienten. Das Mädchen ging ab und zu und brachte alles Erforderliche, setzte es auf den Tisch an der Tür und verschwand dann wieder. »Minna hält sich heute ganz im Hintergrund«, sagte Anna, »sie läßt sich gar nicht sehen.« Frau Brok sah auf. »Ich meine unser Mädchen, Tante; wir haben nämlich eine Musterzofe, die wir immer behalten möchten.« Über Frau Broks Gesicht flog ein wehmütiger Zug, doch sie sagte nichts. »Ja«, fuhr Frau Scheller fort, »das Mädchen verdanke ich meiner Schwiegertochter. Als ich im Sommer großen Ärger mit einem Mädchen gehabt hatte und im Begriff stand, hierher zu ziehen, bot sie mir diese an, weil sie meinte, sie würde gut für mich passen.« Und nun rühmte sie die vortrefflichen Eigenschaften ihrer Minna, und wie dieselbe eine gute Erziehung gehabt haben müsse usw.

Als der Tee vorüber war, begaben sich die Damen ins andere Zimmer und Minna erschien, um abzuräumen. Frau Brok sah durch die halbgeöffnete Tür Minnas Gestalt hin- und hergehen, das Mädchen erinnerte in ihrer Erscheinung an Anna, nur war sie größer und stärker als diese. Sie wäre gern noch einmal ins andere Zimmer zurückgegangen, doch es gab jetzt andere Sachen zu besprechen; die langjährig getrennten Freundinnen hatten sich so unendlich viel zu erzählen, daß sie kein Ende finden konnten, bis endlich Frau Scheller meinte, Frau Brok müsse nun zur Ruhe, da sie von der Reise erschöpft sei. Sie brachte sie selbst in das behaglich warme, schön ausgestattete Fremdenzimmer. Als Frau Brok ihre Freude aussprach, wie freundlich und glänzend alles sei, sagte Frau Scheller lachend: »Ja, Minna hat mit großem Eifer das Putzen und Reinigen dieses Zimmers betrieben.« – »Minna heißt dein Mädchen?« fragte Frau Brok. »Eigentlich Anna«, war die Antwort, »aber da wir eine Anna in der Familie haben, so nennen wir sie Minna.« Nun wünschte Frau Scheller ihrer Freundin eine gute Nacht und ging.

»Eigentlich heißt sie Anna«, diese Worte gaben Frau Brok viel zu denken, ebenso die Erscheinung des Mädchens am Bahnhof. Es war jemand auf sie zugekommen, hatte ihr die Tasche abgenommen und sie angesehen mit einem Blick, der ihr wohlbekannt war. Aber das Wiedersehen mit der Freundin hatte alles, was sie sonst bewegte, in den Hintergrund gedrängt. Sie hatte ja auch das Mädchen noch nicht wirklich in Augenschein genommen, zudem waren ihre Nerven erregt, sie bildete sich vielleicht ein, die gesehen zu haben, nach der ihr Herz verlangte. Sie begab sich zur Ruhe. Bildete sie sich das auch ein, daß alles lag und stand, genau wie sie es gewohnt war? Sie hatte ihre Eigenheiten mit dem Bett; die Kissen und Decken lagen alle nach Wunsch, das Tischchen war so gerückt, wie sie es gewohnt war, auch der Stuhl stand, wie sie es gerne hatte. Sie schüttelte den Kopf, und die Gedanken ließen sie lange nicht zur Ruhe kommen. Endlich überwältigte sie doch die Müdigkeit und sie erwachte erst an einem leisen Knarren der Tür.

Ein junges Mädchen kam mit der Lampe herein, ging leise an den Ofen, kniete dort nieder und zündete schnell mit einem Streichhölzchen das schon am Abend im Ofen zurechtgelegte Holz an. So liebte es Frau Brok, so hatte sie Anna gewöhnt, damit kein Geräusch beim Einheizen die Schlafende störte. Frau Brok tat, als ob sie schliefe, beobachtete aber das junge Mädchen scharf. Es war ihre Anna, es konnte kein Zweifel sein. Jetzt wendete sie sich um und näherte sich dem Bett. Nun kniete sie davor und drückte leise, ganz leise einen Kuß auf Frau Broks herabhängende Hand. Dann richtete sie sich schnell auf und wollte entfliehen, da faßte dieselbe Hand sie fest und eine Stimme rief »Anna«, mit einem Ton mütterlicher Liebe, wie Anna ihn nie gehört. »Anna, mein Kind, habe ich dich endlich wieder!« Anna warf sich vor ihr Bett und schluchzte heftig. Frau Brok streichelte ihr die Wangen, sagte, daß ihre Unschuld an den Tag gekommen, daß es ihr sehr leid sei, sie in falschem Verdacht gehabt zu haben. »Ich muß um Vergebung bitten«, rief Anna, »daß ich Sie verließ, ich hätte bleiben müssen und still das Unrecht leiden.« »Wir haben beide gefehlt«, sagte Frau Brok, »der Herr unser Gott hat alles wohlgemacht, Ihm wollen wir danken, daß er uns so wunderbar zusammengeführt hat, daß Er mir meine Reise und das Suchen so leicht gemacht hat.« Während sie dies sagte, hielt sie Annas Hände fest in den ihrigen. Dann schloß sie ihr wiedergefundenes Kind zärtlich in ihre Arme; es schien, als wollte sie die ganze Fülle ihrer mütterlichen Liebe, die sie dem Mädchen äußerlich bisher vorenthalten hatte, nun über sie ausschütten.

Sie erzählte Anna, daß sie die Reise nur ihretwegen unternommen habe, sonst würde sie im Winter nicht daran gedacht haben. Anna berichtete ihrerseits die Erlebnisse und mußte sich immer wieder wundern, daß sie gerade zu der Freundin der Frau Brok gekommen. So gab ein Wort das andere, bis Anna, eingedenk ihrer Pflichten, davonging mit dem Versprechen, später wiederzukommen und Frau Brok beim Anziehen behilflich zu sein. Diese aber fand keine Ruhe länger; sie erhob sich von ihrem Lager, glücklicher, als sie seit langem gewesen. Es gab ein großes Staunen und Verwundern, als sie beim Kaffeetisch ihre Erlebnisse mit Anna erzählte. Frau Scheller meinte, sie habe es dem Mädchen immer angemerkt, daß sie eine andere Erziehung gehabt habe als die gewöhnlichen Dorfmädchen, aber Anna habe nie über ihre Vergangenheit gesprochen, und ihre Schwiegertochter habe gesagt, sie habe sie aus dem Dorfe Wildenhain mitgebracht, wo sie bei einer Freundin zum Besuch gewesen. Als Frau Brok den Namen des Dorfes hörte, war alles aufgeklärt.

Nun kam die dringende Bitte an die Freundin, ihr Anna sobald als möglich zu überlassen. Es wurde Frau Scheller schwer, aber sie mußte einsehen, daß das Mädchen Frau Broks unbestrittenes Eigentum sei, daß sie ältere Anrechte an Anna hätte als sie. Alle Bitten, Frau Brok möchte das Weihnachtsfest in Berlin verleben, waren vergebens, sie sehnte sich nach ihrem eigenen Heim. Es wurde beschlossen, Anna sollte gleich nach Weihnachten, sobald sich ein Ersatz gefunden, ihr folgen, um sie nie zu verlassen. Groß war das Erstaunen der alten Sattler und der Freunde, als sie hörten, daß Frau Brok durch eine wunderbare Fügung Gottes ihre Anna so bald wiedergefunden. Jeder gönnte ihr die Freude, mit dem Kinde, das sie sich erzogen, wieder vereinigt zu sein.

Und als es sich so fügte, daß Anna gerade am Silvesterabend in der Dämmerung bei ihr eintraf, da wurde sie nicht, wie an jenem ersten Silvesterabend, da sie zuerst das Haus betrat, mit einem barschen »Fort, nach Hause« angefahren, nein, mit herzlicher Umarmung begrüßte Frau Brok ihr Pflegekind und räumte ihr völlige Kindesrechte ein, indem sie ihr erlaubte, sie künftig mit dem Mutternamen zu benennen. Das war Annas größtes Geschenk; schon als Kind hatte sie es sich als etwas Schönes, aber Unerreichbares gedacht, wenn sie zu der Dame, die sie so liebte und verehrte, »Mutter« sagen dürfte. Mit diesem Namen zog völlige Liebe und völliges Vertrauen in die Herzen.

Am Abend erzählte Anna der Pflegemutter von dem seligen Sterben ihres Bruders und sagte ihr, daß auch er alles, was aus ihm geworden, der Frau Brok verdankte, das habe er noch auf seinem Sterbebett bekannt. So war Frau Broks Arbeit und Mühe an den armen Waisenkindern nicht vergebens gewesen. Aber die Prüfung hatte sie gelehrt, daß das Werk, das sie in großer Schwachheit mit viel Verkehrtheiten begonnen, allein durch Gottes Gnade und Seine Hilfe einen gesegneten Ausgang genommen. So ist nun weder der da pflanzet, noch der begießet, etwas, sondern Gott, der das Gedeihen gibt. Aber den Aufrichtigen läßt es Gott gelingen. Anna hing in unwandelbarer Treue an ihrer Pflegemutter, sie tat, was sie ihr an den Augen absehen konnte, und diese bewies ihr ein Vertrauen, wie es Eltern zu Kindern haben. Annas Konfirmationsspruch aber stand ihr immer im Herzen geschrieben: »Der Herr behüte dich vor allem Übel, Er behüte deine Seele.«


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