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2. Unerwarteter Besuch

Die Kinder hatten sich nicht wieder blicken lassen. Monate waren vergangen, der schöne Frühling hatte den strengen Winter vertrieben. Eine Reihe sonniger, warmer Tage waren aufeinander gefolgt, aber heute schien der April sein neckisches Spiel zu treiben: Regenschauer wechselten mit Sonnenschein, kaum freute man sich des blauen Himmels, so jagten wieder düstere Wolken herbei, und eh man sich's versah, kam ein Regenguß von durchdringender Art. Frau Brok hatte gerade den Sonnenschein genutzt, um sich an ihren Blumenbeeten im Vorgarten zu erfreuen. Wie sauber und zierlich waren sie hergerichtet; hier blühten die Krokusse in verschiedenen Farben, auf einem anderen Beet gab es Tulpen und Hyazinthen in üppiger Fülle, und im Gebüsch versteckt lugten die kleinen Veilchen aus den dunkelgrünen Blättern hervor. Zu diesen bückte sich Frau Brok, um ein Sträußchen davon zu pflücken, sie liebte den Veilchenduft in den Zimmern. Nun hatte sie genug; sie spürte auch Regentropfen und ging ins Haus. In der vorderen Stube stand schon eine Schale mit Wasser gefüllt, da hinein setzte sie die Blümchen. Während sie sie ordnete, gedachte sie einer alten Jugendfreundin, an welche sie immer denken mußte, wenn sie Veilchen sah, weil sie die Lieblingsblumen ihrer Elisabeth waren. Schon als Kind war sie in der Frühlingszeit gekommen und hatte gerufen: »Hedwig, laß uns Veilchen suchen«, dann waren sie in den großen Grasgarten des Vaters gegangen und hatten Schürzen voll Veilchen gepflückt. Wo war sie geblieben, die fröhliche, selige Kinderzeit! Warum nur war sie mit ihrer Elisabeth so auseinander gekommen? Sie hatten sich so lieb gehabt als Kinder, als Jugendfreundinnen. Dann hatten sie sich beide verheiratet. Elisabeth war ihrem Mann in die Ferne gefolgt, er hatte sich irgendwo in Posen angekauft, und seitdem war der Briefwechsel eingeschlafen. Frau Brok hatte seit vielen Jahren nichts wieder von der Freundin gehört, aber vergessen hatte sie sie nicht. Wenn es still und einsam um sie war, zogen die alten Erinnerungen an ihrer Seele vorüber. Sie setzte die Veilchen ans Fenster und blieb eine Weile sinnend davor stehen. O, welch ein Regenguß war das wieder, wie rannten die Leute auf der Straße, daß sie ins Trockene kamen! Was krabbelte denn dort am Gitter ihres Gartens herum? Nun wurde die Pforte geöffnet. »Hier wohnt sie«, rief das kleine, dunkeläugige Mädchen, das wir noch kennen. Sie winkte dem Jungen, der ihr wie ein Schatten folgte, und ehe Frau Brok es hindern konnte, kamen sie mit ihren schmutzigen Füßchen ins Haus. Frau Brok war wirklich ärgerlich. »Seid ihr schon wieder da«, rief sie ihnen aus der Tür zu. »Heute wird nichts gekauft, marsch!«

»Beste Dame, wir waren lange nicht da; als wir das letzte Mal hier waren, schneite es, und nun blühen schon die Tulpen.«

»Nein, nun regnet es, ihr kommt nur, wenn ihr schmutzige Füße habt, um mir das Haus zu verunglimpfen.« »Nein, darum kommen wir ganz gewiß nicht.« »Warum denn?« »Weil wir dachten, Ihre Seife wäre alle und die Streichhölzer –« »Glaubt ihr, daß ich nicht anderswo Seife bekomme? Nein, heute wird nichts gekauft. Es ist überhaupt nicht hübsch, daß ihr euch so herumtreibt und nicht in die Schule geht, ich werde euch anzeigen.« »Wir gehen morgens in die Schule, nachmittags haben wir keine, da müssen wir verdienen«, sagte das kleine Mädchen mit so kläglichem Gesicht, daß wieder etwas wie Mitleid durch das Herz der Frau zog. Sie musterte die Kinder und blickte erschrocken auf ihre Füße. Daß die Kleider befleckt und zerrissen waren, war schlimm genug, aber sie paßten wenigstens; die Schuhe aber waren viel zu groß für die kleinen Füße, der Junge hatte abgeschnittene Pelzgaloschen an, die überall eingerissen waren, während das kleine Mädchen in großen zerlumpten Damenschuhen einherschlürfte, die ihr beim Gehen gewiß immer von den Füßen glitten. »Wie seht ihr aus, Kinder«, rief Frau Brok, die so etwas noch nie gesehen hatte, »wie könnt ihr in solchen Schuhen einhergehen, schämt euch.« Die beiden Kinder sahen sich an und kicherten. »Wir haben keine andern, sie geben uns keine, und zum Barfußlaufen ist's noch zu kalt.« »Das ist ja schrecklich«, sagte Frau Brok, die Hände zusammenschlagend. »Laßt diese Lumpen an der Tür stehen und kommt mit mir in die Küche, ich habe vielleicht passende Schuhe für euch.« Mit Leichtigkeit schlüpften die Kinder aus den großen zerrissenen Ungetümen, aber die durchlöcherten Strümpfe, die nun sichtbar wurden, erregten fast noch mehr das Entsetzen der an peinliche Ordnung gewöhnten Frau Brok. Die Kinder sahen sich wieder an und kicherten, und eines sprach leise zum andern: »Ob sie uns wohl wieder heißen Kaffee gibt?« Es war leise gesprochen, aber die feinen Ohren der Frau Brok hörten es doch. Plötzlich erinnerte sie sich des Silvesterabends und ihrer guten Vorsätze. Sie hatte ja freundlich mit den Kindern reden wollen, und nun hatte sie weiter nichts getan als gescholten. »Ich will sehen, ob noch etwas Kaffee da ist, setzt euch da auf die Küchenbank.« Frau Brok brachte wieder die bekannten Becher mit Kaffee und reichte ihnen eine Schnitte Brot dazu.

Dann ging sie hinaus und kam bald darauf mit zwei Paar alten, aber noch gut erhaltenen Sachen zurück. Sie waren von der verstorbenen Tochter; bis jetzt hatte Frau Brok alles sorgfältig aufgehoben, was an sie erinnerte, aber hier war es doch Pflicht, helfend einzugreifen. Sie befahl den Kindern die Schuhe anzuziehen; mit glänzenden Gesichtern standen sie davor, rührten sich aber nicht. Der Junge flüsterte nur das Wort: »Pfingsten.« »Nun?« sagte Frau Brok. »Die Schuhe sind zu schön«, sagte das kleine Mädchen, »die dürfen wir jetzt nicht anziehen, wir heben sie zu Pfingsten auf.« »Nein, die zieht ihr gleich an, durch die anderen läuft das Regenwasser und durch die Löcher der Strümpfe erst recht, dann werdet ihr krank.« »Ja, er hat immer Husten«, bestätigte das kleine Mädchen. »Sag doch nicht immer er, nenne ihn bei seinem Namen«, sagte Frau Brok, »du heißt Anna, das habe ich schon gehört und er?« »Er heißt Franz«, sagte Anna. »Ist er dein Bruder?« »Ja, er ist mein Bruder, oder auch nicht, ich weiß es nicht.« »Wohnt ihr denn in einem Hause, habt ihr dieselben Eltern?« »Nein, er hat andere.« »Nun, dann ist er auch nicht dein Bruder; – wo wohnt ihr überhaupt?« »Ganz weit fort, am andern Ende der Stadt, dahinten in den krummen Gassen.« »Dort!« sagte Frau Brok. Das war der ärmste Stadtteil, es wohnten viele Fabrikarbeiter da, aber auch viel loses Gesindel. »Wie heißt die Straße, in welcher eure Eltern wohnen?« »Die Pfeiffergasse Nr. 8«, erwiderte Anna, die immer das Wort führte. Frau Brok notierte es sich, während die Kinder die Schuhe anpassen mußten. »Seht ihr, sie passen«, sagte Frau Brok mit großer Befriedigung, »nun bittet eure Mutter, daß sie euch ein paar ordentliche Strümpfe strickt, oder wenigstens die Löcher zustopft.« »Das tut sie nicht«, sagte Anna mit felsenfester Überzeugung. »Geht jetzt«, mahnte Frau Brok, »und nehmt mir das alte Schuhwerk aus dem Hause fort, hier habt ihr einen Bogen Papier, wickelt es hinein.« Die Kinder taten wie ihnen geheißen und während sie beim Einwickeln waren, ging Frau Brok in die Stube zurück, um den Abzug der Kinder vom Fenster zu beobachten. Es währte ziemlich lange, bis sie kamen. Jetzt sprangen sie lustig die Stufen hinunter, und eben wollten sie die Gartentüre öffnen, da ertönte die Stimme der Wirtin im Hause. »Die gottlose Bande«, rief sie aus der Haustür. »Gleich kommt ihr zurück; glaubt ihr, daß ich den Unfug nicht gesehen, den ihr begangen? Ist das der Dank dafür, daß die Dame so freundlich war?« Betreten kamen die Kinder zurück, doch langsam und zögernd. Auf Frau Broks Befragen, was vorgegangen, behauptete die Wirtin, sie habe deutlich gehört, daß die Kinder harte Gegenstände die Kellertreppe hinuntergeworfen hätten, das komme davon, wenn man solch Gesindel an sich ziehe, das müsse man fortjagen, sobald es sich blicken ließe. Frau Brok stellte nun ein scharfes Examen an, was die Kinder getan, plötzlich ging ihr ein Licht auf. Sie hatten die alten Schuhe in den Keller spediert, um sie nicht tragen zu müssen. Sie gestanden es denn auch sofort ein und schlichen die Kellertreppe hinunter, um die unaussprechlich schrecklichen Dinger wieder ans Tageslicht zu fördern. Sie kamen sehr unglücklich wieder herauf und Anna sagte heulend, das Papier sei zerrissen, sie möchte die Schuhe nicht tragen, so daß Frau Brok die Wirtin bat, den Kindern zu erlauben, den ganzen Plunder auf den Kehrichthaufen zu werfen, was denn auch grollend zugestanden wurde. Nun wurden die kleinen Missetäter mit ernsten Ermahnungen entlassen, und die Ruhe des Hauses war wieder hergestellt.

Konnte Frau Brok die Kinder das erste Mal nicht vergessen, so das zweite Mal noch weniger. Sie interessierten sie, ohne daß sie es wollte, und die Not der Kinder erbarmte sie. Sie beschloß, die angegebene Wohnung gelegentlich aufzusuchen und die Eltern kennenzulernen. Sie hatte sich wenig mit armen Leuten befaßt; sie gab ihre jährlichen Beiträge, damit meinte sie genug getan zu haben. Nun war es ein anderes; die Not der Armut war ihr handgreiflich nahe gebracht, eine innere Stimme mahnte sie, die Gelegenheit, Gutes zu tun, nicht unbenutzt vorübergehen zu lassen. Wie, wenn sie für jedes der Kinder ein Paar Strümpfe strickte? Das Stricken war ihr eine liebe Arbeit, und wenn es solchen Zweck erfüllte, von doppeltem Wert. Sie schauderte, wenn sie an die Löcher dachte, sie tat sich selber etwas zugute, wenn sie für ordentliche Strümpfe und Schuhe sorgte.

Nach etwa 14 Tagen waren die Strümpfe fertig. Sie wickelte sie ein und begab sich damit auf den Weg. Es war ein armer, schöner Maitag, viel lieber hätte Frau Brok einen Spaziergang ins Freie gemacht und hätte sich des frischen Grüns an den Bäumen und Sträuchern erfreut, aber sie hatte sich nun einmal vorgenommen, etwas Außergewöhnliches zu tun, und was sie sich vornahm, das führte sie aus. Ziemlich ermüdet kam sie in den Stadtteil, wo die krummen Gassen lagen. Sie führten ihren Namen mit Recht, krumm und winkelig waren sie mit holprigem Pflaster, mit baufälligen Häusern, die meistens ungeputzte Fenster und schmutzige Haustüren hatten. Es kostete Frau Brok große Überwindung, weiter zu gehen, sie wäre lieber wieder umgekehrt – da sah sie einen Jungen mit einem Kind auf dem Arm in der Haustür stehen. Das war ja der blasse Franz. Er schien sie auch zu kennen und zog sich verlegen mit dem Kinde in den dunklen Hausflur zurück. Sie ging ihm nach. »Franz, ich habe dir ein Paar Strümpfe gestrickt, sage deiner Mutter, daß sie sie in Ordnung hält.« Mit diesen Worten legte sie die Strümpfe über seine Schultern und sagte freundlich: »Ist das dein Bruder?« »Ja, wir haben Zwillinge, der eine schläft –.« »Franz«, schrie eine kreischende Stimme vom Hofe her, »Thete wacht, warum paßt du nicht auf!« Flüchtigen Fußes eilte der blasse Junge mit dem Kleinen auf dem Arm über den Hof in das düstere Hintergebäude und entschwand Frau Broks Blicken. Sie hatte nicht Lust, ihm zu folgen, es war ja schon genug, daß sie ihm die Strümpfe gegeben, vielleicht konnte sie später noch einmal etwas für ihn tun.

Wo nun aber das Mädchen finden? ›Nr. 8‹ stand in ihrem Notizbuch, das war gerade gegenüber. Hu, wie sah es dort aus! Fensterscheiben mit Papier verklebt, überall Schmutz und Unordnung, es graute ihr vorzudringen. Sie wartete einen Augenblick an der Tür, hoffend, das kleine, schwarzäugige Mädchen werde sich auch, wie der Knabe, ihren Blicken zeigen. Da hörte sie ein klägliches Weinen, das aus der Stube rechts zu kommen schien. Sie öffnete die alte, wacklige, in allen Fugen krachende Tür und sah in ein düsteres Gemach, das alles Elend der Armut aufdeckte. Ein widerlicher Geruch schlug ihr entgegen, es mußte Branntwein sein; auf dem Fußboden spielten schmutzige Kinder, Kisten und Kasten standen herum, als sollte es einen Umzug geben. In der Ecke aber, auf dem Bett, lag ein Mann, der seinen Rausch ausschlief. In der andern Ecke saß, ganz zusammengeduckt, ein unbestimmtes Etwas; hätte es sich nicht gerührt und wäre nicht das Schluchzen daher gekommen, man hätte es für ein Bündel Lumpen halten können. Frau Brok ging näher, da drehte sich ein schwarzer Kopf um und das tränenüberströmte Gesicht der kleinen Anna wurde sichtbar. Sie stutzte gewaltig, als sie die große Erscheinung vor sich sah, aber auf einmal streckte sie die Arme gegen die Dame aus und rief in leidenschaftlichem Ton: »Beste Dame, nehmen Sie mich mit, sie ist so schlecht gegen mich.« »Was hat man dir getan, du armes Kind?« fragte Frau Brok. »Sie hat mich geschlagen, weil ich die Flasche zerbrach, aber ich konnte nichts dafür, ich stolperte auf den Stufen und fiel, und die Flasche flog mir aus der Hand. O, mein Rücken, mein Rücken, sie hat einen so dicken Stock.« Frau Brok, welche mit dem Rücken gegen die Tür stand, hatte das Eintreten des struppigen Weibes nicht bemerkt; erst als dieses sagte: »Marsch, aus der Ecke, du Unhold!« gewahrte sie die Person. Die Kleine flüchtete angstvoll nach dem Fenster und kauerte sich dort nieder, während Frau Brok entrüstet sagte: »Sie dürfen Ihre Kinder nicht so schlecht behandeln, Sie sind ja eine Rabenmutter.« »Rabenmutter«, höhnte das Weib, »wenn ich überhaupt die Mutter des Balges bin. Sie können sie gerne mitnehmen und großziehen; ich habe keine Lust, mich mit dem Ding weiter zu plagen. Das kommt davon, wenn man sich anderer Leute Kinder annimmt.« Auf Frau Broks Befragen, wessen Kind die Kleine sei, erzählte das schmutzige Weib eine lange Geschichte von einer armen Base, die als Witwe früher mit ihr in einem Hause gelebt. Sie habe sie, als sie krank geworden, ohne Lohn verpflegt, und auf dem Sterbebett habe sie ihr ihre beiden Kinder ans Herz gelegt; sie habe auch versprochen, für sie zu sorgen, wenn sie ihr die kleine Summe Geldes, die sie auf der Sparkasse hatte, hinterließe. Das sei aber weniger gewesen, als sie gedacht, das Geld sei längst alle. Der Junge, Franz, sei von den Nachbarn angenommen, die haben viele Kinder, darunter Zwillinge, sie können ihn gut gebrauchen beim Kinderwarten; aber sie könne die Anna gar nicht mehr gebrauchen, das Ding sei so ungeschickt und unverschämt obendrein, wenn man ihr etwas sage; sie wolle Gott danken, wenn sie sie los wäre, sie habe genug Plage. »Der da vertrinkt, was er verdient, und ich muß mich abarbeiten für die Familie.« Dabei fing sie an zu weinen, aber sie roch auch nach Branntwein, und Frau Brok überlief es kalt in dieser Umgebung. Doch der Gedanke, Anna mitzunehmen, lag ihr ganz fern, das wäre ja rein unmöglich, was sollte sie mit diesem kleinen Schmutzfink in ihren hellen, blanken Stuben! »Ich habe für die Kleine ein paar Strümpfe gestrickt«, sagte sie; aber, indem sie sie hervorzog, kam es ihr wie Hohn vor, in dieser Behausung ein Paar gut gestrickte Strümpfe niederzulegen. Es hätte so viel bedurft, um an Kindern und Wohnung Ordnung herzustellen, daß ein Paar Strümpfe wie ein Tropfen, der sich im Meer verliert, anzusehen waren. »Strümpfe?«, sagte die Frau spöttisch, »Jetzt haben wir Mai, da braucht sie keine Strümpfe mehr.« Die schmutzigen Kinder auf der Erde zankten und schlugen sich und erhoben ein Geschrei. Die Frau fuhr wütend dazwischen, und während sie nach den Kindern schlug, ließ sich ein Brummen in einer Ecke vernehmen, und die Mannesgestalt richtete sich auf. Frau Brok benutzte diesen Augenblick, um sich zu entfernen. Sie atmete tief auf, als sie die Tür hinter sich hatte und eilte, aus diesem Stadtteil zu kommen, der des Erquicklichen so wenig bot.

Da sie beim Nachhausewege die Straße, in welcher ihre uns schon bekannten Freunde Werter wohnten, berühren mußte, so beschloß sie, einen kleinen Besuch dort abzustatten. Sie wurde wie immer aufs herzlichste willkommen geheißen, die Töchter des Hauses wollten ihr den Hut und das Tuch abnehmen und erklärten, sie dürfe nicht gleich wieder fort. Sie mußte sich Metas Aussteuer ansehen und dann mit in den Garten kommen und sehen, wie dort alles wachse und sprieße. Frau Brok würde die Einladung, bei den Freunden zu bleiben, zu anderer Zeit gerne angenommen haben, aber die eben erhaltenen Eindrücke beschäftigten sie so, daß sie es ablehnte mit dem Versprechen, in den nächsten Tagen wieder zu kommen. Die Töchter des Hauses begleiteten sie bis in die Vorstadt, dann kehrten sie um, während Frau Brok ihrem hübschen Heim zueilte. Wie gut hatte sie es, sie dankte Gott, daß sie nicht verurteilt war, in solchen Räumen zu wohnen, wie sie sie diesen Mittag kennengelernt hatte. Als sie sich ihrem Hause näherte, bemerkte sie Frau Baum, ihre Wirtin. Sie stand in der offenen Haustür und sah sehr rot und erregt aus. Frau Brok sah an ihren Mienen, daß etwas vorgefallen war. Als sie Frau Broks ansichtig wurde, winkte sie mit der Hand, als ob diese sich beeilen müßte. »Nun, Frau Baum, was gibt es, ich war wohl zu lange aus?« »Ja, lange, Frau Brok, denn eben ist das Weib auf und davon und hier ist die Bescherung. « Mit diesen Worten zeigte sie auf ein kleines Wesen, das sich hinter sie verkrochen hatte. Wer beschreibt das Erstaunen der Frau Brok, als sie die kleine Anna erblickte, die mit einem roten Bündel unter dem Arm dastand, die tränenschweren Augen zu ihr erhoben. »Ja«, fuhr Frau Baum fort, »gegen mich wurde das Weib grob, als ich sagte, sie solle das Kind wieder mitnehmen. Sie behauptete, Sie seien bei ihr gewesen, und es sei mit Ihnen verabredet, daß das Kind heute abend gebracht würde. Sie wollen es behalten und für seine Erziehung sorgen.« »Ich?« sagte Frau Brok in maßlosem Erstaunen, »ich hätte gesagt –?« »Ich habe mir gleich gedacht, daß es eine Lüge ist, aber – ich bin sonst nicht auf den Mund gefallen – gegen diese Person kam ich nicht an. Eh ich mich's versah, war sie fort, rechts um die Ecke herum, und die Kleine stand da und rührte sich nicht. Lauf doch mit, sagte ich, hier kannst du nicht bleiben; sie schüttelte mit dem Kopf und weinte und wich nicht von der Stelle.«

Die dunklen Augen der Kleinen richteten sich bald auf die Sprecherin, bald auf Frau Brok, als erwartete sie von letzterer den entscheidenden Urteilsspruch. Diese war in äußerster Bedrängnis. Sie konnte doch unmöglich diesen kleinen Schmutzfink mit den wirren Haaren, dem unsauberen Gesicht, dem befleckten zerrissenen Röckchen mit in ihre Zimmer nehmen. Ja, wenn es für etliche Minuten gewesen wäre, wie damals – aber ganz dabehalten, sie die Nacht in einem ihrer schönen Betten schlafen lassen – das schien ihr ein Ding der Unmöglichkeit. Sie stand unbeweglich da, plötzlich kam ihr ein rettender Gedanke. »Frau Baum«, rief sie, »erweisen Sie mir eine Liebe, rufen Sie mir die Sattlern, wollen Sie?« »Das will ich wohl«, sagte die gefällige Wirtin, »aber was die zur nachtschlafenden Zeit hier soll, weiß ich auch nicht.« Sie warf noch einen Blick auf Frau Brok und das Kind und ging mit Kopfschütteln aus der Tür. Nun waren die beiden allein. »Kind, sag mir nur, warum kommst du immer wieder zu mir, es gibt doch so viel andere Häuser in der Stadt, es sind so viel andere Menschen da, warum muß ich dich immer wieder hier sehen?« Die Kleine schwieg, erst als Frau Brok ihre Frage dringlich wiederholte, flüsterte sie: »Weil meine Mutter es wollte, und weil Sie so gut sind.« Frau Brok mußte lächeln, wer hört nicht gern etwas Angenehmes? Es war, als ob der Unmut, der sich ihrer ob dieser Zumutung bemächtigt hatte, sich allmählich legte, die Antwort des Kindes entwaffnete sie, sie konnte nicht länger zürnen. Seufzend zog sie ihre Schlüssel heraus, schloß die schöne Wohnung auf und nahm das Kind herein. Sie ging mit ihr in die Küche, hieß sie auf der Bank Platz nehmen und dort ruhig warten, bis sie wiederkomme. Dann ging sie in das vordere Zimmer, warf sich in einen Lehnstuhl und schien mit sich zu kämpfen. »Frau Sattler wird Rat wissen«, sagte sie endlich. »Diese Nacht muß ich das Kind behalten, ich kann es unmöglich in der Dunkelheit nach Hause schicken, aber morgen wird es jedenfalls zurückexpediert, ich will mir nicht ohne weiteres Bettelkinder aufdrängen lassen.« Nun kam jemand. Das war die Wirtin mit Frau Sattler, Frau Broks Aufwärterin. Sie redeten beide eifrig miteinander, dann trennten sie sich, Frau Baum, die von der Sache nichts weiter wissen wollte, ging die Treppe hinauf, in ihre Behausung. Frau Sattler ging in die Küche. »Wo ist denn das Kind?« rief sie. »Du liebe Zeit, da sitzt das kleine Lamm auf der Küchenbank und ist eingeschlafen!« »Guten Abend, Frau Brok, was ist denn hier vorgefallen? Das geht ja über Ihre Kräfte! Ich hätte nur hier sein sollen, ich hätte der Frau schon Bescheid tun wollen.« »Was soll ich machen, Frau Sattler?« »Jetzt können Sie weiter nichts tun, als das arme Kind behalten. Neben Ihrer Schlafstube ist die Kammer, worin ein Bett steht. Da hinein legen Sie die Kleine und lassen sie schlafen bis zum nächsten Morgen, dann bringen wir sie den Eltern wieder.« »Sie hat keine Eltern, es ist ein Waisenkind.« »Nun, dann hat es Pflegeeltern, die verpflichtet sind, für das Kind zu sorgen.« »Das wollen wir morgen überlegen«, sagte Frau Brok plötzlich mit der ihr eigenen Energie, »heute wollen wir nur das Nötigste besorgen. Frau Sattler, zünden Sie unter dem Herd Feuer an und setzen Sie den großen Kessel mit Wasser auf. Dann holen Sie die Badewanne aus dem Waschhaus, die Kleine muß gebadet werden.« »O, liebe Zeit, noch heute Abend«, rief Frau Sattler, nicht eben sehr erfreut. »Na, ich konnte es mir gleich denken«, brummte sie vor sich hin, »es müßte ja nicht Frau Brok sein. Du armes Lamm, was werden sie mit dir noch alles anstellen.« Unter diesen Worten schickte sie sich an, ihrer Herrin Befehle auszurichten. Bald loderte ein mächtiges Feuer in der Küche, dann ging sie und holte mit größtem Geräusch die Wanne.

Sie rumpelte eben damit in die Küche, als die Kleine aus ihrem Schlummer erwachte und mit großen Augen um sich sah. Angstvoll stierte sie das Feuer an, noch angstvoller die fremde Frau mit der großen Wanne; sie schien zu ahnen, daß dies alles in einem Zusammenhang mit ihr stehe. Leise glitt sie von der Küchenbank und floh in den äußersten Winkel der Küche. Die Alte, welche es bemerkte, rief: »Ich tu dir nichts, mein Lamm, brauchst dich nicht zu fürchten, komm nur ruhig her.« Diese mit freundlichem Ton gesprochenen Worte flößten der Kleinen Zutrauen ein, sie kam aus ihrem Schlupfwinkel und sagte leise: »Ich habe den ganzen Tag nichts gegessen, gibt mir die schöne Dame nichts?« »Das will ich besorgen, mein Kind«, erwiderte Frau Sattler und holte dem Kinde eine große Schnitte Brot, die sie mit Heißhunger verzehrte. »Soll ich hierin schlafen?« fragte sie dann zutraulich und zeigte auf die große Wanne. »Nein, darin wirst du blank gemacht, und jetzt kommt Frau Brok, nun wird's gleich losgehen.« Frau Brok kam mit alten Bettüberzügen, die sie herausgesucht, und gab der Frau die Anweisung, das Bett in der Kammer herzurichten. Als das geschehen, mußte das Kind sich seiner Lumpen entledigen und eh es sich's versah, hatte Frau Sattler es ergriffen und in die Wanne gesteckt. Als es darin war, gab es kein Sträuben, die Alte kannte ihr Handwerk aus dem Fundament. Das Reinmachen war ihre Wonne. Es war ihr gleich, ob sie Menschen oder Sachen unter ihren Händen hatte, geseift und gerieben wurde, daß es eine Art hatte. Anna versuchte ein paarmal zu schreien, aber die Alte hatte eine solche Gewandtheit, ihr dann den Mund mit ihrer großen knochigen Hand zuzuhalten, daß sie allen Widerstand aufgab, Augen und Mund fest zusammenpreßte und alles über sich ergehen ließ. Frau Brok stand als höchste Instanz daneben und flüsterte von Zeit zu Zeit: »Frau Sattler, seifen Sie nur den Kopf, mir ist so bange.« »Frau Sattler, hinter den Ohren ist es noch nicht wie es sein soll«, oder: »Vergessen Sie die Füße nicht.« »Seien Sie nur ganz ruhig, Frau Brok, was ich schmutzig unter die Hände bekomme, das kommt blitzblank wieder heraus, das Kind soll glänzen, wenn es aus der Wanne kommt. So, nun dächte ich, wär's genug, jetzt geben Sie mir das Tuch zum Abreiben.« Frau Brok hatte alles bereit, auch Wäsche von der verstorbenen Tochter, die freilich etwas zu groß war, aber doch reinlich. Nun wurde das Kind in die Kammer gebracht, und kaum war es einige Minuten im Bett, so lag es in festem Schlaf, der durch nichts zu erschüttern war. Die Alte hatte noch lange in der Küche zu tun, bevor alles wieder in der gehörigen Verfassung war.

Dann gab ihr Frau Brok den Auftrag, morgen aus einem Laden einen einfachen, fertigen Anzug für die Kleine zu besorgen, »denn«, meinte sie, »ordentlich will ich das Kind wieder abgeben, behalten kann ich sie nicht, das paßt nicht in meine Verhältnisse.« »Nein, nein, das wollte ich Ihnen verdenken, Sie haben ein so ruhiges, schönes Leben, was wollen Sie sich mit anderer Leute Kinder plagen. Ich will die Kleine morgen schon zurückbringen und den Leuten ordentlich die Wahrheit sagen. Ja, das will ich.« »Und die alten Sachen, Frau Sattler?« »Darum sorgen Sie sich nicht, Frau Brok, die habe ich alle in ein Bündel zusammengebunden und nehme sie mit. Und nun gute Nacht, Frau Brok, regen Sie sich nur nicht mehr auf, gehen Sie bald zu Bett und schlafen Sie Ihren Schreck aus, morgen Abend ist alles wieder, wie's gestern war.« Mit diesen beruhigenden Worten verließ Frau Sattler das Haus.


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