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6. Eine dunkle Wolke

Sechs Jahre sind vergangen. Anna ist nicht nach Grüntal gekommen, sondern bei Frau Brok geblieben. Sie ist ein stattliches hübsches Mädchen geworden, und wer sie sieht, wie sie im Hause der Frau Brok schaltet und waltet, der merkt, daß der erzieherische Einfluß, den dieselbe geübt, nicht vergeblich gewesen ist. Frau Brok selbst aber hat allmählich gelernt, die Welt von einem andern Gesichtspunkt aus zu betrachten; ihre Stuben und Möbel, ihr Garten und ihre Blumen, kurz alles irdische Wesen, was um sie herum ist und was ihr vordem eitel Sorge und Mühe gemacht hat, ist nicht mehr der Mittelpunkt ihres Lebens, sie hat angefangen mit Ernst zu trachten nach dem, was droben ist. Aber manchen schweren Kampf hat sie zu bestehen, ihre Natur ist eigenartig angelegt. Die Schroffheit und das strenge, etwas mißtrauische Wesen, welches sie äußerlich kennzeichnet, läßt nicht ahnen, welche Tiefe des Gemütes in ihr verborgen ist. Frau Brok hat treu für das angenommene Kind gesorgt und hat sie gut erzogen: aber sie hat einen Fehler begangen, sie hat sie von vornherein als Untergebene behandelt, es ist mehr das Verhältnis einer Herrin zur Dienerin, als das einer Mutter zum Kinde. Dadurch ist das Vertrauen nicht völlig geworden, und es bleibt stets eine Schranke zwischen ihnen aufgerichtet. So kommt es auch, daß Anna immer noch eine gewisse Zurückhaltung und Scheu behalten hat vor der vornehmen Dame, so daß Frau Brok keinen Begriff hat, wie tief und treu die Liebe des Mädchens ist zu der, die sie dem Elend entrissen und ein ordentliches Mädchen aus ihr gemacht hat. Zu Ostern ist sie konfirmiert worden, nun muß sie alle häuslichen Geschäfte, zu denen sonst Frau Sattler kam, selbst verrichten, nur zu den gründlichen Reinigungs- und Waschtagen stellt sich die Alte ein. Franz ist schon vor einem Jahr eingesegnet worden, und da er sich gut geführt, so hat Herr Wendt einen Dienst für ihn gesucht. Er ist in einem entfernt liegenden Dorf bei einem Bauern und verdient sich, was er braucht.

Die Geschwister hängen immer noch sehr aneinander; wenn Franz einmal in die Stadt kommt, besucht er Anna und die beiden sind sehr glücklich miteinander. Frau Brok ist in den Jahren, da Anna noch Kind war, öfter in Grüntal eingekehrt, sie hatte sich oft einen Rat von Herrn Wendt zu holen. Zu Weihnachten aber, wenn die Witterung es erlaubte, waren sie zur Weihnachtsfeier dorthin gefahren. Es war wirklich wie Franz gesagt hatte: ›wunderschön‹. Der vierstimmige Gesang der Lehrer und Kinder im großen Betsaal, die großen, schönen Christbäume, darunter die Krippe mit dem Kindlein, mit Joseph und Maria und den anbetenden Hirten, dann, nach der Andacht, die Bescherung der Kinder im Schulsaal, die Freude und der Jubel derselben, das alles war angetan, die Herzen fröhlich zu machen. Leider war die Zeit nun dahin; Herr Wendt war gestorben, und Franz war fortgegangen. Aber Frau Brok hatte gelernt, im eigenen Heim sich und andern Freude zu schaffen; die alte kleinliche Strenge wurde bekämpft, wenn es galt, etwas Gutes zu tun. Frau Brok waren fröhliche Kindergesichter jetzt ebenso lieb oder noch lieber als blanke Schlösser und blitzende Kannen. Mit der Familie Werter ist sie nach wie vor befreundet; Meta ist seit mehreren Jahren nach auswärts verheiratet; wenn sie mit den Kindern kommt, wird Tante Brok jedesmal besucht, und diese ist nicht mehr so kleinlich, daß sie fürchtet, die Kinder könnten ihre Räume in Unordnung bringen. Zudem ist die flinke Anna da, die bald alles wieder zurechtbringt, wie Frau Brok es gerne hat. Im Hause, im Garten, überall ist sie zu gebrauchen. Wenn Frau Broks Geburtstag kommt, so bittet Anna immer den Sonntag vorher um Erlaubnis, einen Spaziergang machen zu dürfen; dann lächelt Frau Brok und sagt: »Anna, vergiß mich nicht.« Sie weiß, sie kommt mit einem großen Strauß Vergißmeinnicht nach Hause, der am Geburtstagsmorgen auf dem Tisch prangt.

Es war einige Tage nach dem Geburtstag der Frau Brok; Anna hatte eben den schönen Vergißmeinnicht frisches Wasser gegeben und Frau Brok, welche wieder ihre Freude über diese ihre Lieblingsblumen ausgesprochen, versichert, sie sollte jedes Jahr, solange sie lebe, einen Strauß haben, da klopfte es. Frau Werter trat ein mit Meta, der jungen Frau, welche auf einige Tage mit ihren beiden Töchterchen zum Besuch gekommen war. Im Laufe des Gesprächs erzählten sie, wie Herr Werter beabsichtige, morgen Nachmittag einen Ausflug mit ihnen zu unternehmen, wie sie aber die Kinder daheim zu lassen gedächten, da sie erst spät am Abend zurückkehren würden. Frau Brok bat, ihr das fünfjährige Gretchen und das zweijährige Hannchen zu schicken, Anna sollte die Kinder zu rechter Zeit nach Hause bringen. Dies wurde dankbar angenommen.

Am folgenden Nachmittag wurden die Kinder gebracht. Sie waren allerliebst und lebendig. Frau Brok war lange im Garten mit ihnen, dann zeigte sie ihnen Bilder und erzählte dabei. Die Kleinen wurde immer zutraulicher und plauderten viel, Gretchen bewunderte die schöne rote Wolle, welche die Tante auf dem Nähtisch hatte, und fragte sie, ob sie die Wolle wohl wickeln dürfe, sie verstände es gar schön, da sie es für die Mutter schon oft getan. Frau Brok erlaubte dies gern, hatte sie sich doch schon lange mit den Kindern beschäftigt und sehnte sich nach einem Ruhestündchen. Sie ging mit ihnen in die Eßstube, stellte Stühle, legte die Wolle darüber und bald war das Gretchen munter beim Wickeln. Klein Hannchen bekam eine Menge kleiner Bildchen, die ihr auf den Stuhl gelegt wurden, zum Ansehen.

Als Frau Brok eben ins vordere Zimmer zurückgegangen war, kam Frau Baum, die Wirtin. Sie brachte einen Fünfmarkschein, den sie Frau Brok am Morgen beim Wechseln eines Goldstückes schuldig geblieben war. Sobald Frau Brok der Wirtin ansichtig wurde, fiel ihr ein, daß es gestern beim Gewitter oben in der Kammer durchgeregnet hatte. Sie wollte es Frau Baum zeigen, und da die Kinder ruhig im Eßzimmer beschäftigt waren, ging sie mit ihr hinauf, ihr den Schaden zu zeigen. Sie rief vorher Anna zu, sie möchte zu den Kindern gehen; da diese aber gerade eine notwendige Arbeit unter den Händen hatte, verstrichen etwa zehn Minuten, bevor sie dem Befehl nachkommen konnte. Gretchen wickelte eifrig; nun hatte sie ein Paket Wolle fertig, und vor Eifer glühend, legte sie das zweite um den Stuhl. Die Kleine war unbeachtet durch die angelehnte Tür ins Nebenzimmer getrippelt. »Mehr Bilder«, sagte sie und sah suchend umher. Das kleine Menschenkind konnte gerade auf den Tisch gucken. Da – mehr Bild! – Sie griff nach etwas, das einem Bilde ähnlich war, lief wie ein kleiner Vogel zurück, ergriff ein Stückchen Zeitungspapier und wickelte das Bild hinein, wie sie es mit den andern Bildern aus Kurzweil getan. Jetzt drehte sich Gretchen eifrig um, sah das Papier in der kleinen Hand und rief: »Hannchen, gib mir das.« In einem Nu hatte sie es zusammengekniffen, und hurtig wurde es als Unterlage zu dem neuen Wollknäuel genützt. Bald sah man nichts mehr davon, die schöne rote Wolle bedeckte alles. Das kleine Hannchen stand wieder an ihrem Stuhl und packte nun die kleinen Bilder, die sie alle in Blättchen von Zeitungspapier gewickelt, wieder aus.

Nun kam Anna durch die vordere Stube zu den Kindern und lachte und schäkerte mit der Kleinen, bis Frau Brok mit der Wirtin die Treppe hinunter kam. »Das Geld habe ich auf den Tisch gelegt, Frau Brok, Sie haben es doch weggenommen.« »Nein«, versetzte diese, »aber ich will es gleich an mich nehmen.« Sie betrat das Zimmer, sah den runden Tisch vor sich, aber nichts darauf. »Liebe Frau Baum, wohin legten Sie das Geld?« Frau Baum kam noch einmal zurück, zeigte mit der Hand auf den Tisch und versicherte, den Schein dorthin gelegt zu haben, Frau Brok müsse es gesehen haben. »Ja, ich erinnere mich – aber – es müßte doch hier sein.« Sie suchte unter dem Tisch überall in der Stube; Frau Baum schien es sehr unangenehm zu sein. »Hätte ich es Ihnen doch in die Hand gegeben!« »Ich lasse nie Geld liegen«, versetzte Frau Brok unruhig.

Unterdessen hatte Frau Baum die Tür des Nebenzimmers geöffnet, worin Anna und die Kinder sich befanden. »Anna«, sagte sie, »sind Sie vorne in der Stube gewesen?« »Ja, ich brachte den Blumen frisches Wasser und ging dann zu den Kindern.« »Hast du Geld, einen Papierschein, auf dem Tisch liegen sehen?« fragte Frau Brok. »Nein – es kann sein – nein, ich habe gar nicht nach dem Tisch gesehen.« »Kinder, seid ihr im vorderen Zimmer gewesen?« »Nein«, sagte Gretchen entschieden, »ich habe immer Wolle gewickelt und Hannchen hat an ihrem Stuhl gespielt.« Gretchen hatte mit ihrer Wolle am Fenster gestanden, mit dem Gesicht dorthin gewendet, und hatte in ihrem Eifer nicht bemerkt, daß die Kleine wirklich einen Augenblick in der Nebenstube gewesen war. Anna half auch suchen, bis Frau Brok, plötzlich nach der Uhr sehend, sagte: »Die Kinder müssen nach Hause gebracht werden, ich habe es versprochen. Anna, begleite sie und übergib sie dem Kindermädchen. Komm, so bald du kannst, zurück.« Nachdem Frau Brok die Kinder noch mit allerlei niedlichen Sachen erfreut hatte, wurden sie entlassen. Frau Brok schien über das Verschwinden des Geldes sehr verstimmt, es war ihr nie vorgekommen, daß sie unachtsam war, wenn ihr Geld übergeben wurde; wie dumm, daß sie es nicht gleich zu sich steckte!

Als Anna mit den Kindern fort war, steckte Frau Baum wieder den Kopf zur Tür herein. »Frau Brok«, sagte sie geheimnisvoll, »passen Sie nur dem Mädchen auf!« »Welchem Mädchen? Sie wollen doch nicht sagen –« »Daß Anna sich das Papierchen angeeignet hat. Eine günstige Gelegenheit. Sahen Sie nicht, wie verlegen sie wurde? Art läßt nicht von Art. Denken Sie nur, von welcher Familie sie stammt. Das steckt einmal drin, und das bringen Sie auch nicht heraus.« »Ich habe nie bemerkt, daß Anna mir das Geringste genommen hat; im Anfang hat sie mitunter genascht, auch wohl die Wahrheit zu verbergen gesucht, aber das ist längst vorüber. Sie kennt den Unterschied zwischen Recht und Unrecht und strebt dem Guten nach.« – »Mir kann's ja gleich sein«, sagte Frau Baum in gereiztem Ton. »Sie haben dem Mädchen bis jetzt keine Gelegenheit gegeben, da Sie immer vorsichtig mit dem Gelde sind. Aber, sie ist nicht so, wie Sie denken. Das eitle Närrchen putzt sich gern. Gestern erzählte sie mir, sie habe in einem Laden der Stadt so schöne Broschen liegen sehen, eine habe ihr sonderlich gefallen, die hätte sie kaufen mögen, aber sie wäre mit fünf Mark ausgezeichnet gewesen.« »Anna kauft sich nichts, ohne mich darum zu fragen. Wir wollen die Angelegenheit ruhen lassen. Sie haben mir das Geld gegeben, Frau Baum, damit gut.« »Nun, wenn Sie nur das wissen, dann bin ich zufrieden. Daß Sie nur nicht denken, ich habe das Geld nicht abgeliefert.« Damit ging die Frau, und wenn Frau Brok auch nicht glauben mochte und wollte, was sie ihr in die Ohren geblasen, einen Stachel ließ es doch zurück.

Als Anna zurückkam, fand sie Frau Brok wieder suchend. Es wurde den ganzen Abend gesucht, vor und nach dem Abendbrot, aber gefunden wurde nichts. »Wie hübsch das Gretchen die Wolle gewickelt hat«, sagte Frau Brok, »mir ist nur alle Lust zum Stricken vergangen.« Hiermit nahm sie die beiden Wollknäuel und packte sie in den Eßschrank. »Anna, es ist doch niemand ins Haus gekommen, während ich mit Frau Baum oben war?« »Niemand«, war die Antwort. »Und du weißt wirklich nicht, wo das Geld hingekommen ist, Anna, du bist die Einzige, die in der vorderen Stube gewesen ist, du mußt es wissen.« Sie sah sie mit dem strengen Blick an, der ihr eigen war, und plötzlich ging Anna eine Ahnung auf, welchen Verdacht Frau Brok hegen konnte. »Sie denken doch nicht, daß ich – –« stotterte Anna erschrocken. »Ich will es nicht denken, mein Kind, ich hoffe, du sagst mir stets die Wahrheit.« »Ich nehme kein Geld«, sagte Anna trotzig, »ich nehme Ihnen überhaupt nichts.« Nach einer Weile fügte sie hinzu: »Es ist vielleicht, als ich die Tür aufmachte, durch den Luftzug vom Tisch geflogen –« »Dann müßte es hier sein, müßte sich irgendwo gefunden haben. Wir wollen die Sache ruhen lassen, wollen morgen, bei Tage, alles noch einmal durchsuchen, und wenn sich's nicht findet – den Wert des Geldes will ich gern verschmerzen, aber zu denken –« Sie vollendete den Satz nicht, aber auf Anna legte sich ein schwerer Druck, der nicht wieder von ihr weichen wollte.

Sie sprachen nicht mehr viel zusammen den Abend. Anna besorgte ruhig ihre Arbeit, aber als sie in ihrem Kämmerlein lag und alles still um sie her war, da schluchzte und weinte sie bitterlich. Frau Brok aber dachte: »Wenn die Versuchung sie übermannt haben sollte, so kommt sie gewiß morgen und bekennt es.« Aber Anna konnte nicht bekennen, was sie nicht getan, und als am folgenden Tage wieder jedes Eckchen durchsucht worden, jedes Blättchen umgewendet, jede Decke aufgehoben, da bemächtigte sich ihrer eine große Mutlosigkeit. Sie merkte es zu gut, daß Frau Brok Mißtrauen hatte, diese war verstimmt. Anna war stiller als gewöhnlich, es hatte sich ein Schatten zwischen sie und ihre Herrin gestellt. Am Abend vor dem Zubettgehen sagte Frau Brok plötzlich: »Nun, Anna, wir wollen vergessen, was zwischen uns liegt.« Sie reichte ihr die Hand. »Glauben Sie mir, daß ich das Geld nicht genommen habe?« »Ich will dir's glauben, und nun sei wieder munter und vergnügt und laß die Sache ruhen.«

Frau Brok war entschlossen, gegen Anna nichts mehr zu erwähnen, aber zu ihrer eigenen Beruhigung wollte sie, wenn Anna abwesend sei, deren Stube untersuchen; fände sie nichts, was auf ihre Ehrlichkeit einen Schatten werfen konnte, so wollte sie ihr wieder Vertrauen schenken. Am andern Morgen wurde Anna in die Stadt geschickt; als sie eine Weile fort war, begab sich Frau Brok in das Stübchen, welches sie Anna, seit sie erwachsen war, eingeräumt hatte. Sie sah sich prüfend darin um und ging an die Kommode. Sie zog das oberste Fach auf und nahm die Sachen auseinander. Dort lag das Portemonnaie, sie wollte eben danach greifen, da hörte sie ein Geräusch hinter sich. Sie sah, wie Anna totenbleich in der Tür stand, gleich darauf aber verschwand. »Anna«, rief sie, aber Anna war wieder fort. Es war ein Regenguß gekommen, deshalb war sie wieder umgekehrt, um sich ihren Schirm zu holen.

Frau Brok fühlte, daß es nicht richtig gewesen, nachdem sie dem Mädchen versprochen, ihr zu glauben, in ihrem Mißtrauen zu beharren; sie ahnte aber nicht, wie tief sie das Mädchen damit verwundet hatte. Anna war den ganzen Tag über sehr still und in sich gekehrt. Sie machte ihre Arbeit, vermied aber absichtlich, mit Frau Brok zusammen zu sein. Sie war viel in ihrer Stube beschäftigt, aber Frau Brok beachtete es nicht. Diese war durch die Aufregungen der vorhergehenden Tage recht angegriffen und schlief die Nacht besser als gewöhnlich. Sie erwachte erst, als die Sonne hell und freundlich ins Zimmer schien. Sie hatte es ja auch gut; wenn sie aufstand, war der Kaffee fertig, die Stuben blank. Sie wollte nun das alte Mißtrauen zu überwinden suchen und sich von niemand mehr etwas einreden lassen. Die ungewöhnliche Stille im Hause fiel ihr auf. Sonst ertönte mitunter schon Annas helle Stimme in der Küche, wo steckte sie heute? Als Frau Brok ins Eßzimmer kam, war der Kaffeetisch gedeckt, alles stand bereit, aber keine Anna kam mit freundlichem Morgengruß, wie sie es gewohnt war. Frau Brok glaubte immer noch, das Mädchen sei mit einer Arbeit beschäftigt im Garten oder sonstwo, und habe ihr Kommen überhört. Als aber die Stunde vergangen war und sich nichts regte, da überkam sie ein seltsames Gefühl der Angst. Sie ging in Annas Stube, als ob dort Aufklärung zu finden sei. Nach einigen Minuten war die Lösung da. Auf dem Tisch lag ein Zettel mit den wenigen, inhaltschweren Worten: »Seien Sie mir nicht böse, wenn ich Sie verlassen habe. Solange Sie mich für eine Diebin halten, kann ich nicht unter einem Dache mit Ihnen leben. Ich vergesse nie, was Sie an mir getan haben. Anna Münz.«

Es war Frau Brok einen Augenblick, als ob alles in ihr stockte. Das war also das Ende von der Geschichte. Verlassen von dem Mädchen, das ihr immer mehr eine treue Stütze ihres Alters werden sollte. Und warum? Wegen dieses unglücklichen Fünfmarkscheins! Ja, das Mädchen hatte ein sehr zartes Gewissen – oder sie hatte es genommen und schämte sich, es einzugestehen. Sie hatte nur das Notwendigste mitgenommen, aber der Konfirmationsspruch, der sonst über ihrem Bett hing, war verschwunden; daß sie den mitgenommen, war kein schlechtes Zeichen. Was sollte sie glauben! Sie war in letzter Zeit so glücklich gewesen in Annas Besitz, warum mußte diese schwere Prüfung über sie hereinbrechen! Was würden die Leute sagen? Und Frau Baum? Da lugte sie schon in die Stube. »Wo bleibt denn die Anna heute?« fragte sie neugierig. »Meine Anna kommt nicht wieder«, erwiderte Frau Brok mit zitternden Lippen. »Hätten Sie mir nicht zuerst Mißtrauen eingeflößt, ich selbst wäre gar nicht darauf gekommen, Anna für eine Diebin zu halten.« »Es ist ja der beste Beweis dafür, daß sie fortgelaufen ist. Hätte sie ein gutes Gewissen, so wäre sie ruhig geblieben«, versetzte Frau Baum. »Ich muß sehen, wie ich allein fertig werde«, versetzte Frau Brok kurz; sie wünschte, die Frau möge sie verlassen. Frau Baum merkte es und ging ihrer Wege. Frau Brok aber zog sich in ihre Gemächer zurück und weinte bitterlich.


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