Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

7. Die Heimat der Seele ist droben im Licht

Als Anna Frau Brok in ihrer Stube fand, damit beschäftigt, ihre Sachen zu untersuchen, da war es wie ein Schwert durch ihre Seele gegangen. Die Frau, welche sie so hoch verehrte und liebte, der sie ihr ganzes Leben in Dankbarkeit widmen wollte, sie traute ihr nicht mehr! O, sie konnte es nicht ausdenken, wie das enden sollte. »Fort, fort von hier, wo man dich für eine Diebin hält«, so tönte es in ihr. In großer Aufregung, die sie jedoch äußerlich verbarg, suchte sie nur wenige Habseligkeiten zusammen, am nächsten Morgen in aller Frühe wollte sie das Haus verlassen. Sie lag die ganze Nacht wach. Sollte sie bleiben? Sollte sie ruhig alles über sich ergehen lassen? Nein, wenn die Leute mit Fingern auf sie zeigen würden und sich zuflüstern: Sie hat ihrer Wohltäterin Geld weggenommen, das würde sie nicht überleben. Lieber fort, dann hörte sie nicht, was die Leute sagten. Und Frau Brok? Nun, sie würde sich Frau Sattler wieder nehmen und alles würde sein, wie es vorher gewesen. Wenn sie ihr diese Schlechtigkeit zutraute, konnte sie sie nicht lieb haben. Und ihre Liebe zu Frau Brok war doch so groß. Sie hatte es ihr freilich nie zu zeigen gewagt, konnte nicht viele Worte machen, aber durch die Tat hatte sie es fort und fort beweisen wollen – nun war alles dahin.

Als es zu tagen begann, stand sie leise auf, besorgte ihre Obliegenheiten mit größter Gewissenhaftigkeit, und bald nach vier Uhr schlüpfte sie durch die Hintertür ins Freie. Sie brauchte nicht zu bedenken, daß Frau Baum sie bemerkte, diese liebte das Frühaufstehen nicht sonderlich, und auch die Nachbarn lagen noch in tiefstem Frieden. Es war ein wunderschöner Sommermorgen, der Tau lag auf den Gräsern und blitzte wie tausend Diamanten in der Morgensonne. Sie warf noch einen Blick zurück auf Haus und Garten und wanderte zur Stadt hinaus, wieder das heimatlose, einsame Waisenkind, das sie früher gewesen. Eine tiefe Traurigkeit lag auf ihrem jungen Gesicht, sie war wie eine vom Frost getroffene Blume. Sie war schon ein gutes Stück gegangen, als sie stillstand und sich fragte, wohin? Die Antwort lag bei der Frage. Wohin wohl anders als zu dem Bruder, der nun ihr Ein und Alles war, was sie auf der Welt besaß. Ihm wollte sie alles klagen, mit ihm beraten, was sie tun solle, er war verständig und gut, er würde sicher das Rechte treffen. Das Dorf, wo er in Diensten stand, lag aber mehrere Meilen entfernt, sie würde es heute nicht erreichen können, vielleicht fand sie in einem andern Dorf Unterkunft für die Nacht, und morgen ist Sonntag, da konnte sie mit dem Bruder länger zusammen sein. Im ersten Dorfe wagte sie noch nicht Rast zu machen, sie war manchen Leuten bekannt, und es könnte von ihrer Flucht in der Stadt erzählt werden. Sie ging eilig die Dorf Straße entlang und schritt dem nahe hinter dem Dorf gelegenen Walde zu. Hier suchte sie ein stilles Plätzchen, wo sie oft als Kind mit Bruder Franz gesessen und verzehrt, was ihnen die freundlichen Dorfbewohner gespendet hatten. Nun war alle Fröhlichkeit dahin, sie hatte die Bitterkeit des Lebens gekostet, dunkel lag die Zukunft vor ihr.

Sie öffnete den Korb, welchen sie mitgenommen, obenauf lag ihr Konfirmationsspruch, der sollte sie begleiten auf ihrer Wanderung. Er lautete: »Der Herr behüte dich vor allem Übel, Er behüte deine Seele.« Sie mußte wieder weinen, als sie ihn las, sie hatte am Konfirmationstag gelobt, sich zu hüten vor allem Bösen, und nun sollte sie ein so großes Übel getan haben. Und wenn sie dann unschuldig war, tat sie nun nicht Unrecht, daß sie davongegangen war? Sie wußte selbst noch nicht, ob es recht oder unrecht war; umkehren konnte sie nicht wieder. Sie bat Gott, sie nicht zu strafen, daß sie ihre Herrin verlassen, sie bat Ihn, sie auf rechter Straße zu führen. Die Wipfel der Bäume rauschten leise, das Bächlein murmelte und sprudelte, sie wurde so müde, daß sie einschlief. Als sie erwachte, war der Tag weit vorgeschritten, sie raffte sich schnell auf, um noch vor Abend ins nächste Dorf zu kommen. Dort war sie fremd, sie hatte eher Mut, um ein Nachtlager zu bitten.

Lange mußte sie wandern, bevor sie dasselbe erreichte; als sie eben die Dorfstraße betrat, kam ein junges Mädchen, etwas älter als sie, mit einem Korb Gras auf dem Rücken hinter ihr her. »Sie sind hier wohl fremd?« fragte sie teilnehmend, da sie merkte, wie Anna fremd und verlegen um sich sah und zögernd stehen blieb. »Ist hier ein Gasthof, in dem man übernachten kann?« fragte sie. »Einen Gasthof gibt es hier wohl«, war die Antwort, »aber es sind immer viele fremde Fuhrleute und andere durchreisende Männer dort. Wenn Sie bei uns vorlieb nehmen mögen, ein übriges Bett hätte ich schon. Sie sehen müde aus und müssen weit gewandert sein«, fügte sie mitleidig hinzu. Anna bejahte dies und nahm das Anerbieten dankbar an. Sie gingen bis ziemlich an das Ende des Dorfes, da lag ein kleines, weinumkränztes Häuschen von blühenden Malven und Rittersporn umgeben; ein älterer Mann saß draußen auf der Bank und schnitzte. »Susanne, du bleibst recht lange«, sagte er, »die Ziege und ich warten mit Schmerzen auf dich.« Susanne hieß Anna in die Stube gehen und erklärte dem Vater, daß sie einen Nachtgast mitbrächte.

Dann ging sie, ihre Ziege zu melken und brachte dem fremden Mädchen ein Glas schäumender Milch. Sie setzte Brot und Butter daneben mit der freundlichen Bitte, es sich wohl schmecken zu lassen. Da Anna fast den ganzen Tag nichts genossen hatte, nahm sie es dankbar an und fühlte sich danach etwas frischer. Nachdem die flinke Susanne den kleinen Hausstand besorgt hatte und das Abendbrot für den Vater aufgetragen war, rückte sie vertraulich zu Anna und sagte: »Nun mußt du mir erzählen (ich nenne dich lieber du, wir Mädchen sind es so gewohnt untereinander), wo du herkommst und wohin du willst.« Anna sagte ihr, sie wolle ihren Bruder besuchen, der in Wildenhain diene. Sie habe das Dorf heute nicht mehr erreichen können und sei sehr froh, daß sie hier bleiben dürfe. Susanne teilte ihr mit, daß sie dies Häuschen mit dem Vater allein bewohne, die Mutter sei schon mehrere Jahre tot und die Brüder seien zerstreut in der Welt. Dann führte sie Anna oben hinauf in das Dachkämmerlein, in dem ein schönes Bett zur Ruhe einlud.

Als Anna allein war, dankte sie Gott, der so treu für sie gesorgt; sie dachte in Wehmut der Frau Brok, die sie so lieb hatte und der sie so gerne gedient hätte. Sie bat Gott, Er möge sie schützen und behüten und helfen, daß die Wahrheit an den Tag käme. Am andern Morgen machte sie sich früh auf den Weg, nachdem sie ihrer freundlichen Wirtin gedankt für das schöne Nachtlager, welches sie ihr bereitet hatte. Susanne packte ihr von dem kräftigen Brot und dem schönen Käse ein und bat sie, wenn sie wieder durch das Dorf komme, nicht zu vergessen, bei ihr vorzusprechen.

Nun wanderte sie wieder über Berg und Tal, fragte sich hier zurecht und dann da, und endlich zu Mittag war sie so weit, daß ein Bauer, der ihr begegnete, ihr sagen konnte: »Wenn du auf den Berg da drüben hinaufkommst und schaust hinunter in das Tal, da liegt vor dir ein Dorf mit einer schönen Kirche, das ist Wildenhain, was du suchst.« Anna eilte, denn der Himmel war dunkel und trübe, hin und wieder fielen schon einige Regentropfen. Als sie oben auf dem Berg angelangt war, sah sie das große Kirchdorf vor sich liegen. Nun bin ich endlich so weit, dachte sie und setzte sich auf einen Stein, um auszuruhen, da sie vom Steigen erhitzt und müde war. Da begann es im Tale zu läuten, voll und kräftig setzten die Glocken ein, es waren aber keine Sonntags-, sondern Sterbeglocken, Anna kannte den Unterschied wohl. Sie klangen laut und feierlich zu ihr hinauf und erfüllten ihr Herz mit unendlicher Traurigkeit. All ihr Jammer und ihr Schmerz brach hervor, sie weinte zum Herzbrechen. Endlich ermannte sie sich und ging weiter. Aber es war, als hätte sie Blei an den Füßen, es lag ein Druck auf dem Gemüt, der nicht weichen wollte, je näher sie dem Dorfe kam, um so deutlicher hörte sie den Gesang der Schulknaben vom Gottesacker her; sie kannte die Melodie und das Lied. Es war: Jesus meine Zuversicht. Wen mochten sie wohl begraben? Nun war es still. Sie schritt rüstig vorwärts, indem sie sich selbst Mut zusprach nicht zu verzagen, sondern sich nur auf den Bruder zu freuen, den sie lange nicht gesehen.

Als sie endlich das Dorf erreicht hatte, sah sie junge Burschen und Mädchen gruppenweise beieinander stehen, wie es Sonntags immer zu sein pflegt. Aber es herrschte keine laute Fröhlichkeit, die Unterhaltung war ernst und gehalten. Sie kamen augenscheinlich vom Begräbnis. Sollte ein junges Menschenkind schon zur Ruhe gebracht sein? Als sie, die Fremde, an den jungen Leuten vorüber kam, ging ein Flüstern durch die Reihen. Sie hörte deutlich die Worte: »Das ist gewiß seine Schwester?« Eine andere Stimme antwortete darauf: »Wie kannst du das denken! Sie hat ja kein schwarzes Kleid an.« Sie war durch diese Worte wie vom Blitz getroffen. »Sollte?« – – – nein, es war unmöglich! Es konnte nicht sein!

Sie wollte schon längst nach dem Bauern Wenzel fragen, ihr erstarb das Wort auf der Zunge. Einmal kam ein mitleidiges Mädchen auf sie zu und fragte: »Suchen Sie jemand?« Da quollen ihr ein paar dicke Tränen aus den Augen und sie sagte: »Ich suche meinen Bruder Franz, er dient beim Bauern Wenzel.« Das Mädchen sah sie mit einem unendlich traurigen Blick an und sagte: »Der Bauer wohnt dort in dem großen Hause, wo beide Haustüren geöffnet stehen.« Sie sah das Haus und die weitgeöffneten Türen und wankte darauf zu, dann vernahm sie wieder das Geflüster hinter sich: »Es ist seine Schwester, aber sie weiß es noch gar nicht.«

Als sie sich mühsam bis zum Hause geschleppt hatte, sah sie eine wohlhäbige, gutmütig aussehende Frau in schwarzer Tracht auf dem Hausflur stehen. Sie nahm sich eben ihr Kirchentuch ab und legte es zusammen. Als sie das fremde, bleiche Mädchen auf sich zukommen sah, rief sie: »Ist das die Schwester von Franz? Du armes Kind, konntest du denn nicht etwas früher kommen, wir haben eine ganze Stunde auf dich gewartet. Ich habe doch den Brief zeitig genug abgeschickt, wir haben dich gestern abend schon erwartet.«

Anna machte die Augen weit auf und starrte sie an. »Kind, sieh nicht so angstvoll aus; ich habe ja alles geschrieben, daß der Franz, der immer schwächlich war, plötzlich krank wurde. Wir haben gleich zum Arzt geschickt, aber der schüttelte von Anfang an den Kopf und gab keine Hoffnung. Am Donnerstag abend ist er eingeschlafen, und eben haben wir ihn begraben. Wir haben ihm ein schönes Begräbnis gegeben, denn er war brav und hat sich so gut geführt. Nur sehr schwächlich war er, er konnte nicht viel ausrichten. Der Doktor sagte, das müsse schon von früher her sein. Aber Kind, was ist dir?« rief sie, als Anna totenbleich auf den Stuhl sank. »Hast du denn den Brief nicht erhalten, hast du nichts gewußt?« Anna schüttelte nur den Kopf, sie konnte nicht sprechen, nicht denken, es war, als ob alles im Kreise mit ihr herumginge. Nun kam auch der Bauer hinzu. »Bring doch das arme Mädchen zu Bett, sie stirbt dir auch noch unter den Händen«, sagte er. Die Frau winkte einer Magd, sie griffen Anna unter die Arme und legten sie in der anliegenden Kammer auf ein Bett. Anna ließ alias willenlos geschehen, sie fühlte keine Kraft in sich. Die Bäuerin war eine gute Frau; sie setzte sich neben sie, strich mit der Hand leise über ihr Gesicht und sagte nur von Zeit zu Zeit: »Armes Kind!«

Nach einer Viertelstunde ermannte sich Anna so weit, daß sie fragen konnte: »Wußte er, daß er sterben würde?« – »Freilich wußte er's! Ach, und wie schön hat er gebetet, wie viel Sprüche und Lieder konnte er auswendig, das alles, sagte er, hätte er in Grüntal gelernt. Das muß eine gute Anstalt gewesen sein.« »Ja, und sie hat ihn dorthin gebracht, alles verdanken wir ihr!« schluchzte Anna. Die Bäuerin wußte nicht, wen sie meinte, wollte auch nicht fragen, da das Mädchen ganz erschöpft war. Sie beantwortete ihr nun in liebevoller Weise ihre Fragen nach dem Bruder, nach seiner letzten Krankheit, nach den letzten Stunden. Endlich erhob sie sich. »Ich glaube, ich kann jetzt«, sagte sie. »Was willst du, meine Tochter?« »Ich möchte – ich möchte sehen – wo Sie ihn hingebettet haben.« »Nicht eher, als bis du ein wenig Speise zu dir genommen«, sagte die Bäuerin. Sie brachte ihr einen Teller kräftiger Fleischsuppe vom Mittag und ruhte nicht, bis Anna gegessen. Dann reichte sie ihr den Arm und führte sie langsam nach dem Gottesacker, wo ein frisch aufgeworfener Hügel die Stelle bezeichnete. Nun brach der Jammer mit aller Macht los, sie warf sich auf den Hügel und rief: »Franz, Franz, warum hast du mich nicht mitgenommen, wir sind doch sonst immer zusammen gewandert. Wie gerne wäre ich mit dir gegangen!« Dann schluchzte und weinte sie so, daß auch der Bäuerin Tränen wieder flossen. Endlich ermannte sich diese, sie richtete Anna auf und sagte: »Laß ihn in Frieden ruhen. Gott der Herr macht es immer gut, was er tut, das ist wohlgetan. Komm nur mit mir, ich will dir zu Hause noch von deinem Bruder erzählen, er hat auch etwas für dich hinterlassen.« Mit diesen Worten zog sie sie sanft vom Grabe fort und ging mit ihr dem Hause zu.

»Wenn du einige Tage von Hause fort sein darfst, so bleibst du bei uns. Erlaubt es deine Frau?« »Ich habe keine Herrin mehr«, sagte Anna traurig, »ich bin nicht mehr, wo ich war.« »Armes Kind«, sagte die Bäuerin wieder. Sie wußte wohl, daß Franz und Anna Waisenkinder waren, hatte auch gehört, daß Anna bei einer älteren Dame sei. Sie glaubte nun, ihr sei, wie es oft vorkommt, gekündigt, und forschte nicht genauer nach den Verhältnissen, was Anna sehr lieb war. Der Abend im Bauernhause blieb Anna stets im Gedächtnis, die Dienstboten waren alle so gut gegen sie, der Bauer zeigte auch sein Mitleid, indem er ihr in seiner derben Art Worte des Trostes sagte. Abgemattet an Leib und Seele, war sie sehr der Ruhe bedürftig, und als sie von der Bäuerin in ein oberes ruhiges Stübchen zu Bett gebracht war, da flossen zwar zuerst noch wieder schmerzliche Tränen, aber dann senkte sich der wohltätige Schlaf hernieder und sie vergaß für einige Stunden allen Kummer, alles Weh der letzten Tage.

Am andern Morgen erwachte sie von dem Klappern der Milchgefäße, vom Stampfen der Pferde, die von den Knechten angeschirrt wurden, und den lauten Stimmen der Mägde. Sie konnte sich gar nicht besinnen, was das zu bedeuten habe, endlich kam die Erinnerung alles Erlebten über sie. Sie zog sich schnell an und ging hinunter zur Bäuerin, ihr auch ihre Dienste anzubieten. »Du wirst wohl nicht zu unserer Arbeit taugen, meine Tochter«, sprach die Bäuerin, »aber mein Mann und ich haben schon gestern gesagt, wir wollen uns erkundigen, ob du vielleicht bei der Herrschaft im Schlosse einen Dienst bekommen kannst, denn du suchst doch einen solchen, nicht wahr?« Anna sagte, daß sie sehr froh sein würde, wenn sie bald eine Stelle fände, sonst wolle sie nach Berlin gehen und dort etwas suchen. Die Bäuerin meinte, sie könnte bei ihr bleiben, so lange sie wolle.

Wehmütig war es Anna, als sie in des Bruders Kammer geführt wurde. Dort übergab die Bäuerin ihr sein Vermächtnis. Es war seine Bibel, sein Gesangbuch und sein Konfirmationsbuch. »Sagt der Anna«, waren seine Worte gewesen, »sie solle diese Bücher in Ehren halten, ich habe daraus gelernt, wie man gottselig leben und fröhlich sterben kann.« »Er ist so gern gestorben«, fügte die Bäuerin hinzu, »es war für uns alle erbaulich, sein Ende zu sehen. Der Herr Pfarrer sagt es selbst, es wäre eine Freude gewesen mit dem jungen Menschen. Und hier«, rief die Frau, »ist noch etwas. Sein zuletzt verdientes Geld sollte seine Anna haben, es werden elf oder zwölf Mark sein. Er gab mir die Adresse, wohin ich schreiben sollte, und das hab ich am Freitag gleich getan, obwohl mir das Schreiben sehr sauer fällt. Ich glaube, die Frau hieß Bruck.« »Frau Brok«, versetzte Anna sinnend. Sie dachte eben, was Frau Brok wohl gesagt zu dem Brief, ob sie ihn geöffnet habe, oder, weil er an Anna adressiert war, ungeöffnet hatte liegen lassen. »Die Sachen von Franz und was er sonst gehabt, verkaufen wir wohl am besten und aus dem Erlös –« »Setzen wir ihm einen Denkstein«, fiel Anna ein, »ich gebe dazu, was noch fehlt. Außer seinem Namen soll noch sein Konfirmationsspruch daraufstehen: ›Ich habe dich je und je geliebet, darum habe ich dich zu Mir gezogen aus lauter Güte.‹«

Als Anna am Abend vom Kirchhof kam, saß ein nettgekleidetes Mädchen bei der Bäuerin. »Anna, du sollst gleich aufs Schloß kommen, es ist ein schöner Dienst für dich in Aussicht.« »Ja, vorausgesetzt«, sagte die Zofe, »daß Sie alles können, was von Ihnen verlangt wird. Es ist eine junge Frau bei uns zu Besuch, die sich aus hiesiger Gegend ein Mädchen nehmen will, wenn Sie also Lust haben, können Sie mich begleiten.« Anna blieb keine Wahl. Ihr lag alles daran, so bald wie möglich eine Stelle zu finden, sie ging also mit aufs Schloß, wo sie alsbald zur Herrin gerufen wurde. Die Freundin derselben war an einen reichen Gutsbesitzer in Posen verheiratet und hier einige Zeit zum Besuch gewesen. Sie sah sich das junge Mädchen von oben bis unten an. »Dies ist also das Mädchen, von dem Marie sagte. – Sagen Sie, mögen Sie denn so weit von Ihren Eltern fortgehen, ich wohne etwa vierzig Meilen von hier.« »Ich habe keine Eltern und Angehörige«, versetzte Anna. »Nun, dann ist es gut. Es ist mir um so lieber. Haben Sie schon gedient?« »Ich war immer bei einer alten Dame, die mich erzogen hat.« »Ach so, die für Kleider und Schulgeld gesorgt hat. Und nun, da Sie erwachsen sind, sollen Sie sich selbst etwas verdienen. Haben Sie denn ordentlich etwas gelernt? Können Sie waschen, bügeln, nähen und stopfen, können Sie Zimmer reinigen?« Anna konnte es der Wahrheit gemäß bejahen. »Die Bäuerin lobte sie ja sehr«, flüsterte die Schloßherrin, »mir gefällt das Mädchen, viel Auswahl hast du hier nicht, nimm sie nur.« »Ich will es mir bis morgen überlegen«, sagte die junge Frau. »Überlegen Sie es sich auch.« Aber schon am Abend ließ sie durch die Zofe Marie sagen, wenn Anna Lust habe, den Dienst anzunehmen, sollte sie sich bis Montag bereit halten.

Es kam alles schneller, als Anna gedacht, es war ihr nicht leicht, in die weite Ferne zu gehen. Doch hier bleiben konnte sie nicht, zurück mochte sie nicht, also blieb ihr nichts übrig, als die ihr gebotene Stelle anzunehmen. Frau Brok war es vielleicht ganz lieb, daß sie freiwillig gegangen war, da sie doch das Vertrauen zu ihr verloren hatte. Sie bat Gott, ihr zu vergeben, wenn sie Unrecht getan mit ihrer Flucht, Er solle sie segnen und ihr helfen, daß sie treu sein möchte an der neuen Stelle.

Die gute Bäuerin suchte noch manches hervor aus ihren Koffern, was Anna gebrauchen konnte, sie schenkte ihr Wäsche und Kleidungsstücke, da Anna vieles, was ihr gehörte, hatte zurücklassen müssen. Nachdem sie noch einmal an des treuen Bruders Grab gewesen, ging sie, begleitet von den Segenswünschen der braven Bauernfamilie, hinauf ins Schloß. Dort stand schon der Wagen zur Abfahrt bereit. Die Dame stieg ein, Anna mußte sich auf den Rücksitz setzen, und in raschem Trab fuhr man an die nächste Bahnstation, von wo es rastlos in die weite Welt hinausging.


 << zurück weiter >>