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3. Schwerer Anfang

Die Alte hatte gut reden: Frau Brok sollte sich nicht aufregen. Das war leichter gesagt als getan. Wer jahrelang in ungestörter Ruhe gelebt hat, nur mit sich und seinen Sachen beschäftigt, der sollte nicht durch solch ein Ereignis, wie es der heutige Tag mit sich gebracht, aus dem Gleichgewicht kommen? »Warum bist du gerade zu mir gekommen?« Diese Frage und die darauf folgende Antwort: »Weil Sie so gut sind«, wollten Frau Brok nicht aus dem Sinn. Das Zutrauen des Kindes zu ihrer Güte bewegte ihr Herz; sie fragte sich immer wieder: »Bin ich denn wirklich so gut?« konnte aber kaum mit gutem Gewissen diese Frage bejahend beantworten. Wie viele Menschen gab es in der Stadt, die sich viel mehr der Armen erbarmten; sie hatte heute zum erstenmal eine Stätte des Elends betreten und war ganz erschüttert davon. War es gut, daß sie sich vorgenommen, nie wieder ihren Fuß in diesen Stadtteil zu setzen? War es gut, daß sie entschlossen war, das Kind morgen mit Frau Sattler in das Elend zurückzuschicken? Am Ende wäre es besser, sie behielt die Kleine ganz. Nun, da sie gereinigt war, brauchte sie ja ihrer Räume wegen nicht in beständiger Unruhe zu sein. Sie mußte sie sich daraufhin einmal ansehen. Sie nahm ein Licht und ging in die Kammer, wo Anna in festem Schlaf lag. War das dasselbe Kind? Das schwarze lockige Haar umrahmte ein niedliches kleines Gesicht, das frisch gewaschen mit den vom Schlaf geröteten Wangen und der leicht gebräunten Farbe durchaus hübsch zu nennen war. Jetzt umspielte ein Lächeln den kleinen Mund, holde Träume umfingen das Kind nach den schrecklichen Ereignissen des Tages. Der Gedanke, das kleine Wesen immer um sich zu haben, hatte bei Weitem nicht mehr das Abschreckende wie am Anfang. Konnte sie sich nicht für spätere Jahre eine treue Dienerin an ihr erziehen? Aber dazwischen lag noch viel. Was würden die Freunde dazu sagen? So gingen die Gedanken hin und her, und lange währte es, bevor sie in dieser Nacht Ruhe fand.

Am andern Morgen war sie bei guter Zeit auf, sie wollte, bevor das Kind erwachte, noch ein Röckchen anfertigen; und ein Kleid brachte Frau Sattler mit. Die Kleine schien gar nicht erwachen zu wollen; die zu Hause empfangenen Schläge, das Weinen und Schluchzen, dann der weite Gang mit der Mutter, die Ungewißheit ihres Loses, das kräftige Bad, alles hatte die Müdigkeit der Kleinen so gesteigert, daß der Schlaf sie wie in Fesseln hielt; dazu kam das prächtige, weiche Bett, das sie nie gehabt hatte, wie wohl mochte es sich darin ruhen! Es war ja auch gut, daß sie noch schlief; Frau Sattler kam eben angekeucht mit einem Paket unter dem Arm, welches die neuen Sachen enthielt. Der Kaufmann hatte verschiedenes zur Auswahl geschickt, es wurde alles besichtigt und einer gehörigen Prüfung unterworfen. Endlich war die Wahl getroffen, und nun begaben sich die beiden Frauen, die sich sonst mit Eifer dem Ordnen der Zimmer hingaben, in das Kämmerlein, um das kleine lebende Wesen zu schmücken. Das kleine Mädchen wachte nun und sah sich mit ihren dunklen Augen verwundert in der Kammer um. Dann betrachtete sie die langen weißen Ärmel ihres Gewandes, streichelte liebkosend ihr weißes Bettchen und schien großes Wohlbehagen in und um sich zu fühlen. »Nun heraus, kleine Anna, die Sonne scheint schon lange«, rief Frau Sattler. Schüchtern erhob sich das kleine Mädchen und bekleidete sich mit den schönen Sachen, wobei beide Frauen hilfreiche Hand leisteten.

»Gar nicht wieder zu erkennen«, rief Frau Sattler, Frau Brok aber sah mit Wohlgefallen auf das kleine niedliche Mädchen in dem ordentlichen dunklen Kleid, in den von ihr gestrickten Strümpfen und den netten Schuhen, die sie ihr damals geschenkt. Beides hatte Anna in dem kleinen roten Bündel am Abend zuvor mitgebracht. Sie sah nun ganz wohlgefällig an sich herunter und das erste, was sie sagte, war: »Er wird mich gar nicht kennen, wenn er mich sieht; bekommt er auch neue Sachen?« »Nein, mein Kind«, sagte Frau Brok, »alle Kinder kann ich nicht neu kleiden, vielleicht schenke ich dem Franz später einmal etwas. So, nun sollst du noch ein großes Butterbrot und eine Tasse Milch haben, dann gehst du mit Frau Sattler wieder zu deiner Mutter zurück.« Da begann Anna heftig zu werden. »O beste Dame«, schluchzte sie, »sie ist ja gar nicht meine Mutter. Sie hat mir gestern gesagt, ich solle nicht zurückkommen, sie hätte kein Brot mehr für mich. Ich will auch immer auf der Decke bleiben, oder auf der Küchenbank, lassen Sie mich doch hier.« Frau Brok war überwunden. Sie war entschlossen, das Kind jetzt nicht fortzuschicken, wohl aber Frau Sattler gehen zu lassen und nähere Erkundigungen über die Verhältnisse der Leute einzuziehen.

Lange währte es, bis die Alte zurückkam. Endlich hörte sie ihre Tritte. Sie gebot dem Kinde in die Kammer zu gehen, ein Mädchen ihres Alters müsse sein Bett selber zu machen verstehen; dann rief sie Frau Sattler in ihr Zimmer. »Na, Frau Brok, das sieht gut aus«, begann die Alte, »das Kind werden Sie nicht wieder los, denn – die sauberen Herrschaften sind fort. Heute in aller Frühe sind sie ausgerückt, ohne Miete zu bezahlen; die Wirtin erzählte mir, die Leute hätten schon lange von Wegzug gesprochen; sie wollten an einen anderen Ort, wo der Mann mehr zu verdienen hoffte, aber daß sie heimlich davongehen würden, habe sie auch nicht gedacht. Sie sagt, es sei ein wahres Glück, wenn die kleine Anna in andere Hände käme; das Kind sei nicht schlecht, aber gänzlich verwildert durch das Herumlaufen und Hausieren. Gestern habe sie die Frau sagen hören, die Anna habe sie nun los, es sei eine vornehme Dame dagewesen, die wolle sie annehmen. Sehen Sie, so hat das Weib gelogen; das kommt davon, wenn man einmal seinem guten Herzen folgt und den Leuten etwas zugute tun will. Nein, Frau Brok, daß das nun gerade Sie treffen muß, Sie sind so ruhig und gleichmütig und können es gar nicht vertragen, wenn Ihnen etwas verdorben wird, und das Kind wird Ihnen viel verderben.« »Ich werde sie schon zu erziehen wissen«, antwortete Frau Brok auf die lange Rede der Alten, »sie ist nun einmal hier, und wir müssen sehen, was wir aus ihr machen können.« Die gute Alte seufzte. »Meinetwegen kann sie gerne hier bleiben«, meinte sie, »mir ist es nur Ihretwegen, für das kleine Lamm ist es so am besten.« »Wir wollen sehen, ob sie ihre Kammer in Ordnung gebracht hat«, sagte Frau Brok. »Sie hat mir erzählt, daß sie daheim alle Betten gemacht habe.« »Da sind wohl nicht viel Betten zu machen gewesen«, versetzte die Alte und folgte Frau Brok in die Kammer. Sie hörten, daß Anna sich laut mit jemand unterhielt. Als sie die Tür öffneten, – wer beschreibt das Erstaunen der Frau Brok, da lag der dicke, schwarze Kater der Wirtin in dem weißen Bettchen, schönstens zugedeckt. Er schnurrte ganz vergnüglich, während Anna neben ihm stand, ihn streichelte und ihm die schönsten Schmeichelnamen gab. »Na, dies fängt gut an«, lachte Frau Sattler, Frau Brok aber sagte streng: »Ungehorsames Kind, was habe ich dir gesagt? Katzen dulde ich nie in meinen Räumen, das merke dir; wenn du so anfängst, dann verläßt du mein Haus sofort wieder, du mußt tun, was ich sagte, sonst ...« – Sie drohte mit dem Finger, der Kater sprang sofort aus dem Bett, er kannte diese Handbewegung, und Anna wich scheu zurück vor dem strengen Blick der großen Dame. Diese trug nun Frau Sattler auf, der Kleinen genau zu zeigen, wie sie ihre Kammer zu reinigen habe, und begab sich in ihr Zimmer, um nachzuholen, was den Morgen über versäumt war. Sie seufzte. Viele neue Pflichten warteten ihrer, das fühlte sie. Frau Brok war eine pflichttreue Frau; es gab manches, was sie nicht gern tat, wozu sie nur das Pflichtgefühl trieb. Sie wollte nun gern ein gutes Werk vollbringen, ein großes, gutes Werk; das Kind war ihr, ohne daß sie es wollte, ins Haus gelaufen, sie hielt es für ihre Pflicht, es zu behalten. Das »aus freier Liebe um des Herrn willen« war ihr noch verborgen. Sie nahm sich vor, die Kleine gut, aber streng zu erziehen, sie sollte einmal eine Stütze für sie werden und konnte ihr dann vergelten, was sie an ihr getan. Vorderhand galt es nun, die äußeren Angelegenheiten zu ordnen. Von rechtswegen fielen die armen Kinder, deren Eltern Heimatrechte in der Stadt gehabt, derselben zu, die Stadt mußte für ihre Erziehung sorgen. Sie beschloß, Herrn Werter zu bitten, die geschäftlichen Angelegenheiten für sie zu besorgen.

Die Kleine hatte unterdes unter Frau Sattlers Anleitung die Kammer fegen müssen, wobei die Alte ihr anempfahl, ja recht die Ecken und unter dem Bett zu fegen, Frau Brok sehe jedes Stäubchen, und wenn nicht alles sehr schön gemacht würde, so zürne sie. Anna zeigte sich anstellig und gewandt, nur sollte alles in großer Eile vollbracht werden. Ehe Frau Sattler sich's versah, war die kleine Person unter das Bett gekrochen und fegte mit dem kleinen Handbesen wacker herum; nun huschte sie in die andere Ecke und wollte das Manöver unter dem Waschtisch wiederholen, plötzlich richtete sie sich im Amtseifer auf und stieß mit dem Kopf gegen den Tisch. Die Waschkanne stürzte herab und lag in vielen Scherben auf der Erde. »Kind, Kind«, rief die erschrockene Alte, »wie kannst du nur! So etwas ist in Jahren nicht bei uns passiert. Scherben kann Frau Brok gar nicht sehen, o weh, o weh, was machen wir nun?« Schnell hatte die Kleine die Scherben in ihre Schürze gesammelt und bevor die Sattler es hindern konnte, war sie ans offene Fenster geeilt und – krach – warf sie die Stücke hinaus.

»Dies fehlt gerade noch«, rief eine scheltende Stimme vom Hofe her. »Was geht hier überhaupt seit gestern vor, die Ruhe des Hauses ist gänzlich dahin. Ich habe meine Wohnung nicht an Bettelvolk vermietet, nur an eine Dame ohne Kinder.« »Nur stille, Frau Baum, beruhigen Sie sich doch, es wird alles noch anders. Das Kind ist aus dem wilden Viertel, Sie sollen sehen, in vier Wochen ist das alles anders. Freuen Sie sich doch, daß es noch barmherzige Leute gibt, die sich armer, verlassener Waisen annehmen.« Frau Baum brummte noch vor sich hin, während Frau Sattler Anna bei der Hand nahm, mit ihr auf den Hof ging und ihr den Kehrichthaufen zeigte, wohin sie die Scherben zu tragen habe. Als Frau Baum die Kleine sah, schlug sie die Hände über dem Kopf zusammen und rief verwundert: »Du meine Güte, ist das dasselbe Kind von gestern, die sieht ja ganz verändert aus. Ne, ne, was man erleben muß.« »Ja, sehen Sie, liebe Frau Baum, das ist erst der äußere Mensch, der läßt sich schnell verwandeln, aber das Inwendige geht schwerer. Das wird unsere Frau Brok aber alles zurecht bringen. Sie wissen, was sie anfängt, das bringt sie auch zu Ende.« »Aber wird sie sie in ihre schönen Stuben lassen?« »Sie wird sie sich schon ziehen«, antwortete Frau Sattler, während Anna, die ihre Scherben besorgt und die letzten Worte gehört hatte, bescheiden hinzufügte: »In der Staatsstube bleibe ich nur auf dem Teppich stehen.« Diese Äußerung gefiel der Wirtin, sie strich ihr die krausen Locken aus dem Gesicht und sagte: »Na, wenn du versprichst, immer recht folgsam und artig zu sein, dann behalte ich dich vielleicht in meinem Hause.« Anna sah sie verwundert an, als verstehe sie nicht recht, wie noch jemand, außer Frau Brok, etwas in diese Sache hineinzureden habe.

»Nun, mein Kind«, sagte Frau Sattler, nachdem Frau Baum sich entfernt hatte, »wird erst gebeichtet. Bekenne es der Frau Brok, daß du die Waschkanne zerbrochen hast.« »Wir sagen, der Kater hat's getan, dann zürnt sie nicht«, bat Anna. »Was! Du willst eine Unwahrheit sagen?« rief die Alte in gerechtem Zorn. »Weißt du nicht, daß unser Herrgott dich augenblicklich strafen kann, wenn du eine Lüge sagst; damit kommst du hier nicht durch.« Vom lieben Gott hatte Anna wenig gehört, sie wußte nur, daß er im Himmel wohne und auf alle Menschen herabsehen könne; das hatte sie einmal in der Schule gehört, aber im letzten Jahr hatten die Pflegeeltern sie wenig in die Schule geschickt, so war sie noch sehr unwissend in allen Dingen. Frau Sattler war eine energische alte Frau; sie hatte Anna beim Arm ergriffen und bevor sich diese besinnen konnte, stand sie schon mit ihr vor Frau Brok.

Sie erleichterte ihr die Sache sehr, indem sie Frau Brok selbst das Unglück berichtete und für die ungeschickte Kleine bat. »Das darf nie wieder geschehen«, sagte Frau Brok wieder mit dem ernsten Ton, der dem Kinde gewaltigen Respekt einflößte; »in meiner Wirtschaft wird nie etwas zerbrochen, das merke dir. Und nun komm her, setze dich an den Tisch, ich habe eine Arbeit für dich.« Sie schüttete einen Topf mit Linsen auf ein großes Stück Papier und zeigte Anna, wie sie die guten von den schlechten lesen solle, und wie sie acht haben solle, daß keine zur Erde falle. So war das Kind bis Mittag beschäftigt, und Frau Brok konnte endlich mit Frau Sattler die andern gewohnten Arbeiten aufnehmen.

Am Nachmittag rüstete sich Frau Brok zu ihrem Gang zu Werters. Sollte sie das Kind mitnehmen? Nein, das ging nicht, Anna mußte von vornherein daran gewöhnt werden, artig zu Hause zu bleiben. Es handelte sich ja auch heute nur um eine halbe Stunde, so lange konnte sie im Eßzimmer warten und sich die Zeit mit Bilderansehen vertreiben. Sie suchte mehrere Bilderbücher heraus und gab sie Anna, deren Augen bei diesem Schatz leuchteten. Die Kleine versprach, artig zu sein, bis Frau Brok von ihrem Gang in die Stadt zurückkäme. Es währte etwas länger als Frau Brok geglaubt hatte. Die Bilderbücher waren schon zum zweitenmal durchgeblättert, und Anna sah ziemlich gelangweilt aus dem Fenster der Eßstube, das nach dem Hof hinausging. Sie wollte gern einmal auf die Straße schauen. Das konnte nur geschehen aus den Fenstern der Staatsstube. Schon war sie an der Tür, doch diese war verschlossen; sie konnte wohl einmal einen Blick zur Haustür hinaus tun. Schnell schlüpfte sie auf den Hausflur und fand die Tür nur angelehnt. Sie öffnete ein wenig und lugte mit dem Gesichtchen hinaus. Da stand ja Franz, wie er leibte und lebte, und schaute sehnsüchtig zu den Fenstern hinauf. »Franz, hier, hier bin ich; ich darf nicht hinaus, komm du doch zu mir!« In zwei Sätzen war der Junge bei ihr. »Komm in die Stube, ich zeige dir schöne Bilder, die sollst du einmal sehen.« Das ließ sich der Junge nicht zweimal sagen. Jetzt waren sie beide im Zimmer, und nun betrachtete Franz die Anna von oben bis unten. »O, Anna«, sagte er mit unverhohlenem Erstaunen, »wie bist du schön geworden; ich hätte dich nimmer erkannt, wenn du mich nicht mit deiner Stimme gerufen hättest. Anna, wie bist du schön!« – »Wie schade, daß ich mich nicht selbst sehen kann, ich habe schon immer an mir heruntergeblickt, aber ich weiß doch nicht, wie ich aussehe.« »Du kannst dich aber ganz genau sehen, wenn du nur willst. Da drinnen«, er zeigte auf die Staatsstube, »ist ja ein großer Spiegel, den hab' ich gesehen, als wir damals drin waren, darin kannst du dich schauen, wie du bist.« »Ich möchte wohl, aber die Stube ist verschlossen.« »Der Schlüssel steckt ja«, rief Franz, drehte um und klinkte die Tür auf. Da lag die Staatsstube vor den Augen der Kinder und zwischen den beiden Fenstern hing der große Spiegel. Anna lief schnell darauf zu, er war zu hoch. Geschwind holte sie einen der schönen Plüschstühle, stieg hinauf und hatte nun den vollen Anblick ihrer kleinen Gestalt. »O, wie schön«, rief auch sie in hellem Erstaunen, »ich hätte nimmer gedacht, daß ich so schön wäre!« »Ich auch nicht«, versetzte Franz treuherzig. »Aber ich kann nicht länger bleiben, ich muß die Zwillinge warten; bitte doch die gute Dame, daß sie mich auch annimmt.« »Ich will's tun, wenn sie nach Hause kommt.«

»Mich hungert«, sagte nun der Franz, sich lüstern umschauend. »O, wir haben viel Brot«, sagte die Kleine, lief an den Eßschrank, holte eine große Semmel heraus und gab sie ihm. »So, nun muß ich gehen«, sagte Franz befriedigt, »begleite mich ein Stück.« »Bis zur Gartenpforte«, war die Antwort, »weiter darf ich nicht.« »Gehst du nicht mehr hausieren?« »Ich weiß nicht, ob sie mich schickt; ich glaube, ich bin nun zu vornehm dazu, aber ich möchte schon gern. Immer in dem schönen Hause zu sitzen, ist langweilig.« »Adieu, Anna, vergiß nicht, die Dame zu bitten, daß sie mich auch holt.« Anna begleitete Franz bis zur Gartentür und kehrte ins Haus zurück. Noch einmal wollte sie sich in dem großen Spiegel sehen, sie sah doch gar zu hübsch aus. Gesagt, getan, der Stuhl stand noch davor; eins, zwei, drei, war sie oben. O ja – – das war sie! Wie wohl die Leute staunen würden, welche sie früher gekannt, wenn sie sie nun sähen!

Jetzt glitt sie wieder hinab, aber o weh, sie war mit ihren Füßen durch den nassen, vom Regen aufgeweichten Garten gegangen und war, ohne sich abzustreichen, auf den hübschen Plüschstuhl gestiegen. Eine Menge häßlicher Flecke waren darauf. Sie nahm die Kehrseite ihres Kleides und wischte daran herum, aber der Schmutz war fest eingetreten, es wurde vom Reiben schlimmer denn besser. Jetzt meinte sie Frau Brok zu hören, schnell erwachte das böse Gewissen, sie huschte, um der Strafe zu entgehen, unter das Sofa, legte sich lang darunter und preßte sich so weit wie möglich gegen die Wand. In dieser Stellung verharrte sie, wartend der Dinge, die da kommen sollten. Frau Brok war noch nicht nach Hause gekommen, Frau Baum, die Wirtin, war nach oben gegangen. Aber nach einer Viertelstunde kam Frau Brok, begleitet von den fröhlichen Töchtern der Freunde. »O Tante, nun zeige uns die Kleine, wir sind zu neugierig, sie zu sehen«, rief Meta. »Wo ist sie?« fragte Olga. »Sie sitzt im Eßzimmer und sieht sich Bilder an«, sagte die nichts ahnende Frau Brok. Ja, das Eßzimmer ist leer, die Bücher liegen durcheinander geworfen auf dem Tisch, die Türen des Eßschrankes sind weit geöffnet, ebenso sieht Frau Brok die Tür nach dem vorderen Zimmer geöffnet. »Das ungehorsame Kind«, rief sie. »Anna, wo bist du?« Nichts war zu sehen und zu hören. »Was ist denn hier vorgegangen. Mein schöner Plüschstuhl bis in die Mitte der Stube gezogen, beschmutzt und befleckt.« »Sie hat sich in dem Spiegel angeschaut«, sagte Meta lächelnd. »Das eitle, kleine Ding«, rief Olga. »Aber wo ist sie nur?« rief Frau Brok erregt, eilte, von Meta gefolgt, in die Küche, ins Schlafzimmer, nirgends war das Kind zu finden.

Olga, die in der vorderen Stube geblieben war, wurde plötzlich durch eigenartige Töne erschreckt. Es klang wie Schnarchen und kam vom Sofa her. Da auf dem Sofa nichts lag, so schaute sie drunter und brach in ein helles Lachen aus. Sie eilte zu den Suchenden und bat sie schnell zu kommen, sie habe die Kleine. Verwundert folgten Tante und Schwester, und waren des Erstaunens voll, als sie Anna schlafend unter dem Sofa entdeckten. Die jungen Mädchen zogen sie hervor und Frau Brok, welche mit Recht ungehalten war, fuhr das erwachende Kind hart an. »Was hast du getan, du ungezogenes Mädchen, ich habe keine Lust, dich zu behalten. Habe ich dir nicht befohlen, im Eßzimmer zu bleiben?« »Er sagte, ich wäre so schön, ich sollte mich im Spiegel beschauen«, schluchzte das Kind. »Er ist auch hier gewesen? Eine schöne Wirtschaft das. Du hast ihm wohl zu essen gegeben?« »Ja, er hatte Hunger, und wir haben ja soviel Brot im Schrank.« »Sie hat schon Gütergemeinschaft mit der Tante gemacht«, lachte Meta. »Du hast nichts wegzugeben, was dir nicht gehört«, sagte Frau Brok ärgerlich. »Jetzt gehst du in die Küche und rührst dich nicht, bis ich dich rufe.« Die Kleine, froh, mit heiler Haut davongekommen zu sein, war im Nu verschwunden. Frau Brok aber stand in ihrer Staatsstube und rang die Hände. »Wie sieht der gereinigte Fußboden aus, wie sieht mein schöner Plüschstuhl aus; das ist mehr als ich vermag, das geht über meine Kräfte.« »Tante, du mußt das Kind nicht wieder allein lassen, bringe sie mit zu uns, sie kann bei uns im Garten spielen, während du uns besuchst. Du mußt nur denken, die Kleine ist ganz unerzogen, in einigen Wochen wird sie es nicht mehr tun. Frau Sattler bringt morgen alles wieder in Ordnung.«

So trösteten die jungen Mädchen. Aber Frau Brok war sehr niedergedrückt durch alle traurigen Erfahrungen des ersten Tages, fast war ihr die ganze Sache leid. Herr Werter hatte ihr auch nicht viel Mut gemacht, er hatte ihr zu bedenken gegeben, daß, wenn sie einmal die Verpflichtung übernommen, sie es auch durchführen müsse, doch wollte er gern die Sache für sie erledigen. Als die jungen Mädchen gegangen, ging sie zu Anna. Diese saß nun still und gehorsam auf der Küchenbank, aber große Tränen rannen über die Wangen. »Ich möchte zu Franz«, sagte sie leise. »Dort kannst du nicht hin, du sollst hier bleiben, aber tun, was ich dir sage.« »Ich will es tun«, sagte Anna und sah Frau Brok mit den schönen, braunen Augen voll an. »Es muß ganz anders mit dir werden, wenn ich dich lieb haben soll«, sagte Frau Brok seufzend. »Aber ich habe Sie schon lieb«, flüsterte Anna und sah sie mit leuchtenden Augen an. Der Blick bezwang Frau Brok, sie konnte nicht länger zürnen. Sie gab ihr zu essen und schickte sie dann ins Bett, um nach diesem ereignisreichen Tage noch ein wenig Zeit für sich zu haben zur inneren Ruhe und Sammlung.


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