Friedrich Huch
Peter Michel
Friedrich Huch

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Epilog

Peter Michel sitzt an seinem Arbeitstisch. Es ist Abend. Die Lampe erhellt sein Gesicht, das von einem Vollbart umrahmt ist, und spiegelt sich in seinen Brillengläsern. Es klopft: »Männchen, kommst du denn noch nicht bald? Der Tee wird kalt, und wir haben Hunger! Sollen wir ohne dich anfangen?« Frau Tinchen tritt an den Schreibtisch und sieht ihm über die Schulter, indem sie ihre Hände auf seine beiden Achseln legt. »Na, wie hat er denn heute geschrieben, der Willi?« – »Wieder eine Fünf, wie gewöhnlich!« antwortete Peter, indem er die Pfeife aus dem Munde nimmt. »Wir müssen ihn aus der Schule nehmen. Aus dem Jungen wird nichts. Es fehlt ihm der rechte Ernst! Sieh doch nur allein seine Schrift an! So ein großer Junge und kann noch nicht einmal ordentlich schreiben! Bald über der Zeile, bald unter der Zeile. Und hier ist sogar ein orthographischer Fehler!« – Indem kommt der Willi, Peters ältester Sohn, herein. »Bengel, komm mal her!« sagt der Vater. Willi tritt näher. Er ist ein hoch aufgeschossener Junge mit blöden Augen und sieht stark in die Treuthalersche Familie. Er begreift sofort, wovon die Rede ist. – »Kannst du nicht besser schreiben? Wenn ich mir so etwas erlaubt hätte, als ich so alt war wie du, da wäre ich schön bei meinem Vater angekommen!« – Peter vergißt, daß sein Vater gar kein Urteil über Schriften hatte. – »Da wäre ich schön angekommen!« wiederholt er, indem er sein Gesicht voll seinem Sohne zuwendet. »Komm mal 'ran, Junge!« Willi nähert sich und weiß ganz genau, daß er im nächsten Momente am Ohr gezogen wird. »Au!« sagt er und reibt sich verlegen die Stelle. »Junge! Aus dir wird mal nichts Rechtes!« fährt Peter fort. »Als ich so alt war wie du, da wußte ich schon ganz genau, was ich werden wollte. Und ich hatte nicht so einen Vater wie du, der für dich sorgt und arbeitet! Ich wurde in eine Pension getan, weil wir auf dem Lande kein Gymnasium hatten, und da mußte ich unter fremden Menschen leben und war auf mich allein angewiesen. Ganz allein habe ich mich emporgearbeitet, und dabei mußte ich meinen Vater erhalten und dann meine Mutter auch noch, eure Großmutter, die nachher am Schlaganfall starb, das weißt du ja! Aber euer Großvater lebt heutigen Tages noch und muß von mir erhalten werden. Ich beklage mich nicht darüber, denn er ist mein Vater, und in der Bibel steht: ›Du sollst deinen Vater‹ – na, wie geht es weiter? Man los Junge, nicht so bummelig!« – »Und Mutter ehren, auf daß es dir gut gehe und du lange lebest auf Erden.« Frau Michel streicht mit der Hand über die Backe ihres Sohnes und sagt: »Aber Manne, er ehrt doch auch Vater und Mutter! Willi ist doch ein gutes Kind!« Dabei trocknet sie mit dem Zipfel ihrer Schürze eine Träne aus den Augen ihres Sohnes. »Sei nicht so hart mit ihm! Er hat so ein weiches Gemüt!« – »Aber er hat wieder eine Fünf in Mathematik geschrieben, und ich sage: Aus dem Jungen wird nichts Rechtes!« – Willi geht leise hinaus und kaut an den Nägeln. Ich will mich ja bessern! denkt er, aber wie soll ich das machen? – Peter bleibt mit Tinchen allein, die sich ihm auf den Schoß setzt und ihm den Bart streicht. Das, weiß sie, hat er sehr gerne. »Du bist überarbeitet, Männe«, sagte sie. »Du solltest dich mal erholen, mal auf vier Wochen irgendwohin gehen.« – »Du weißt, das ist zu teuer«, sagt Peter. »Und ohne dich und die Kinder gehe ich nicht, das weißt du auch!«

Nach Tische erscheint der Onkel Julius, dessen Haar schon stark ins Graue übergeht, mit Tante Emma. Die Kinder lieben sie nicht, da sie zuviel an ihnen erzieht. Julius dagegen ist ihr wahrer »Goldonkel«. Er verwöhnt sie, wo er kann, nimmt den Neffen Willi, der nach Tinchens Vater genannt ist, zuweilen mit in die Kneipe, »indem die Kinder früh das Leben kennenlernen müssen«, und steckt ihm manchmal ein Silberstück in die Hand, für das der Junge sich etwas blöde bedankt, obgleich er gegen den Onkel am unbefangensten ist. Es scheint, daß etwas von dem Geiste von Peters Vater auf ihn übergegangen ist.

Die jüngere Schwester, nach Peters Mutter Philippine genannt und »Pinchen« abgekürzt, ist in der Schule fleißig, zu Hause sorgsam und sehr reinlich. Sie gerät ihrer Mutter nach. Tinchen ist eine gute Hausfrau; sie hat während ihrer Ehe gesucht, sich zu bilden, und vermag in einer Gesellschaft einem Gespräche gut zu folgen. Ihre Seltsamkeiten haben sich allmählich gemildert; nur wirken ihre langen Arme noch immer etwas störend. Ihre Eltern sind seit einigen Jahren tot. Tinchen und Julius haben sich in die Einrichtung geteilt, und Peter hat den Lehnstuhl seines Schwiegervaters bekommen, in dem er abends seine Zeitung liest und seine Pfeife raucht. Jeden Samstag hat er seinen Kegelabend, jeden Mittwoch seinen Skat, zu welchem seine intimsten Freunde erscheinen, unter ihnen Herr Lottermeyer, mit dem er sich vor einigen Jahren aussöhnte, da beide inzwischen vernünftig geworden sind und eingesehen haben, daß jeder Mensch neben seinen schlechten auch seine gute Seiten hat. Er hat viele Kinder und möchte seinen ältesten Sohn einmal mit Peters Pinchen verheiraten. »Sie gäben ein hübsches Paar zusammen!« sagt er, und Peter stimmt schmunzelnd bei. Ihrer früheren Feindschaft erinnern sie sich als einer unreifen Jugendeselei. Nur Selch darf man mit Lottermeyer nicht zusammenbringen, denn der hält starr und fest an seiner alten Antipathie, und Peter sagt: »Man muß den alten Bären in Ruhe lassen!«

Der Rektor ist gestorben, und Frau Ottilie ist Brautmutter, da ihr kleines Mädchen allmählich herangewachsen ist, einer der gefeiertsten Backfische wurde und sich auch richtig mit einem Leutnant verlobte. Ihren Maxel mußte sie nach dem Tode ihres Mannes in eine strenge Pension geben, da er gar zu sehr über die Stränge schlug; aber hinter seiner etwas dicken Stirn steckt ein guter, energischer Verstand. Er wird einmal etwas Tüchtiges. Frau Ottilie ist noch immer eine stattliche Erscheinung. Nur bedauert man allgemein, daß sie zu dick geworden ist. Ihre Augen haben einen unendlich gutmütigen Ausdruck, so daß jeder, der hineinschaut, gern hineinschaut. Trotz ihrer Körperfülle ist sie eine rührige, tätige Frau; sie ist im Vorstand aller möglichen wohltätigen, aufgeklärten Vereine und interessiert sich auf das lebhafteste für das geistige Wohl der Heidenkinder in fremden Ländern. Auch sagt man, sie sei eine gelehrte Frau, und es ist ein offenes Geheimnis, daß sie jenes große Werk über Cicero, das ihr Mann unvollendet zurückgelassen, fortsetzt und bald seinem Abschluß entgegenführen wird. Es sind viele Aufzeichnungen ihres Mannes vorhanden, aber um das Ganze in einen Zusammenhang zu bringen, bedarf es doch eines überschauenden Geistes; und den hat Frau Ottilie. Man weiß, daß sie an den Interessen ihres Mannes teilnahm und daß er ihr das geistige und künstlerische Leben der Antike erschloß. – In ihrem Salon hängen kleine und große bunte Bilder, alle eingerahmt, die sie selbst gemalt hat. Später mußte sie diese schöne Kunst gänzlich aufgeben, denn, »Sie wissen ja! Die Kinder!« und verständnisvoller Blick und bedauerndes Kopfnicken auf beiden Seiten. – Frau Ottilie fehlt auf keiner Gesellschaft. Sie verkehrt auch bei Michels; die Kinder lieben sie, da sie so lustig und freundlich ist. Beide sind ihre »Patchen«, sie nennt Peter wieder bei seinem Vornamen: »Als alte Freundin darf ich das! Frau Tinchen wird mir das nicht übelnehmen!« – Tinchen hat eine unbegrenzte Hochachtung und schwärmerische Freundschaft für Frau Ottilie. Wenn diese aus ihrer Jugend erzählt, so hängt sie an ihren Lippen, und ihr Gesicht bekommt dann wieder genau den Backfischausdruck wie damals, als Peter sie kennenlernte. Tinchen fühlt sich dann so beschämt über ihre eigene Unzulänglichkeit. Aber Peter will diese nicht eingestehen und sagt: »Du hast doch dein Pflegerinnenexamen mit der Eins bestanden! Und überhaupt: Wer so viel geleistet hat wie du, der braucht sich wahrhaftig nicht zu schämen! Außerdem bedenke doch: Frau Rektor stammt von Künstlern ab. Bei ihr ist die Kunst eben hereditär!« Und Tinchen läßt sich erklären, was hereditär bedeutet. Sie hat sich ein Buch angeschafft mit weißem Papier, in das sie alles Neugelernte einträgt. Das hat ihr Frau Ottilie geraten: »Das beiläufige, gelegentliche Lernen ist das beste Lernen!« hat sie ihr einmal gesagt, und diesen Spruch hat sich Tinchen vorn als Motto in ihr Buch geschrieben. – Und dann hält Peter eine Rede, in der er ausführt, daß seine Frau wohl hätte eine Künstlerin werden können, wenn sie die Zeit gehabt hätte, sich auszubilden: »Ich könnte alle möglichen Beispiele anführen: Aber nehmen wir doch mal das nächstliegende, die Musik: Wenn sie ordentlich Musikstunden gehabt hätte, ich möchte mal hören, wie sie jetzt spielen könnte! Sie ist eben total Autodidakt! Die Stücke auf der Mundharmonika spielt sie doch wirklich direkt künstlerisch! Tinchen, spiel doch mal!« Tinchen läßt sich nicht lange bitten, sondern zieht ihr Instrument aus der Tasche, reinigt es von Krumen und beginnt, nachdem sie schnell in ihr Buch das Wort Autodidakt notiert hat, ihren Choral, dann das »schwierige Stück« und schließlich noch das, welches keine Begleitung hat und in welchem ihre Kunst erst recht zur Geltung kommt, denn hier kann sie das meiste Gefühl entwickeln; es klingt fast wie eine Kantilene. In letzter Zeit hat sie sogar das Vibrieren auf einem Tone gelernt. Sie erzielt fast violinmäßige Effekte. Ab und zu bricht die Melodie ab, und Tinchen erklärt, dies Instrument ginge nicht so hoch hinauf wie das vorige, welches kaputt sei. Frau Ottilie hört etwas nachsichtig zu, applaudiert aber freundlich; Peter klopft seiner Frau auf die Schulter und gibt ihr einen Kuß. – »Nun soll aber Frau Rektor mal ein Lied singen!« sagt Tinchen, indem sie mit der äußeren Handfläche quer über das ganze Gesicht wischt und sie dann am Taschentuch abreibt; und Frau Ottilie läßt sich erst lange nötigen, aber endlich erhebt sie sich doch mit einem leichten Seufzer: »Kinder, wie ihr einen quält! Aber dann muß mich auch Ihr Mann begleiten.« Peter holt die Noten, ein Lied wird ausgesucht, das sie früher besonders viel gesungen und welches deshalb noch am besten im Gedächtnis haftet. Er rückt den Klavierstuhl zurecht; sie probieren einige Male den Einsatz, endlich haben sie ihn, und nun beginnen sie. Mit einigem Stocken und Wiederholen bringen sie das Lied wirklich zu Ende. Die Tür hat sich geöffnet: Willi und Pinchen stehen da, mit offenem Munde, und hören zu. Tinchen winkt beide zu sich heran und bedeutet sie, leise aufzutreten. Als das Lied zu Ende ist, applaudiert Tinchen eifrig und muntert Willi und Pinchen auf, ebenfalls zu klatschen. Und Peter sagt: »Jammerschade, daß Sie das Singen gänzlich aufgegeben haben!« Und Frau Ottilie sagt: »Ebenso jammerschade, daß Sie das Spielen aufgegeben haben!« Beide beschließen, von jetzt ab wieder zusammen zu musizieren. Peter wendet sich an Tinchen: »Die Kinder müssen unbedingt Musik lernen! Das ist ein Schatz fürs Leben. Junge, möchtest du nicht Klavier lernen?« Willi lacht blöde und verlegen. – »Du hast es gut!« fährt Peter fort. »Ich will dir Unterricht erteilen lassen. Dein Vater hat nie im Leben Klavierunterricht gehabt und hat es doch zu etwas gebracht.«

Eines Tages kommt Frau Ottilie und bittet sich das Bild aus, das sie einst von Peter gemacht hat. Aber Peter verweigert es. Frau Ottilie bittet dringender, und schließlich kommt es fast zu einer kleinen Verstimmung zwischen den beiden. Aber Tinchen vermittelt: »Malen Sie Männe doch einfach noch einmal!« sagt sie. »Das Bild wird gewiß noch viel besser als das, welches wir haben; und nachher will Männe es haben, und dann geben Sie es ihm einfach nicht!« – Frau Ottilie kommt wieder, mit Leinwand, Palette, Pinseln und Farben, und bedeutet Peter, dieses Mal würde er in Öl gemalt; sie entwirft in großen Pinselstrichen eine Skizze, die sehr unähnlich ist, und tröstet sich mit der Hoffnung, die Ähnlichkeit werde bei der Ausführung schon »heraustreten«. Aber sie tritt nicht heraus. – »Es kommt immer anders, als ich will«, sagt sie. »Im Geiste habe ich Ihr Bild ganz deutlich auf der Leinwand, aber die Wirklichkeit will keinen Schritt halten!« Dann versucht sie es wieder in Pastell. Aber auch dieses scheitert gänzlich. Endlich nimmt sie ihn ganz im Profil und versucht eine Bleistiftskizze. Aber sie trifft ihn nicht. – »Ich will Ihnen etwas sagen! Ich sehe, es geht nicht! Ich kann es nicht mehr! Geben Sie mir mein Bild zurück!« Peter schüttelt den Kopf, aber Tinchen tritt zu der Skizze und sagt: »Ist ja schön! O so schön! Ich erkenne ihn ganz genau!« – Frau Ottilie packt ihre Malsachen wieder ein und zieht unverrichteter Sache nach Hause. Nach einigen Wochen aber wird die Familie Michel auf das schönste überrascht: Frau Ottilie hat ihr gescheitertes Künstlertum nicht ertragen können, der Schaden mußte auf andere Weise ausgeglichen werden. Sie hat sich eine gute Photographie von Peter durch dessen Freund Lottermeyer verschafft, der den »alten Mathematikus« seit einiger Zeit im Porträt auf seinem Schreibtisch stehen hat; dieses Bild hat sie mit einem Liniennetz überzogen, und dann hat sie in Kreide eine lebensgroße Kopie gemacht. Diese überreicht sie Peter zum Geburtstag. – »Sie sehen«, sagt sie, »ganz so schlecht steht es doch noch nicht mit mir!« Peter ist voll Bewunderung und holt nun unaufgefordert das alte Pastellbild von seinem Platze über dem Sofa herunter und über [Zeile fehlt?] schmuck einverleibt. Dort bildet es die Perle ihrer Werke. –

Peter geht es recht gut; sein Einkommen hat sich im Laufe der Jahre erheblich gesteigert; er hat Privatstunden, soviel er will, und Tinchen ist eine treffliche Pensionsmutter. Drei Knaben hat sie stets zum mindesten bei sich. Sie versteht den Haushalt billig und doch angenehm einzurichten. Kein Flickchen, kein Lümpchen wird fortgeworfen, und in Gasthäusern wandert der nichtgebrauchte Zucker in ein Säckchen, das zu diesem Zweck auf Ausflügen mitgeführt wird.

Tante Olga ist schon lange tot, und die Umstände ihres Ablebens sind seltsamer Art. Peter erhielt eines Tages von dem Direktor der Irrenanstalt die Nachricht, Fräulein Michel sei spurlos verschwunden seit einigen Wochen. Nach Monaten erhielt er einen zweiten Brief: Endlich habe sich die Sache aufgeklärt, und zwar auf eine traurige Weise. Eines Abends nämlich – es war ein stürmischer, wilder Novemberabend, und der Wind heulte um das alte Schloß, das seit fünfzig Jahren in eine Irrenanstalt umgewandelt war – saß der Direktor in seinem Arbeitszimmer und speiste gerade zu Nacht. Draußen ächzten die Bäume, es klapperte im Schornstein, und mit einem Male kam Fräulein Michel zum Kamin herabgefahren, kohlschwarz und ganz durchräuchert wie ein Schinken. Wie die Sache sich zugetragen, blieb ewig unaufgeklärt. Aber man vermutete als das Wahrscheinlichste, daß sie in einem Momente des Unbewachtseins – freilich setzte hier bereits die Unwahrscheinlichkeit ein, denn die Kranken waren eben stets bewacht – das Schloß bis zum Giebel und vom Dachboden aus durch eine Luke das Dach selbst erklettert habe. Vielleicht hatte alsdann der aus einem der Schlote aufsteigende Rauch ihre Phantasie und ihre Neugierde angefacht, sie war bis zum Schornstein hingeklettert, hatte sich hinübergelehnt, um zu spähen, wer darinnen sei, der Qualm war ihr in die Nase gestiegen, und sie vermutete, daß da unten ein boshafter Geist säße, der ihr übel wollte. So war sie wohl in den Schlot hineingesprungen, um den Kampf ohne weiteres mit ihm aufzunehmen, und mußte alsbald erstickt sein. Die Untersuchung ergab, daß sich im Innern des Schlotes ein großer, uralter Haken befand. An dem war sie wohl hängengeblieben, bis der Winterwind sie an jenem Abend zum Kamin hinuntertrieb. – Peter las diesen Brief bei Tische vor; Tinchen weinte, aber die Pensionäre lachten und wurden zur Strafe ohne Abendessen zu Bett geschickt.

Liesels Eltern sind tot. Sie selbst hat ein gutes Glück gemacht: Sie hat einen Grafen geheiratet und ist die Mutter eines bezaubernd schönen kleinen Mädchens mit seidenblondem Haar und kohlschwarzen Augen, welche fremd und vornehm in die Welt blicken.

Noch einmal sollte Peter Michel sie wiedersehen.

Während er eines Sonntagsmorgens im Wohnzimmer sitzt und seine Pfeife raucht und Tinchen in der Küche das Essen für den Mittag anrichtet, wird ein fremder Besuch gemeldet: Auf der Karte liest er, daß es ein Graf mit seiner Gemahlin ist. Er glaubt, es handele sich um die Anmeldung eines neuen Pensionärs. Er bindet schnell einen reinen Kragen um und begibt sich in die gute Stube, wo der Besuch seiner harrt. Er bleibt aber verblüfft auf der Schwelle stehen, denn im ersten Augenblick hat er Liesel erkannt. Sie dagegen erkennt ihn nicht gleich wieder. Sie zögert, überrascht über die Veränderung seines Äußeren, endlich reicht sie ihm die Hand und wendet sich an ihren Gatten: »Erlaube, Wolf, daß ich euch bekannt mache: Herr Michel, ein Jugendfreund von mir – mein Gatte.« Der Graf verbeugt sich sehr verbindlich, und Peter macht einen steifen Bückling. »Hier – Herr Michel«, fährt sie fort, »stelle ich Ihnen auch meine Tochter Felicitas vor. Felicitas, gib dem Herrn die Hand!« – Und Felicitas reicht ihm zögernd ihre feinen Fingerspitzen. Da tritt Frau Tinchen zur Tür herein, mit gewaschenen Händen und einem gebügelten, breiten Halskragen über der dunkelblauen Sonntagstaille. Peter stellt sogleich vor; er vermeidet Liesels früheren Namen, denn er will nicht die Vergangenheit wieder aufrühren. Tinchen darf nicht erfahren, wer eigentlich die Frau Gräfin sei. Durch die gesellschaftliche Geschicklichkeit des Grafen ist ein oberflächliches Gespräch alsbald in Gang gebracht. Peter kann mit Muße Liesels Gesicht betrachten. Sie ist noch immer eine frappierende Erscheinung. Ihre dunklen Augen ruhen zuweilen fragend auf seinem Gesichte, mit einem leisen Ausdruck der Enttäuschung. Peter merkt das, und sein hausväterlicher Stolz fühlt sich getroffen. Was will sie von ihm? Will sie sein Familienglück beunruhigen? Nun, sie soll erfahren, wie glücklich er ist!

»Ja«, sagt er mit Betonung, »die Hauptsache im Leben ist, das man glücklich wird! Und ich – Frau Gräfin! – kann wohl sagen, daß ich zum Glücke alles habe, dessen es bedarf: ein braves, treues Weib, zwei wohlgeratene, anspruchslose Kinder und ein Heim, in dem die Liebe herrscht, die einfache, reine Liebe, die alles, auch das Kleinste, mit einem Strahl von Poesie umgibt!« – Peter hat seit Jahren in der Aula des Gymnasiums viele Reden gehört; er hat oft selbst solche gehalten, und er hat es gelernt, im gegebenen Moment das richtige Wort zu finden. – »Ich habe in früheren Jahren hochfliegende Pläne und Ideen gehabt!« fährt er fort. »Ich habe Phantomen und Idealen nachgejagt; ich war auf der Jagd nach dem Glücke; und darüber vergaß ich eines: die ruhige Selbstbeschränkung, die Einheit in der Vielheit!« – Liesel blickt ihn befremdet, fast erschreckt an, wie er sie durch seine Brillengläser anschaut und seine seltsame Rede mit Schulmeistergebärden begleitet. – »Ich bin alt geworden, und ich habe gesehen, wie alles auf der Welt eitel und nichtig ist, Rauch und Schaum! Mich hat der Sturm des Lebens auf ein Eiland verschlagen, das fortan mein Eiland wurde, das ich bepflanzte und bebaute, das ich voll und ganz zu meinem Eigentum machte, zu meinem Heiligtum! Ich habe einen Hafen, in dem ich jederzeit vor den Stürmen des Lebens eine Zuflucht finde: meine Familie, den goldenen Hort meines Lebens!«

Tinchen hat sich erhoben und ist dicht an ihren Gatten herangetreten. –

»Ja, ja – Frau Gräfin!« – fährt Peter in schulfestlichem Tone fort, »freuen Sie sich hier an dem Glücke zweier Ehegatten, welches nichts zu stören, nichts zu vernichten vermag! Ob der Lenz auf uns herniederlacht, ob der Winter uns umbraust: Unsere Liebe steht fest wie der Fels im Meer! Nur Einer vermag uns zu trennen – Gott der Allmächtige; wenn er uns den sendet, der unser aller Leben scheidet: den unerbittlichen Tod!«

 


 


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