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8. Im Dienst

»Die Wildenhainer Anna ist das beste Mädchen, das ich je gehabt«, sagte Annas Herrin zu ihrer Schwiegermutter, nachdem sie das Mädchen fast drei Vierteljahre gehabt. »Heutzutage muß man sich soviel über die Mädchen ärgern, über Anna habe ich noch keine Klage zu führen gehabt.« »Um so mehr muß ich das Opfer anerkennen, welches du mir bringst, wenn du sie mir überlassen willst«, antwortete die alte Dame, welche das Gut ihrem Sohne abgetreten hatte und im Begriffe stand, mit ihren beiden Töchtern in die Stadt zu ziehen. »Ich würde das Mädchen auch niemand weiter überlassen als dir, liebe Mutter«, sagte die junge Frau mit liebevollem Blick. »Ist sie denn aber selbst damit einverstanden, mit mir nach Berlin zu gehen?« »Es scheint, als ob sie es sehr gern tut, denn sie sagte, sie freue sich, ihrer Heimat etwas näher zu kommen.« »Sie ist aus Wildenhain gebürtig?« »Das gerade nicht, sie stammt aus der dortigen Gegend, ich habe sie aber in Wildenhain gemietet, wo sie sich, wie ich glaube, bei Verwandten aufhielt. Sie hat nur für ihre Jugend etwas zu Ernstes; sie hat ja den einzigen Bruder verloren, aber darüber muß man doch wegkommen.« »Mir ist es gerade lieb, wenn ich ein ernstes Mädchen bekomme«, versetzte die alte Frau Scheller, »in Berlin ist die Versuchung so groß, und die Erfahrung, die ich mit meiner letzten Zofe gemacht, gehört nicht zu den besten Erinnerungen.«

Die junge Frau stellte Anna ein sehr gutes Zeugnis aus, und Frau Scheller war so froh, durch die Gefälligkeit ihrer Schwiegertochter zu einem ordentlichen brauchbaren Mädchen gekommen zu sein. Frau Scheller erinnerte Anna mitunter etwas an Frau Brok, doch hatte sie etwas milderes und freundlicheres in ihrem Wesen als diese. Die beiden Töchter waren feine Damen, die sich viel aufwarten ließen, aber im übrigen gut und wohlwollend gegen Anna waren. »Wir müssen dich nun ›Minna‹ nennen«, hatte Frau Scheller am ersten Tage ihres Einzugs in Berlin zu Anna gesagt, »denn da eine meiner Töchter deinen Namen hat, so könnten Verwechslungen entstehen.« – Für Anna gab es viel Neues in der Residenz, aber sie hatte einen schweren Dienst und viel Arbeit, so daß sie nur wenig Zeit übrig hatte, sich in der Stadt umzusehen. Sie hatte zu Vergnügungen keine Lust, Sonntags blieb sie am liebsten daheim oder machte mit dem Mädchen in dem oberen Stock einen Spaziergang. In der Woche vor Pfingsten rief Frau Scheller sie zu sich und eröffnete ihr, daß sie mit ihren Töchtern einer Einladung aufs Land in der Nähe von Berlin Folge leisten würde. Anna habe Erlaubnis, ihre Verwandten zu besuchen, und da sie so gutes Lob von ihrer Schwiegertochter habe, wolle sie ihr das Reisegeld schenken. Schon längst war es Annas Wunsch gewesen, das Grab ihres Bruders wiederzusehen; so beschloß sie, die freien Tage zu einer Reise nach Wildenhain zu benützen.

Die Bäuerin freute sich sehr, Anna wiederzusehen, sie fand sie noch gewachsen und frisch und blühend aussehend. Sie ging mit ihr auf den Kirchhof und zeigte ihr das schöne, geordnete Grab, mit Efeu umpflanzt. Ein schlichtes Holzkreuz trug den Namen und Konfirmationsspruch des Entschlafenen. Hier am Grabe war es, wo Anna Frau Wenzel fragte, ob denn Frau Brok gar nichts von sich habe hören lassen. Die Bäuerin dachte ein wenig nach. »Ja, wir haben so einen Brief da gehabt von der Dame. Sie schrieb nur kurz, sie habe den Brief an die Anna Münz geöffnet, da dieselbe von ihr gegangen und sie nicht wüßte wohin. Es täte ihr leid um den Franz, er sei jedenfalls der Bessere von den Zweien gewesen.« Anna errötete tief und die Bäuerin fuhr fort: »Ich sah es gleich, wie es war. Du hast wohl etwas gehabt mit der Dame? Dann hat man gleich üble Nachrede. Anna, gräme dich doch nicht«, als sie sah, daß Anna mit den Tränen kämpfte. »Du hast ja nun wieder eine gute Stelle, und in Berlin kannst du es noch zu etwas bringen. Ja, siehst du, das ist alles, was ich von der Dame weiß, hier gewesen ist sie nicht.« Anna schwieg, sie wußte nun deutlich, daß Frau Brok nicht nach ihr fragte.

Da sie acht Tage Urlaub hatte, so beschloß sie, ihre Freundin Susanne aufzusuchen, sie hatte ihr versprochen, einmal von sich hören zu lassen. Da sich zufällig eine Fahrtgelegenheit nach jenem Dorfe fand, so benutzte Anna diese gern, um ihr Vorhaben auszuführen. Susanne war herzlich erfreut und bat sie, einige Tage zu bleiben. Dies nahm Anna gern an, es war ihr wohl in dem kleinen Häuschen und bei dem jungen Mädchen, zu dem sie sich sehr hingezogen fühlte. »Morgen«, sagte Susanne, »muß ich zur Stadt, in S. ist Jahrmarkt, da darf ich nicht fehlen. Du kannst mitgehen, Anna, es ist nicht deine Heimat?« »Meine Heimat ist da, wo mein Bruder ruht, in Wildenhain«, sprach Anna traurig. »Ich habe keine Lust auf den Jahrmarkt zu gehen, aber begleiten will ich dich ein gutes Stück, der Weg ist mir wohl bekannt.« Susanne bedauerte, daß Anna nicht mitgehen wollte, aber sie meinte schließlich, es sei ihr auch ganz recht, wenn sie den Vater versorgen wolle. Das versprach Anna, und am andern Morgen früh machte Susanne sich auf. Anna gab ihr das Geleite. O, wie heimatlich ward ihr zumute, als sie in den wohlbekannten Wald kam, als sie wieder das Plätschern des Bächleins vernahm, an dessen Rand sie als Kind oft gesessen. Und da winkten ja wieder die blauen Blümlein, die Vergißmeinnicht, es war die Zeit zum Blühen.

Auf einmal tauchte ihr etwas in der Erinnerung auf. Sie rechnete nach – morgen war Frau Broks Geburtstag. Vor einem Jahr noch hatte sie versprochen, solange sie lebe, solle Frau Brok ihre Blumen haben. Und nun? Ja, sie sollte sie haben, niemand konnte sie daran hindern. Sie bückte sich und pflückte im Weitergehen immer mehr, bis sie einen großen Strauß zusammenhatte. »Was willst du denn mit den Blumen?« rief Susanne, die vorausgegangen war, »willst du sie dem Vater mitnehmen?« »Nein«, sagte Anna verlegen, »ich wollte dich um einen großen Dienst bitten.« »Soll ich sie dir etwa in der Stadt verkaufen?« fragte Susanne lächelnd. »Dann gib her, ich will sie auf dem Markt dem Meistbietenden überlassen.« »Nicht doch«, sagte Anna ernst, »ich wollte dich nur bitten, sie im Hause der Gartenstraße Nr. 4 erster Stock abzugeben, oder, am liebsten wäre mir's, wenn du sie irgendwo hinlegen könntest, daß sie gefunden würden, ohne daß du jemand zu sprechen brauchtest.« »Wie geheimnisvoll«, sagte Susanne und sah Anna forschend an. »Höre, Anna, ich habe dich nie gefragt, wo du herkommst oder wer du bist. Du hast mir gefallen und ich habe dich aufgenommen.« »Wenn du dies ausrichtest«, sagte Anna, »und du kommst morgen heim, will ich dir alles erzählen. Und nun: Glück auf dem Jahrmarkt!« – »Versorge du den Vater gut und die Ziege.« Die Mädchen trennten sich. Susanne ging der Stadt zu. Anna kehrte ins Dorf zurück, froh, daß sie ein Liebeszeichen hatte senden können der, die sie am meisten liebte auf der Welt, und traurig, daß sie nicht selber hineilen durfte und sagen: »Hier bin ich wieder.« Aber vielleicht – vielleicht brachte Susanne gute Kunde. Wenn sich das Geld gefunden, dann durfte sie ja wieder heimkehren.

Kaum konnte sie den andern Morgen erwarten. Als sie alles beschafft, was Susanne ihr aufgetragen, ging sie ihr entgegen. Sie begegnete mehreren Dorfleuten, die auch am gestrigen Tage zu Markt gewesen und, da der Weg weit war, eine Nacht bei Verwandten oder im Gasthof geblieben waren. Susanne war noch nicht zu sehen. Anna kam wieder bis in den Wald, da sah sie Susannes schlanke Gestalt zwischen den Bäumen auftauchen. Wie klopfte Annas Herz, als sie ihr entgegeneilte. Aber Susanne sah sehr ernst aus, gar nicht mehr so freundlich wie gestern. Anna streckte ihr die Hand entgegen und sah sie mit ihren großen, treuen Augen fragend an. »Ich wollte eigentlich böse tun«, sagte Susanne, »aber wenn du mich so ansiehst, kann ich's nimmer. Sag mir nur gleich, ob du die bist, die bei Frau Brok gewesen, und die davongelaufen, weil – sie ihr Geld genommen habe. Die Leute sagen es, ich hätte es auch beinahe geglaubt, aber nun ich dich sehe, glaub ich's nicht mehr.« »Susanne, wir sind hier im stillen Wald, ich will dir alles erzählen, du wirst dann sehen, ob du mir glauben kannst oder nicht.« Und nun fing Anna an zu berichten von allem, was Frau Brok an ihr getan, von frühester Kindheit an, nicht allein an ihr, sondern auch am Bruder, wie ihr Herz stets voll Dankbarkeit und Liebe gewesen, wie da der schreckliche Tag gekommen, an dem das Geld gefehlt und wie Frau Brok geglaubt, sie sei solcher Schlechtigkeit fähig.

Anna erzählte alles so wahrheitsgetreu, daß Susanne nicht einen Augenblick zweifelte an ihrer Aussage, aber dennoch schüttelte sie den Kopf, als Anna schwieg: »Ich kann alles verstehen«, sprach sie, »nur das eine nicht, daß du weggegangen bist. Besser unrecht leiden als unrecht tun. Du hättest mit noch größerer Treue Frau Brok dienen müssen und daneben Gott alle Tage bitten, daß Er die Wahrheit ans Licht brächte, das wäre schöner gewesen.« »Ich hab's auch schon mitunter gedacht, aber ich war so aufgeregt, ich hatte niemand, der mir zur Seite stand.« »Ich hätte es vielleicht auch nicht anders gemacht«, sagte Susanne sinnend, »aber ganz recht ist es doch nicht gewesen. Nun, es ist schwer wieder zurückzugehen, da die Geschichte noch immer nicht aufgeklärt ist.« »Hast du – hast du Frau Brok gesehen?« »Nein, ich habe keinen Menschen gesehen, ich war gegen Abend an der Haustür und fand sie verschlossen. Vorn wollte ich den Strauß nicht hinlegen, da bin ich ums Haus gegangen und hab ihn hinten vor ein Fenster gelegt, da wird die Dame ihn schon finden.« – »O, liebste Susanne, ich danke dir, das ist gerade, was ich auch getan hätte. Ob sie sich wohl freut, wenn sie die Blumen findet, ob sie wohl ahnt, daß sie von mir sind? Nun sage mir noch, wer hat dir das von Frau Brok und mir erzählt?« »Ich war neugierig zu wissen, wer in dem Hause wohnte, wohin ich die Blumen tragen sollte, und fragte meine Bekannte, bei der ich übernachtete, ob sie wüßte, wer Gartenstraße 4 wohne. Sie sagte mir darauf, daß, so lange sie denken könne, eine Frau Brok die Wohnung habe. Ich fragte sie, ob sie die Dame kenne, und erhielt zur Antwort: nur vom Ansehen, sie habe aber etwa vor einem Jahr viel von ihr reden hören. Sie habe ein Mädchen gehabt, der sie viel Gutes getan und dieselbe hat – sie bestohlen.« Anna wurde wieder dunkelrot, und Susanne sagte mitleidig: »Gräme dich nicht so, Gott der Herr wird schon alles wieder zurecht bringen. Und nun wollen wir laufen, daß wir heimkommen.« Anna ging still neben Susanne her, wie eine Bergeslast legte es sich wieder auf ihr junges Herz, daß sie nun völlig geschieden sei von ihrer Wohltäterin. Würde sie sie je wiedersehen? Susanne aber, das treue, ehrliche Mädchen, gewann sie von Herzen lieb, sie mußte ihr versprechen, über alles, was sie ihr anvertraut, zu schweigen. »Und du versprichst mir«, rief Susanne, »daß du mich jedesmal, wenn du in diese Gegend kommst, aufsuchst und etliche Tage bei mir bleibst.«

Mit schwerem Herzen trennte sich Anna von diesem Mädchen; sie hatte doch jemand gehabt, dem sie alles sagen und klagen konnte. Wie innig hatte sie teilgenommen, als sie ihr von dem Tode des Bruders erzählte.

Anna kehrte nach Wildenhain zurück, blieb dort noch einen Tag bei der guten Bäuerin, und dann zog sie schweren Herzens wieder in die Fremde. Der Bauer ließ sie bis zur Bahnstation fahren, von da hatte sie 4-5 Stunden Eisenbahnfahrt und kam wohlbehalten in der Residenz an. Sie fand die Damen schon eingetroffen. Es gab alle Hände voll zu tun, um die Wohnung wieder mit Hilfe einer Frau in Ordnung zu bringen. Es wurde Anna schwer, sich an den Gedanken zu gewöhnen, fortan bei fremden Leuten ihr Brot zu verdienen. Aber sie hatte sich ihr Los selbst gewählt und mußte aushalten. Im stillen hatte sie wohl gehofft, ihre Unschuld werde bald an den Tag kommen, und dann würde Frau Brok Schritte tun, sie wieder zu erlangen. Nun hatte sie im Gegenteil gehört, daß der alte Verdacht noch auf ihr ruhte und daß ihres Namens in der Stadt erwähnt wurde als einer Undankbaren. Aber diese Prüfung mußte ihr dazu dienen, immer demütiger zu werden, und immer treuer und gewissenhafter in der Ausübung ihrer Pflichten. Einmal, so hoffte sie, würde Frau Brok es doch glauben, daß sie ehrlich gewesen, und daß dieser Tag bald kommen möchte, war ihr tägliches Gebet.


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