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9. Einkehr

Frau Brok hatte schwer zu tragen an Annas Fortgehen. Sie war jahrelang an sie gewöhnt, nun erst merkte sie, was sie an ihr gehabt. Anna war umsichtig, sie hatte es verstanden, Frau Broks kleine Wünsche und Eigenheiten zu beachten und auf dieselben einzugehen; sie fehlte ihr überall. Frau Sattler trat wieder in die alte Stellung, aber sie war älter und schwächer geworden, es konnte ihr nicht mehr viel zugemutet werden. Die Alte machte Frau Brok Vorwürfe, daß sie Anna überhaupt habe in Verdacht haben können. Frau Brok solle es ihr nicht übel nehmen, aber wenn sie sich gleich von vorneherein als Mutter zu dem Kinde gestellt hätte, dann hätte so etwas nicht vorkommen können. Frau Baum sei auch daran schuld, die habe das Mißtrauen zuerst geweckt. Wunderbar sei es ja mit dem Geldschein, aber es gehe mitunter merkwürdig zu in der Welt.

Andere Leute wieder redeten Frau Brok ein, es könne niemand anders das Geld genommen haben als das Mädchen, da sie die einzige gewesen sei, die das vordere Zimmer betreten habe in Frau Broks Abwesenheit. Selbst Werters konnten sich des Mißtrauens nicht enthalten. Jeder aber, der Frau Brok besuchte, wußte ein Beispiel zu erzählen von Unehrlichkeit der Mädchen, von Verschwinden und Unterschlagen des Geldes, von Betrug und Diebstahl, daß Frau Brok immer mehr dazu getrieben wurde zu glauben, daß Anna sie betrogen, daß sie das Leben bei ihr satt gehabt und in die Welt hinausgegangen sei, um mehr zu erleben, auch wohl mehr Freiheit zu genießen. Deshalb war ihr Herz in der ersten Zeit mit Groll und Bitterkeit erfüllt, und so kam es, daß der Brief mit der Todesnachricht von Franz, der an demselben Tage eintraf, nachdem Anna ihr Haus verlassen, gar nicht das Mitleid erregte, wie es sonst bei Frau Brok der Fall gewesen. »Es ist recht gut«, rief sie aus, »daß der Bruder nicht mehr erlebt, was für eine undankbare und unehrliche Schwester er hat; ich kann ihr den Brief nicht nachschicken, da ich nicht weiß, wo sie ist.« Sie legte den Brief weg, nachdem sie ihn, wie wir wissen, kurz beantwortet hatte. Als aber nach einigen Wochen mehr Ruhe eintrat, als das Gerede über Anna nachließ, als es einsamer um sie wurde, da erwachten in Frau Broks Herzen wieder die Erinnerungen an vergangene Zeiten. Sie sah vor sich den Silvesterabend, da sie die beiden Bettelkinder zuerst an der Tür hatte stehen sehen. Wie stolz war sie dann gewesen auf sich und ihr Tun, als sie sich beider angenommen und dafür gesorgt hatte, daß sie ordentliche, tüchtige Menschen wurden. Nun war der Knabe tot, das Mädchen trieb sich in der Welt herum. All ihr Tun kam ihr so vergeblich vor. Wenn Gott es nicht zu einem guten Ende brächte, sie vermochte es nicht. O, wenn Anna unschuldig wäre, wie lieb wollte sie sie dann haben, nein, sie hatte sie noch lieb; jetzt, da sie ihr genommen, erwachte die Liebe in voller Stärke; jetzt, da sie wußte, würde sie derselben äußerlich mehr Ausdruck geben können. Wenn doch Gott der Herr Annas Unschuld ans Licht brächte und ihr das Mädchen wieder zuführte. Sie betete täglich darum, und je mehr sie mit Gott über Anna redete und je weniger mit Menschen die Angelegenheit besprach, desto mehr Friede kam über sie. Sie wartete auf die Hilfe des Herrn. So verging das erste schwere Jahr.

Als sie am Geburtstagsmorgen das Fenster öffnen wollte, traute sie ihren Augen nicht, da lag der schöne duftige Vergißmeinnichtstrauß, für den Anna seit vielen Jahren treulich gesorgt hatte. Unwillkürlich rief sie laut Annas Namen, aber sie selbst war nicht da und kam nicht, wiewohl ein untrügliches, sichtbares Liebeszeichen von ihr dalag. Wer die Blumen hingelegt, ob Anna selbst dagewesen, oder ob sie sie durch andere hatte bringen lassen, blieb ein Rätsel, es war trotz aller Nachforschungen nicht zu ergründen. Nur das glaubte Frau Brok annehmen zu dürfen, daß Anna nicht allzufern sei und daß es ihr eher gelingen würde, ihren Aufenthaltsort auszukundschaften. Freilich, wenn das Verschwinden des Geldes nicht aufgeklärt war, würde sich immer etwas zwischen sie stellen; wenn doch Licht in dieses Dunkel kommen möchte!

Der Sommer verging und es war wieder Herbst geworden. Das Laub fiel von den Bäumen; stürmische, regnerische Tage kündeten das Hereinbrechen der rauhen Jahreszeit. Frau Brok saß an ihrem Nähtisch mit einer Handarbeit beschäftigt und blickte trübe in das Wetter hinaus. Von Werters war lange niemand gekommen, Olga weilte bei ihrer verheirateten Schwester zum Besuch, Frau Werter war oft leidend und scheute den weiten Weg; von andern Bekannten sah Frau Brok wenig oder gar nichts. Sie fühlte die Einsamkeit mehr denn je. Da kam der Briefträger und brachte einen Brief. Frau Brok besah ihn von allen Seiten. Die Handschrift schien ihr bekannt und doch unbekannt. Sie zögerte etwas mit dem Aufmachen; endlich flog ein Ausdruck der Freude über ihr Gesicht. »Ist es möglich?« rief sie. »Sollte der Brief wirklich von meiner alten, längst vergessenen Jugendfreundin sein?« Wirklich, da stand der Name: »Deine treue Elisabeth.« Sie las nun: »Du hast mich gewiß längst vergessen, ich Dich nie. Wie ist es möglich, daß wir zwanzig Jahre und noch mehr vergehen lassen konnten, ohne uns zu schreiben! Ich bin schuld daran, denn ich war diejenige, welche zuerst aufhörte mit Schreiben; meine Familie nahm mich so in Anspruch, daß ich alle Korrespondenz aufgeben mußte. Nun sind die Kinder längst alle erwachsen, ich habe das Gut meinem Sohn überlassen und bin nach Berlin gezogen, wo ich mit meinen beiden Töchtern in einer gemütlichen Stadtwohnung lebe. Das aufreibende Leben in der großen Wirtschaft ließ mich nie zu der Ruhe kommen, die ich hier empfinde. Nun kommen die Gedanken mehr zur Sammlung; ich besinne mich auf eine alte, liebe, langjährige Freundin, mit der ich die schönsten Jugenderinnerungen gemein habe. Ich weiß nicht, ob mein Brief Dich noch trifft an dem alten Ort, wo Du als junge Gattin einzogst; ich weiß nichts von Deinen Lebensschicksalen. Gelangt mein Schreiben in Deine Hände und ist es Dir recht, wenn wir im Alter wieder die Jugendfreundschaft auffrischen, so schreibe mir bald wieder. Oder, liebe Freundin, mach Dich auf und komm selbst einmal nach Berlin in unser trautes Heim, es ist im Winter gar schön in der Hauptstadt. Wir können dann mündlich nachholen, was wir schriftlich versäumt. Schreibe bald« usw.

Lange saß Frau Brok vor dem Brief ihrer Elisabeth. Eine Träne schimmerte in ihren Augen. »Alte Liebe rostet nicht.« Das war ihre Elisabeth mit dem warmen Herzen und der treuen Gesinnung. Es war ihr oft schmerzlich gewesen, daß sie mit der Freundin ganz auseinander gekommen war, aber wie es so geht im Leben, einer läßt die Gelegenheit zum Schreiben vorübergehen, der andere auch. So kommt es, daß manche, die früher in Herzensfreundschaft verbunden waren, getrennt werden und nie wieder etwas voneinander hören, wenn nicht einer gewaltsam das Schweigen durchbricht und die alte Liebe und Treue auf einmal wieder aufersteht. Was von Herzen kommt, geht zu Herzen. Wie sollte es die einsame Frau nicht freuen, daß ein Herz für sie schlug, wenn auch in der Ferne. Am liebsten hätte sie sich aufgemacht und wäre nach Berlin gefahren; aber das war eine Reise von 4-5 Stunden, daran mochte sie gar nicht denken. Aber schreiben wollte sie ihrer Elisabeth, sobald sie konnte, und sie bitten, wieder in regelmäßigen Briefverkehr mit ihr zu treten. Der Brief hatte sie etwas von ihren trüben Gedanken abgezogen; schon am folgenden Tage schrieb sie wieder an ihre Elisabeth, erzählte ihr von ihren ersten Ehejahren, von den Leiden ihres Gatten, von seinem und ihres einzigen Töchterleins Tod. Sie versprach der Freundin, in den folgenden Briefen ihre fernere Lebensschicksale mitzuteilen und bat sie, das Gleiche zu tun. So kam der Winter heran, und das Weihnachtsfest rückte näher.

Eines Tages stand Frau Brok vor dem Schrank, in dem sie allerlei Reste von Kleiderstoffen, Flicken, Wolle u. dergl. aufbewahrte. Sie suchte verschiedenes heraus, um Weihnachtssachen für die Armen zu fertigen. Da – auf einmal fiel ihr etwas Rotes in die Augen, sie griff danach, es war einer der roten Wollknäuel, die das kleine Gretchen an jenem verhängnisvollen Tage gewickelt hatte, sie hatte die Wolle ganz vergessen. Nun sollte auch die kleine Wicklerin selbst Strümpfe davon haben. Gretchen war gerade zum Besuch bei der Großmama, sie sollte nicht abreisen ohne die neuen Strümpfe. Noch an demselben Abend machte sie sich an die Arbeit, und schon nach einigen Tagen war der erste Strumpf fertig, und der Knäuel neigte sich seinem Ende zu. Da kam eines der Nachbarskinder, die sie zuweilen besuchten. Das kleine Mädchen erzählte, daß sie für den Vater zu Weihnachten einen Waschlappen stricke, er sei beinahe fertig, aber sie möchte gern einen roten Rand herumhäkeln, habe aber keine Wolle. »Da nimm den Rest«, sagte Frau Brok und gab ihr, was sie vom Knäuel übrig hatte. Die Kleine hüpfte vergnügt davon und Frau Brok holte sich den zweiten Knäuel, um den andern Strumpf anzufangen. Als sie diesen nach etlichen Tagen auch bald fertig hatte, besuchte das kleine Gretchen sie. Das Kind war sehr erfreut, zu hören, daß die Tante die schönen Strümpfe für sie bestimmt habe. »Wenn du warten willst«, sagte Frau Brok, »kannst du sie gleich mitnehmen, es fehlt nicht mehr viel«, Gretchen sagte, daß sie nicht warten dürfe, sie solle nur anfragen, ob es der Tante recht sei, wenn die Großeltern, die Mutter und Tante Olga am Abend kommen würden. Frau Brok war sehr erfreut darüber und lud das Gretchen ein, mitzukommen, wenn die Eltern es erlaubten.

Einige Stunden später finden wir eine fröhliche Gesellschaft um den großen, runden Tisch in Frau Broks Vorderstube bei der Lampe versammelt. Es wurde von Weihnachten gesprochen, und jedes der Anwesenden war mit einer Weihnachtsarbeit beschäftigt. Frau Brok spitzte eben den letzten Strumpf zu. »Fertig«, rief sie.

»O Tante«, rief Frau Meta, »schenke mir das Restchen Wolle; ich möchte um dies weiße Jäckchen meines Hannchens gern rote Zacken häkeln.« »Gern«, sagte Frau Brok und warf ihr die Wolle zu. Die junge Frau häkelte eifrig. »Wie abgemessen«, rief sie, »nun ist das Jäckchen fertig, und die Wolle ist aufgebraucht.«

Herr Werter, der neben ihr saß, hatte mechanisch das Papier, auf dem die Wolle gewickelt war, in die Hand genommen und löste es auseinander. Plötzlich wurde er aufmerksam, schlug mit der Hand auf den Tisch und sagte: »Liebe Frau Brok! Sie müssen eine reiche Dame sein! Das laß ich mir gefallen, Frau Brok wickelt ihre Wolle auf Fünfmarkscheine!« Sprachloses Erstaunen ringsum. »Ja nun sitzt ihr alle und staunt mich an«, rief Herr Werter. »Sieh her, Meta, hier hast du soeben die Wolle abgestrickt.« Er zeigte ihr ein kleines Zeitungsblättchen, in dem das Geld eingewickelt war, beides war zusammengekniffen und hatte der Wolle als Unterlage gedient. Frau Brok war die erste, die wieder Worte fand. »Das ist«, rief sie »das ist – das verlorene Geld. O, meine Anna ist unschuldig.« Sie dachte einen Augenblick nach, dann sagte sie in großer Erregung: »Gretchen, du hast die Wolle gewickelt, wie bist du zu dem Gelde gekommen?« Gretchen stotterte ängstlich: »Tante, du hast mir das Papier gegeben!« Abermalige Verwirrung. Endlich rief Frau Brok: »Es waren ja zwei Knäuel, den ersten habe ich dir angefangen, aber den zweiten? Besinne dich, mein Gretchen, wie war es beim zweiten?« Gretchen dachte scharf nach, endlich sagte sie: »Den zweiten habe ich selbst angefangen, Hannchen hatte ein Papier in der Hand, das nahm ich ihr weg, ich habe es gar nicht weiter angesehen, ich meinte, es sei doppelt zusammengelegtes Zeitungspapier, und da habe ich schnell darauf losgewickelt.« »Da haben wir's«, rief Herr Werter, »das kleine Hannchen ist unbemerkt in die vordere Stube geschlüpft, das Kind ist ja wie ein Pfeil, hat den Geldschein vom Tisch genommen, und ist ebenso schnell damit zurückgekehrt, so daß Gretchen es gar nicht gemerkt hat.« »Nein, ich habe nichts gemerkt«, beteuerte Gretchen. »Sie wickelte immer ihre kleinen Bilder in Zeitungspapier, da hat sie es mit dem Schein auch so gemacht und hat ihn mir eingewickelt gegeben.« »Also meine beiden Enkelinnen sind an dem ganzen Unglück schuld«, sagte Herr Werter traurig, »es tut mir zu leid, liebe Frau Brok, strafen Sie den Großvater.« »Schaffen Sie mir die Anna zur Stelle, so soll alles vergeben und vergessen sein«, sagte diese.

Frau Brok klagte sich nun an, daß sie den falschen Verdacht gehegt, Frau Werter suchte sie zu trösten; Meta und Olga sprachen mit dem Vater darüber, wie man am besten Erkundigungen über das Mädchen einziehen könne, Gretchen aber sah ängstlich von einem zum andern, als erwarte sie noch von irgend einer Seite Schelte. So endete der ruhige, schöne Abend mit einer großen Aufregung. Frau Brok war natürlich am meisten ergriffen, sie war von dem einen Wunsch beseelt, Anna möchte aufgefunden werden, damit ihr Gerechtigkeit widerfahre. Sie wollten nun nicht nachlassen, bis sie eine Spur gefunden. Sie fand wenig Schlaf in dieser Nacht und bat Gott, der so weit geholfen, Er wolle weiter helfen und ihr das Pflegekind wieder zuführen.

Der folgende Tag war ein rechter Wintertag, es hatte stark gefroren und nun fiel der Schnee in dichten Flocken vom Himmel. Frau Brok stand am Fenster und sah traurig hinaus. Wäre Sommerwetter gewesen, so würde sie einen Wagen genommen haben und nach Wildenhain gefahren sein, dort hoffte sie am ersten etwas über Anna hören zu können; doch war es ja zweifelhaft, ob Anna dort gewesen, ob sie nicht vorgezogen, in eine große Stadt zu gehen.

Als sie auf die Straße hinaussah, bemerkte sie ein frisches, junges Landmädchen, das, in eine warme Kapuze gehüllt, mit einem Korb am Arm daher gewandert kam, plötzlich stehen blieb und das Haus ansah, als ob sie Bekannte darinnen hätte. Sie blieb unschlüssig an der Gartentür stehen, als ob sie überlegte, ob sie hineingehen sollte oder nicht. Endlich wählte sie das erstere. Sie kam langsamen Schrittes näher und klopfte bald bescheiden an die Tür. Frau Brok öffnete und sah das Mädchen fragend an. »Erlauben Sie, daß ich mich hier etwas vor dem Schneewetter berge. Es sah heute morgen so schön aus, daß ich den Weg unternahm, um allerlei Einkäufe in der Stadt zu machen, nun ist auf einmal Schnee gekommen.« »Sind Sie weit her«, fragte Frau Brok, »dann kommen Sie heute gar nicht zurück.« Das Mädchen nannte das Dorf und sagte, sie wolle die Nacht bei Verwandten bleiben, hier in der Stadt.

Frau Brok sah sie freundlich an. »Warum kehren Sie denn bei mir ein«, sagte sie lächelnd, »wenn Sie Verwandte in der Stadt haben, wäre es doch besser, Sie gingen gleich zu ihnen und machten es sich dort bequem.« Das junge Mädchen wurde verlegen und sagte: »Ich kam nur hierher – um zu sehen, ob – ich möchte gern wissen – ob sich die Sache mit der Anna aufgeklärt, ich wollte Sie bitten, liebste Dame, doch nichts Böses von ihr zu glauben. Ich kenne sie erst kurze Zeit und traue es ihr nimmer zu, daß sie Geld genommen.« »Kennen Sie meine Anna«, rief Frau Brok erregt, »was wissen Sie von ihr?« Sie lud das junge Mädchen zum Sitzen ein und ließ sich von Susanne erzählen, wie sie die Bekanntschaft von Anna gemacht und was sie sonst von ihr wußte. Frau Brok war glücklich, daß sie endlich jemand gefunden, der ihr Auskunft über Anna geben konnte. Sie glaubte, es wäre nun ein leichtes, das junge Mädchen wieder herbeizuschaffen; dem war aber nicht so. Susanne wußte nur, daß sie in der großen Stadt Berlin sei bei einer guten Dame. Den Namen derselben habe sie vergessen, sie wisse auch nicht, in welcher Straße sie wohne, aber wenn sie im Sommer komme, wolle sie mit ihr herkommen. Frau Brok meinte, das wäre viel zu lang, nun sie wisse, daß Anna in Berlin sei, wolle sie alles dran setzen, sie ausfindig zu machen, es koste, was es wolle. Sie dankte Susanne mit freundlichen Worten für die Auskunft und sagte, sie würde es ihr nie vergessen, daß sie bei ihr eingekehrt. »Ja«, sagte Susanne treuherzig, »als ich die Dame am Fenster stehen sah, mußte ich gleich an die Anna denken, ich konnte nicht anders, ich mußte zu Ihnen hineingehen und ein gutes Wort für die Anna einlegen. Nun bin ich froh, daß die Unschuld des Mädchens an den Tag gekommen ist.«

Als Susanne gegangen war, überlegte Frau Brok nicht lange. Die Jugendfreundin hatte so herzlich gebeten, sie in Berlin zu besuchen. Sie setzte sich hin und meldete sich für die nächste Woche an. Einmal dort, würde sie Mittel und Wege zu finden wissen, Annas Aufenthaltsort auszukundschaften. Frau Sattler war sehr erstaunt, als Frau Brok ihre Reisegedanken offenbarte, aber die alte treue Seele konnte es der Herrin nicht verdenken, daß sie das an dem Mädchen begangene Unrecht baldmöglichst gut zu machen trachtete. Nach einigen Tagen war die Rückantwort der Freundin da. Sie schrieb sehr erfreut über die Aussicht, Frau Brok bei sich zu sehen, und bat nur, den Besuch möglichst lange auszudehnen. Es sei zur Weihnachtszeit besonders hübsch in Berlin. So wurde zur Abfahrt gerüstet. Frau Sattler ging mit an die Bahn und sorgte dafür, daß Frau Brok mit Reisedecke und Fußsack und sonstigen warmen Sachen versehen war. Sie reichte ihr die alte Hand zum Abschied durchs Wagenfenster. »Gott behüte Sie«, sagte sie, »kommen Sie glücklich wieder mit Anna!«


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