Friedrich Huch
Peter Michel
Friedrich Huch

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2. Kapitel

Einmal trat der Großvater ins Zimmer und fand Peter, wie schon oft, mit seinen Hellern beschäftigt. Er zählte sie zusammen, indem er in einer langen Reihe alle Jahreszahlen untereinanderschrieb, dann subtrahierte er von der ganzen enormen Summe jede einzelne wieder und war jedesmal erstaunt, wenn am Ende null übrigblieb. Sein Großvater fragte ihn, ob er nicht Lust habe, Rechenlehrer zu werden, und Peter nickte ohne Überlegung und sah die Kinder schon im Geiste. »Aber ich bin ja viel zu klein!« meinte er. »Ja, bis dahin mußt du noch viel lernen«, erwiderte der Großvater. »Ich habe auch nicht angefangen zu lehren, wie ich so klein war wie du! Ich habe auch erst viel lernen müssen!« – Darüber hatte Peter noch niemals nachgedacht, daß Menschen nicht gleich vollkommen als das, was sie später sind, auf die Welt kommen. Jetzt eröffnete sich ihm eine neue Perspektive. Allein ihm wurde etwas beklommen zumute, wenn er bedachte, daß die Welt auch von ihm einst sein Stück Arbeit verlangen würde. Aber der Gedanke, daß ihn der Großvater gleichsam sein Erbe antreten lassen wollte, erfüllte ihn mit Stolz. – Dieser hatte schon seit langem mit den Eltern über Peters Zukunft geredet. Herr Michel hatte stets die dunkle Idee gehabt, daß Peter einst sein Schusterhandwerk übernehmen würde. Er war freudig überrascht, als jemand etwas Besseres wußte. Frau Michel aber ging der Sache tiefer auf den Grund. Als sie hörte, der Großvater meine, Peter solle später einmal die Lehrerstelle des Ortes übernehmen, erklärte sie sich gegen den Plan. Sie habe es ihren Eltern nie verziehen, daß sie ihr nicht eine bessere Bildung gegeben hätten, als sie selbst genossen, und ihr Sohn solle ihr nicht einst ähnliches vorwerfen; er solle eine »städtische« Bildung bekommen. Dem Großvater war dies eigentlich auch mehr zu Sinn, und da die Kosten teuer sein würden, erklärte er sich bereit, sie mit der Familie zu teilen. – »Vorerst muß er eine Realschule besuchen!« erläuterte er. »Alles andere wird sich später finden.« Man sprach den Plan noch hin und her, und eines Tages wurde Peter geholt und über sein Schicksal aufgeklärt. »Unterrichtet da auch der Großvater?« fragte er sogleich. Nun wurde ihm auseinandergesetzt, daß er hier nicht mehr bleiben könne, sondern in eine fremde Stadt käme, jedoch bei einem guten Manne wohnen würde. – Er sagte gar nichts und schluckte nur. – »In den Ferien kommst du natürlich einmal nach Hause!« tröstete der Großvater. »Und Briefe schreibst du auch, wenn du willst. Du sollst einmal sehen, wie lustig es wird!« – Es schien ihm vorläufig zwar noch gar nicht lustig, aber die Zuversichtlichkeit, mit der der Großväter sprach, flößte ihm etwas Mut und Zutrauen ein. Er fragte: »Wann muß ich reisen?« und sah ihm fest und resigniert in die Augen. – »Ich werde einem Freunde von mir schreiben, bei dem wirst du dann wohnen!«

Und so geschah es. Eines Tages wurden ihm ein paar neue Hosen gekauft – er begriff anfangs nicht, wozu. Aber dann wurde es ihm klar. Zum erstenmal sah er sich der Notwendigkeit gegenüber. Am nächsten Morgen erschien die Tante in aller Frühe, überreichte ihm ein seltsames Ding von einem Hütchen, das sie für ihn entworfen und genäht hatte, gab ihm tausend Küsse, warnte ihn vor den Verführungen der Großstadt und eilte trostlos wieder nach Hause. Nun setzten sich die Eltern, der Großvater und Peter in einen Mietwagen und fuhren nach dem nächsten Dorfe, welches Postverbindung hatte. Die Wagenfahrt dünkte ihm das Traurigste, was er je erlebt hatte. Alle saßen schweigsam, jeder mit seinen Gedanken beschäftigt, die auch die Gedanken des anderen waren. Dann hielt der Wagen; Peter wurde in die Postkutsche gepackt, und seine Mutter schärfte ihm noch ein, stets ihrer guten Lehren eingedenk zu sein. Er hörte wie im Traume zu. Aber als ihn sein Vater in die Arme nahm, da brach sein zurückgehaltenes Gefühl sich Bahn, und er weinte unaufhaltsam. Und auch Herrn Michel war, als habe er nun alles in der Welt verloren. Er hielt ihn fest und starrte mit jammernswerten Augen in die Leere. Aber die Zeit drängte. Der Wagen setzte sich in Bewegung. Fanny, der dem ganzen Vorgang ratlos und angstvoll zugesehen hatte, zog straff und leidenschaftlich an der Leine und ließ ein anhaltendes Winseln vernehmen. – »Der gute Junge!« sagte der Großvater, als sie sich zum Heimweg wandten. »Wie es ihm wohl in der Fremde ergehen mag!« –

Nach langer Fahrt kam Peter in dem Städtchen an, wo er von nun ab wohnen und sich weiterbilden sollte. Die Kutsche setzte ihn vor einem großen, dreistöckigen grauen Hause ab, das ihm ein Riesenbau dünkte. Aber schon trat ihm eine Frau entgegen, die ihn im ersten Augenblick an seine eigene Mutter erinnerte. Er sah sie scheu von unten an. – »Nun, nun,« sagte sie gutmütig, »du brauchst dich vor mir nicht zu furchten, kleiner Peter! Komm nur mit herauf, wir haben mit dem Mittagessen auf dich gewartet.« Dann gingen sie zusammen die Treppe hinauf, bis zum dritten Stock. Da seufzte die Frau Kantor vergnügt und sagte: »Gott sei Dank, daß wir oben sind. Das ist jedesmal eine kleine Arbeit!« Sie ließ Peter zuerst in den Vorplatz treten. Eine gegenüberliegende Tür wurde ein wenig geöffnet, und ein kleines Mädchen, ein paar Jahre jünger als Peter, schaute ernsthaft und neugierig durch den Spalt. Die schwarzen Haare hingen ihr fast in die Augen.

»So, nun ruh dich erst etwas aus von der Reise!« Die Frau Kantor setzte ihn auf das Sofa, von dem er sich sogleich wieder herunterarbeitete, um sich lautlos und stumm wie ein Fisch auf einen Rohrstuhl zu setzen. – »Du bist mal ein kleiner wohlerzogener Junge! Aber setz dich nur wieder auf das Sofa! Du bist doch gewiß müde von der Reise, nicht wahr?« – Er schüttelte den Kopf. »Aber du bist doch lange unterwegs gewesen?« – Er nickte. »Nun, dann wollen wir dir gleich etwas zu essen geben!!« – Damit ging sie zur Tür hinaus, und Peter war allein.

Da saß er nun mäuschenstill und wagte nicht, sich zu rühren. Plötzlich öffnete sich eine andere Tür, und ein großer, breiter Mann mit schmächtigem schwarzem Vollbart trat herein. – »Na, da ist ja der kleine Herr Michel endlich angekommen!« – Er streckte Peter seine große Hand entgegen. »Nun laß dich mal anschaun! Nein, das ist ja wunderbar! Sieh nur, Annette«, wandte er sich an seine Frau, die soeben mit der dampfenden Suppenschüssel eintrat, »sieht er nicht ganz genau aus wie sein Großvater? Ja so, den kennst du nicht – nein, aber es ist wirklich auffallend!« Er holte ein mächtiges Schnupftuch aus der Tasche und schnaubte sich posaunenartig die Nase. – »Meine Frau kennst du ja wohl schon«, fuhr er fort, mit der einen Hand auf sie deutend, mit der andern sich die Stirn wischend. »Aber wo bleibt denn die Liesel?« Er sah sich energisch nach allen Seiten um. »Empfehlungen von meiner Mutter!« sagte Peterchen plötzlich. »Wie?« fragte der Kantor. »Wie? Ich habe dich nicht verstanden!« Peter wiederholte es und wurde rot dabei. »Ja so, ach so, danke schön! Nein, auch das Organ hat er von seinem Großvater. Es ist wirklich auffallend. Aber wo steckt denn die Liesel?« Er ging gewichtig auf die Tür zu, steckte den Kopf hindurch und rief mit etwas unterdrückter Stimme: »Na, so komm doch!« Dabei griff er zur Tür hinaus und zog einen kleinen nackten Kinderarm herein, der seinerseits den übrigen Körper nach sich zog: ein kleines Mädchen im rosa Kleid, mit aufgeweckten, sehr schwarzen Augen und dunklem Haar, das ihr in langen Strähnen etwas wirr um den Kopf hing. »Hier ist Peter Michel, und dies ist meine Tochter Liesel! So. Nun gebt euch einmal die Hand.« Peter sah zu Boden, während ihn das kleine Mädchen scheu, aber neugierig von der Seite anblickte. – »Nun kommt zu Tische, sonst wird die Suppe kalt!« rief die Mutter. Peter glaubte sich von allen Seiten beobachtet und aß fast gar nichts. »Nur nicht genieren! Das gibt es bei uns nicht!« rief der Kantor. »Weißt du wohl, daß ich, wie ich klein war, bei deinem Großvater in die Schule ging?« Peter sah ihn überrascht an. Er wurde ihm menschlich nähergerückt. – »Jawohl! Und habe manche Hiebe von ihm bekommen!« – Er lachte, daß es schallte. – »Aber er ist ein prächtiger Mann, und wenn du mal so wirst wie er, dann können deine Eltern wohl zufrieden sein!« Peter sah stolz-beschämt zu Boden. Nach dem Essen sagte die Frau Kantor:»So, ihr beiden! Nun kennt ihr euch ja und könnt mal in den Hof hinuntergehen und mitsammen spielen!«

Das kleine Mädchen nahm ihre Puppe unter den Arm und ging zur Tür hinaus. Beide stiegen schweigend die Treppe hinunter; er bemühte sich, möglichst leise aufzutreten, während sie leicht und graziös hinuntertrippelte. Sie setzte sich sofort in ein Kellerfenster und begann ihre Puppe auszukleiden. Peter stand verlegen daneben und gab sich Mühe, beschäftigt auszusehen. Sie warf ihm zuweilen einen Blick zu, sah aber sofort zur Seite, wenn er sie ebenfalls ansah. Da fiel der eine Schuh der Puppe zu Boden. Peter hob ihn sogleich auf. Beide lachten sich etwas unschlüssig an. – »Wie findest du sie?« fragte Liesel endlich. – »Wundervoll!« versicherte er aufrichtig. – »Echte Haare!« – »Wie heißt sie denn?« – »Fanny!« – Peter sah sie etwas fassungslos an. – »Was du für ein Gesicht machst! Ist das ein so wunderbarer Name?« Er gestand nun zögernd, daß er daheim einen Hund habe, welcher ebenfalls Fanny heiße. – »Pfui! Wie kann man einen Hund so nennen!« Peter sagte gar nichts. Ihm fiel plötzlich auf die Seele, daß er Fanny ja gar nicht Lebewohl gesagt habe und daß dieser sich nun um ihn gräme.

»Komm!« sagte Liesel. »Wir wollen Strick springen.« Sie band ein Ende an den Türgriff und schob das andere Ende Peter in die Hand. Er wußte durchaus nicht, was er nun tun mußte. »So dreh doch!« rief sie. – »Wie denn?« Sie zeigte es; er begriff sofort. Aber er machte es ungeschickt; ihre Beine fingen sich fortwährend in der Schnur. – »Ach, du kannst es nicht!« rief sie endlich. »Warte, ich will mal allein springen!« Sie band das eine Ende los, nahm Peter das andere aus der Hand, faßte beide kräftig mit ihren Fingern und setzte die Schnur selbst in Bewegung; sie sprang erst langsam, dann schneller und immer schneller. Ihre schwarzen Haare flogen im Winde, der Strick kreiste schnurrend durch die Luft, sie schien den Boden kaum zu berühren; er war wie elastisch unter ihren Füßen. Peter sah ihr staunend zu. Sie schien unermüdlich.

Plötzlich hörte sie mit einem Ruck auf und rief: »Ach, ich kann nicht mehr!« Sie war feuerrot geworden, warf ihre Haare zurück, machte matte Augen und atmete schnell: »Nun mußt du aber auch mal springen!« Peter erklärte, er habe es noch nie versucht und wüßte auch bestimmt, daß er es nicht könnte. – »Ach was, probier nur mal!« Sie band das eine Ende sogleich wieder an den Türgriff. »So komm doch! Ich drehe ganz langsam, dann kannst du es lernen.«

Beim ersten Male kam er auch richtig hinüber. Er sprang mit beiden Beinen zugleich in die Höhe. Das zweite und dritte Mal ging es ebenso. Beim vierten Mal nicht mehr. – »Noch mal!« rief sie, und der arme Peter wurde abermals in Bewegung gesetzt. Er begann zu keuchen, aber er hielt sich tapfer. Dann wurde die Bewegung schneller, und schließlich beschleunigte sie das Tempo dermaßen, daß er nur noch sinnlos und wie rasend in die Luft sprang. Dabei machten seine eisenbeschlagenen Stiefel einen so heillosen Lärm auf dem Pflaster, daß die Nachbarn aus den Fenstern schauten. Der Strick drehte sich schon lange nicht mehr, aber Peter sprang noch immer, mit krampfhaft zugekniffenen Augen. Endlich merkte er es und hörte auf. Liesel hatte ihn ausgelacht, und er schämte sich vor ihr. Um sich zu beschäftigen, band er den Strick los, wickelte ihn zusammen und reichte ihn ihr. »Du hast ja abgebissene Nägel!« rief sie. Er wurde blutrot. »Oh, ich habe auch welche! Sieh nur!« Sie hielt ihm alle zehn Finger unters Gesicht und sah ihn funkelnd an. Aber sie hatte sie zierlicher abgebissen als er die seinen. – »Liesel!« rief in diesem Augenblick die Mutter. »Ja?« rief sie zurück und blinzelte in die Höhe. – »Ihr könnt jetzt wieder heraufkommen!« – »Wir wollen einen Wettlauf machen, komm! Eins, zwei, drei!« Wie der Sturmwind war sie davon, Haare, Röcke, Beine flogen. Peter folgte langsam. Er wollte in dem fremden Hause keinen Lärm machen. Sie stand schon lange oben. »Ätsch!« rief sie und zeigte ihm alle ihre spitzen, weißen Zähne.

Inzwischen hatten sich die Kantorsleute über Peter ausgesprochen. Beide waren über den ersten Eindruck sehr befriedigt. »Nur etwas schüchtern scheint er noch zu sein«, meinte Frau Annette. – »Ich werde ihn heute mal etwas prüfen«, sagte ihr Gatte. »Sehr weit scheint er mir noch nicht zu sein. Sein Großvater ist ja ein prächtiger Mann, aber viel Ahnung von dem, was hier auf Realschulen verlangt wird, wird er wohl doch nicht haben!«

»So, Liesel! Nun mach du mal deine Schularbeiten; sonst mußt du wieder nachsitzen, wie gewöhnlich!« Liesel warf Peter einen schnellen, etwas verlegenen Blick zu und lachte. Dann machte sie ein Geräusch mit der Nase. – »So nimm doch dein Taschentuch!« – »Habe keins.« – Die Mutter gab ihr ihr eigenes. »Nun, Peter, die Liesel hat dir wohl etwas zu schaffen gemacht? Sie ist ein arger Wildfang! Du scheinst mir aber ein vernünftiger kleiner Mann, du mußt etwas acht auf sie haben, daß sie nicht zu tolle Streiche macht!« – Liesel machte ein etwas schnippisches Gesicht. Jetzt forderte ihn der Kantor auf, mit in sein Arbeitszimmer hinüberzukommen, er habe etwas mit ihm zu bereden. Peter folgte ihm mit dem dunklen Gefühl, man würde ihn auch von hier wieder fortschicken, in eine fremde Stadt. Aber so schlimm sollte es nicht kommen. – »Wie weit bist du denn in Geographie?« fragte ihn der Kantor. »Was ist das?« sagte Peter sehr ernsthaft. Der Kantor sah ihn etwas erstaunt an. – »Was weißt du in Geschichte?« – Schweigen. – »Kannst du schreiben?« fragte er plötzlich. Peter nickte und malte alsbald langsam, aber sicher seinen Namenszug, und als er fertig war, überreichte er das Blatt dem Kantor mit einem Abschiedsblick darauf. – Peter Michel – stand da auf dem Papier in deutlichen, deutschen Lettern, mit keulenartigen Strichen und kürbisartigen Ausbuchtungen. Er wurde nun in Religion geprüft, und da zeigte sich, daß er sehr gut beschlagen war. Auch im Rechnen, Deutsch und Naturgeschichte wußte er genug. – »Wenn ich dir nun einen guten Rat geben soll«, sagte der Kantor, »so lege dich heute frühzeitig zu Bett, dann kannst du tüchtig ausschlafen und bist morgen frisch beim Examen!« Peter sagte sofort zu Frau Annette, er wolle frühzeitig zu Bette gehen, damit er tüchtig ausschlafen könne, um morgen frisch zu sein beim Examen. »Nun, das ist vernünftig«, antwortete sie. Dann nahm sie ihn bei der Hand und führte ihn in seine Kammer, zeigte ihm alles Nötige und sagte ihm gute Nacht. Peter reckte unwillkürlich den Köpf in die Höhe. – »Ach so! Das hätte ich beinahe vergessen.« Sie gab ihm einen herzhaften Kuß. Vor dem Zubettgehen wollte er noch seinen Koffer auspacken. Aber beim Anblick all der bekannten Sachen aus der Heimat wurde ihm traumhaft zumute. Ihm war, als sei er wieder im Reisewagen und höre das eintönige Getrappel der Pferde. Die Anstrengung der letzten Tage, die neuen Erlebnisse und Eindrücke äußerten jetzt ihre Wirkung. Er ließ alles liegen, legte sich zu Bett und verfiel alsbald in einen festen, traumlosen Schlaf. Am nächsten Morgen wunderte er sich, daß sein Bett so lang war. Dann fielen ihm die fremden Möbel in die Augen, und jetzt wußte er wieder, wo er sich befand. Er lauschte. Unten fuhr ein Wagen über die Straße. Nebenan tickte eine Uhr. Er erhob sich leise und kleidete sich an. Unter seinen Sachen entdeckte er plötzlich ein Bildchen in goldenem Rahmen, das Porträt eines Mohren, wie ihm schien. – Er drehte und wendete es im Licht, und auf einmal erkannte er seinen eigenen Großvater. Er stellte es auf die Kommode und versenkte sich in seinen Anblick. – »Nun sieh einer mal an! Du bist schon fix und fertig, und die Liesel, der Faulpelz, liegt noch im Bette und hat doch nicht eine solch lange Reise hinter sich wie du! Geh nur vorn ins Wohnzimmer, wir kommen gleich zum Kaffee.« – Peter nahm den Kuchen mit, den ihm seine Mutter gebacken hatte, und stellte ihn mitten auf den Tisch. Dann besah er ein Bilderbuch, das in der Ecke lag. Allen Damen hatte die Liesel Bärte gemalt. Er sah sie nachdenklich an und dachte: Aber das ist doch nicht recht! Ein furchtbares Fauchen ertönte im Nebenzimmer. Es war der Kantor, welcher sich die Zähne putzte. Er wuchs in Peters Augen an Männlichkeit. – »Gehört der Kuchen dir?« fragte Liesel, die jetzt ins Zimmer trat. – »Ja! Aber ihr sollt auch was davon abhaben!« – Sie eilte sogleich zu ihrer Mutter, der sie flüsternd den Sachverhalt mitteilte. Sie lobte ihn wegen seiner Freigebigkeit, aß aber selbst sehr wenig davon. Auch der Kantor lobte ihn und wütete nach Kräften in dem Kuchen. Peter saß kauend in der Mitte, und er begann Zutrauen zu diesen Menschen zu fassen und etwas freier in die Zukunft zu sehen. Liesel trat ihn unter dem Tisch mit ihren Füßen und war beleidigt, als er diese Tritte nicht erwiderte. – Die Prüfung fiel für Peter so aus, wie der Kantor es erwartet hatte; er wurde in die unterste Klasse aufgenommen, mit der Bedingung, daß er in einigen Fächern Nachhilfestunden bekäme. Am selben Nachmittag setzte er sich hin und schrieb einen Brief an seine Eltern, in dem er ihnen alles mitteilte.

So ging er nun jeden Morgen zur Realschule. Liesel, die denselben Weg machte, wartete meist ungeduldig auf ihn. Er ordnete seine Bücher jedesmal nach einem sinnreichen Prinzip in seinen Tornister, und war er glücklich fertig, so packte er plötzlich alles wieder aus, weil ein Buch verkehrt stand oder weil die Hefte nicht alle beieinander lagen oder weil er fand, der Federkasten stehe da so einsam in der Ecke. Manchmal half ihm Liesel, wenn es ihr gar zu langweilig wurde, aber sie ging dabei so blind zu Werke, daß die Sache noch viel länger dauerte. Auf dem Schulweg trabte er geradeaus, ohne nach rechts und links zu sehen, während sie sich den Weg durch allerlei Kurzweil angenehm zu machen suchte. Bald ging sie mit einem Fuß auf dem Fahrweg, mit dem anderen auf dem Pflaster, und behauptete, sie hinke, bald machte sie den Weg von einer Steinritze zur anderen springend, oder sie begann die Schritte zu zählen, jeden neuen Zehner laut ausrufend. Hier fand sie bei Peter sympathische Regungen. Er zählte mit ihr im Verein alle Einer, während sie die Zehner allein übernahm, und brüllte dann schließlich: »Hundert!«

Es wurde ihm nicht leicht, mit den übrigen Schülern fortzukommen. Gegen Abend hatte er stets eine Privatstunde beim Kantor, der ihm auch seine Arbeiten nachsah. Sehr gern vertiefte er sich in die Landkarte. Besonders sagte ihm Afrika zu, weil er es in seiner Form so gemütlich und behäbig fand. Den Kongo liebte er aus demselben Grunde. Überhaupt hatte er Vorliebe für alles Runde, Ausgebogene, für Kugeln, Kuppeln und Gewölbe. Er kannte nichts Schöneres, als mit dem Zirkel Kreise zu schlagen, und freute sich tief und behaglich, wenn der Bleistift so vergnügt und sicher herumschoß, ohne nach links und rechts abzuweichen. Etwas Neues war ihm auch das Turnen, in dem er übrigens so gut wie gar nichts leistete. Wenn er über eine Leine springen sollte, so nahm er gewöhnlich zunächst einen mächtigen Anlauf, dachte aber in der Folge gar nicht mehr an den eigentlichen Zweck desselben, sondern trabte nur eiligst dahin, etwa wie ein alter Herr, welcher fürchtet, den Anschluß zu verpassen, und nun in letzter Minute seine Beine tüchtig in Bewegung setzt. An die Taue hängte er sich wie ein Gewichtstück und war absolut nicht in die Höhe zu treiben. Nur hanteln konnte er besser als die andern und werfen, obgleich er oft das Ziel verfehlte. Aber er hatte Muskelkraft. Deshalb stand er auch bei seinen Mitschülern in einer gewissen Achtung. Wegen seiner unendlichen Gutmütigkeit und Arglosigkeit war er bei allen bekannt. Aber wie es in der Welt geht: anstatt ihn deswegen mehr zu lieben, suchten sie diese Schwäche nach allen Richtungen hin auszubeuten, stets mit demselben vollständigen Erfolge. »Da oben fliegt ein Adler!« rief einer. Während nun Peter sich die Augen aussah nach dem Tiere, erhielt er plötzlich einen Ruck von hinten unter die Beine und lag auf der Erde. Dann stand er wieder auf, bürstete sich mit der Hand ab und sagte: »Aber das müßt ihr doch nicht tun!« Darauf sah er aufs neue in den Himmel und sagte schließlich etwas ärgerlich: »Ja, nun ist er weg!« Furchtbar böse aber konnte er werden, wenn man ihm an seinen Sachen einen ganz ersichtlichen Schabernack spielte. Dann fuhr er auf irgendeinen los, der ihn besonders unverschämt anlachte, prügelte ihn wie rasend durch, hieb und trat um sich und war wie besessen. Bei all den Streichen, die gegen die Lehrer ins Werk gesetzt wurden, tat er nicht mit; doch spielte er nie den Verräter. – Freunde hatte er so gut wie gar nicht; sein einziger Umgang war das Liesel, an das er sich mit brüderlicher Treue angeschlossen hatte. Sie tyrannisierte ihn auf das furchtbarste. Er mußte ihr die Stiefel zuknöpfen, auf dem Schulweg verlangte sie plötzlich, er solle so schnell wie möglich nach einer entfernten Ecke laufen und ebenso schnell wieder umkehren, und wenn er es nicht tat, so hatte sie vor Ärger Tränen in den Augen, worauf er sich dann doch in Bewegung setzte und das Verlangte nachholte. Dann schmollte sie, warum er es nicht gleich getan habe. Ihr Spiel mit dem Zahlenausrufen ließen sie mit der Zeit, als es ihnen kindisch vorkam. Sie machte nun wie eine kleine Dame ihren Weg. Peter mußte ihr oft die Mappe tragen. Einmal wollte sie ihm das Bildchen des Großvaters fortnehmen, weil ihr der kleine Rahmen so gefiel. Peter aber behielt es fest in seiner Hand, sie drehte und krallte an seinen Fingern, ohne sie öffnen zu können. Schließlich warf sie sich mit ihrem ganzen Kopf über seine Faust, daß die schwarzen Haare bis zur Erde hingen, und biß ihn mit ihren weißen, spitzen Zähnen in den Daumen. Aber er ließ nicht los. Da kam die Mutter ins Zimmer, trat auf Peters Seite und schalt ihre Tochter. Liesel lief hinaus, schloß sich in das Schlafzimmer ein und warf sich schluchzend auf ihr Bett, zerbiß ihr Taschentuch und starrte verzweifelt an die Decke. Dann sprach sie mit Peter drei Tage lang kein Wort. Am Abend, als er zu Bett ging, fand er das kleine Bild zertrümmert auf der Kommode. Aber er sagte nichts; das Liesel fühlte sich innerlich beschämt und war deshalb äußerlich noch viel trotziger. Die Frau Kantor tat, als wüßte sie von nichts, und liebte Peter nur um so mehr, während sie mit Sorgen an ihre ungezogene Tochter dachte.

Peter fühlte sehr wohl, daß ihm diese Frau mehr Zärtlichkeit entgegenbrachte als seine eigene Mutter, und er empfand es wohltuend, obgleich es ihn im Grunde traurig machte. – An seinen Vater dachte er viel und mit einem dunklen Schmerz. – Am schönsten waren immer die Abendunterhaltungen nach Tisch. Der Kantor arbeitete dann allein in seinem Zimmer, und Peter erzählte manches von zu Hause, von dem schönen Garten, von den Winterabenden, den Sommertagen auf dem Felde, von seinem Großvater und von anderem mehr. Einmal erzählte er auch von Tante Olga, und von da an quälte ihn Liesel jeden Abend, er solle von Tante Olga erzählen. Aber er tat es nicht. Als sie jedoch eines Tages das Hütchen entdeckte, da war der Jubel vollkommen. Sie taufte eine ihrer Puppen »Tante Olga«, erdachte sich die wunderbarsten Dinge, die sie sie verüben ließ, und man sah alsbald dem armen, zerschlagenen Wesen an, daß es ganz besondere Schicksale zu bestehen hatte.

So lebten alle friedlich dahin, als eines Tages eine neue Figur in ihren Kreis trat: ein feiner, blonder Junge, etwa zwei Jahre älter als Peter, mit sehr eleganten Manieren. Er war fortan Pensionär beim Kantor. Liesel, die nun schon in das Alter kam, wo die kleinen Mädchen halbe Damen werden, erwiderte seine galante Verbeugung durch einen graziösen kleinen Knicks. Für Peter hörte die schöne, gemütliche Zeit allmählich auf. Er mußte sein Zimmer teilen; der fremde Knabe war vornehm und gelangweilt. Peter behandelte er etwas nachsichtig und würde ihn noch mehr über die Achseln angesehen haben, hätte er den guten Fanny einmal zu Gesichte bekommen. Liesel gefiel der neue Verkehr ausnehmend gut. Er imponierte ihr. Peter ging jetzt gewöhnlich still daneben, wenn sie ihren Schulweg machten und er ihre schwarzen Haare lobte oder von den Rennen der Großstadt erzählte. Sie beachtete dann Peter gar nicht und befleißigte sich einer möglichst korrekten Ausdrucksweise. – »Feines Mädel!« sagte er einmal zu Peter. »Hat Rasse!« – Darauf wußte Peter gar nichts zu antworten. In der Schule war er ziemlich faul, da er außerhalb derselben zumeist seinen Tanzstundendamen nachlief. Liesel wurde allmählich in ihrem Stolze gekränkt. Sie fühlte wohl, daß Peter ein treuerer Kamerad war; so kamen sich die beiden wieder näher, und sie nannte ihn mit besonderer Genugtuung »du«. Doch schien das keinen großen Eindruck auf den anderen zu machen.

Die Frau Kantor sagte oft zu ihrem Mann: »Sonderbar, den einen hat man von Anfang an liebgehabt, und der andere bleibt einem stets ein Fremder!«

So nahte allmählich die Zeit, wo Peter konfirmiert werden sollte. Er wanderte nun mehrmals die Woche zum Unterricht und freute sich auf den Moment, wo er einmal wieder neue Hosen bekommen sollte; denn die gegenwärtigen waren weder lang noch kurz, sondern gingen ihm gerade bis an die Waden.

Den Tag vor seiner Konfirmation kam Frau Michel angereist. Sie hatte sich vorher brieflich angemeldet. Liesel öffnete die Tür: »Mama, eine fremde, dicke Frau!« Aber Frau Michel war bereits hinter ihr eingedrungen, machte einen städtischen Knicks und stellte sich vor. Frau Kantor freute sich aufrichtig, Peters Mutter kennenzulernen, versicherte, daß es ihr leid sei, sie nicht beherbergen zu können, und man sah ihr an, daß es ihr wirklich leid war. Frau Michel begann sofort über Peter zu reden und verlangte gründlichen Bescheid über seine Aufführung. Sie sei seine Mutter, und eben darum müsse sie völlige Klarheit über ihn haben; sie wäre durchaus nicht blind für die Fehler ihres Sohnes, wie sie ja überhaupt in ihrer Erziehung – hier lächelte sie diskret-zufrieden – stets eine sehr vernünftige Weise befolgt habe. Die Frau Kantor ließ sie ruhig zu Ende reden und teilte ihr darauf mit, daß sie niemals Anlaß gehabt habe, über Peter zu klagen, daß er ein grundguter Junge sei und daß es bis zum Erwachsensein wohl noch eine gute Weile haben werde. Er entwickele sich langsam; sie fürchte, er würde später einmal nicht leicht durchs Leben kommen. Sie hoffe auf die Zeit der Universität, wo er gezwungen wäre, selbständig zu handeln, wodurch er eine gewisse Festigkeit der Welt gegenüber gewinnen würde. Hier sprang Frau Michel ein: Sie fand die Ansichten sehr verständig und betonte mehrere Male, sie hätte dies alles ebenfalls schon oft gedacht. – Die Tür öffnete sich, und Peter trat herein. Er ging verlegen auf sie zu, küßte sie auf die Backe und fragte, wie es ihr und seinem Vater ginge. Sie klopfte ihn auf die Schultern, musterte ihn und sagte: »Nein, was bist du für ein großer Junge geworden! Und wie gesund du aussiehst! Nu, wie geht es dir denn?« – »Gut!« versicherte er ernsthaft. Dann ging er auf die Frau Kantor zu, gab ihr die Hand, setzte sich neben sie und sah wieder schüchtern auf seine Mutter. Unklare Empfindungen durchzogen ihn. Er fühlte sich zu ihr gehörig – und doch war es ihm wieder, als ob sie ihm im Grunde fremd wäre. Dabei fühlte er ein Unbehagen, als ob er Rechenschaft über irgend etwas abzulegen hätte. Frau Michel machte eine zurückgesetzte Miene: sie ärgerte sich über ihn und über die Frau Kantor, welche ihm mütterlich über die Haare strich und sagte: »Jawohl, er ist groß geworden. Weißt du wohl noch, Peter, wie du damals mit dem Wagen ankamst und Angst vor mir hattest?« Peter nickte. Frau Michel aber saß mißvergnügt in ihrem Sessel: »Nun, hast du jetzt etwa Angst vor mir? Weshalb setzt du dich so weit weg von mir?« Peter erhob sich sofort und setzte sich neben sie. – »Dein Vater läßt dich grüßen. Wenn du mit der Schule fertig wärest, dürftest du auf einige Zeit nach Hause kommen! Du möchtest nicht böse sein, daß er jetzt nicht mitgekommen sei, aber er wäre des Reisens ungewohnt und scheue sich, unter Leute zu kommen. – Sie müssen nämlich wissen«, wandte sie sich an die Kantorsfrau, »mein Mann ist etwas weltscheu; er ist wenig herausgekommen; es ist ja auch ganz natürlich! Dein Großvater ist krank, liegt im Bett und ist sehr schlechter Laune. Mein Gott, er ist ja nun schon in den Siebzigern. Tante Olga habe ich natürlich nicht mitgenommen. Du weißt ja, sie war stets absonderlich; ihr Gebaren ist in letzter Zeit noch seltsamer geworden. Aber es wird Zeit, daß ich mich empfehle!« – Man bat sie für das Abendessen, und sie nahm die Einladung etwas überschwenglich an. Mit dem Kantor tauschte sie Erinnerungen aus ihrer Jugend aus; Peter hörte andächtig zu und bekam manches zu hören, was ihm neu war. So hörte er, wie seine Mutter den Großvater einen eigensinnigen Mann nannte, mit dem es schwer sei auszukommen; was auf ihn einen großen und fremden Eindruck machte. Für Liesel schien Frau Michel keine besondere Vorliebe zu haben, wie auch das Liesel nicht für sie. Der fremde Knabe hatte sich sogleich für den Abend entschuldigen lassen. Frau Michel war ihm zu vulgär. Diese bedauerte lebhaft seine Abwesenheit und äußerte den Wunsch, auch dessen Vater kennenzulernen. Peter hielt sie ihn als Muster eines guten Benehmens vor, an dem er lernen könne. Die Kantorsfrau hatte Frau Michel bald durchschaut und richtete ihr Benehmen danach ein: Sie gab ihrer angeborenen Liebenswürdigkeit noch einen besonderen Stoß, und Frau Michel, geschmeichelt durch ihre Zuvorkommenheit, vergaß ihre frühere Eifersucht und hatte wohlwollende Blicke für sie. Der Kantor öffnete eine der Flaschen, die für den folgenden Tag bestimmt waren, man trank auf das Wohl des Großvaters und dann auf das Wohl der Frau Michel, die ihnen die Ehre ihres Besuches angetan hatte. – Ihr Urteil über diese Leute stand jetzt fest, und sie überlegte schon in Gedanken, mit welchen Worten sie es ihrem Vater gegenüber aussprechen wolle und wie sie nebenbei noch ihrem Manne eine Lektion erteilen könne. Peter brachte sie darauf zu ihrem Gasthofe. Auf dem Wege teilte sie ihm ihre Eindrücke in gewählter Sprache mit. Peter, der noch nie im Leben auf den Gedanken gekommen war, sich Rechenschaft über seine Eindrücke zu geben, hörte andachtsvoll zu, und es war ihm, als rede sie über ganz fremde Menschen.

Am nächsten Morgen wachte er sehr früh auf. Heute werde ich konfirmiert! dachte er. – Er würde nun ein Organ der christlichen Gesellschaft werden, hatte der Pastor gesagt. Ihn befiel eine Beklommenheit, wenn er an die Zukunft dachte, die erwartete, einen Mann in ihm zu sehen. – Was sollte er für ein Gesicht machen, wenn er nun da oben stand und aller Augen auf ihn gerichtet waren? Würde der fremde Pensionär nicht verächtlich zu ihm herübersehen? Er blickte unruhig nach dessen Bett hinüber. Sein weißer, schöner Hals schien wie abgeschnitten durch die gestickte rote Kante seines feinen Hemdes. Vor seinem Bette standen ein paar Schuhe aus zartem, grünem Leder. Seine eigene Bedürftigkeit und Niedrigkeit traten ihm recht vor Augen.

Plötzlich fiel es ihm auf die Seele, ob es auch keine Sünde sei, daß er sich konfirmieren ließ. Denn er vermißte undeutlich in sich die nötige Weihe und Würde. Er glaubte ja alles, was der Pastor gesagt hatte; an den Worten Erwachsener, wenn sie ernsthaft gesprochen wurden, zweifelte er überhaupt nie – und wieviel weniger, wenn sie, wie hier, mit der feierlichsten Unumstößlichkeit vorgetragen wurden! Und doch war es eigentlich mehr eine fremde Macht, der er sich beugte, weil sie es so verlangte, als eine Gnade, die er selbst gesucht hätte. – Er zog die Bettdecke über seinen Kopf und wünschte sich weit, weit fort, nach Hause, zu seinem Vater. –

»Peter! Du fauler Junge! Willst du mal aufstehn?!« – »Es geht wohl schon an?« rief er erschreckt. »Nein, aber wir sind schon mit dem Kaffee fertig.« Peter zog sich in aller Eile an. Dabei ging er sehr vorsichtig mit dem neuen langen Rocke um. Er setzte zur Probe den neuen Hut auf und besah sich nachdenklich im Spiegel. Da blickte ihn ein anderer Peter Michel an, ernsthaft wie ein Mann, in einem bürgerlichen Rocke. Da fiel ihm des Pastors Wort von dem christlichen Organe wieder ein. Er musterte sein Gegenüber und kam sich selbst so fremd und feierlich vor, daß ihm unter seinen eigenen Blicken unbehaglich ward.

»Junge, sag mal deine geistlichen Sprüche und Regeln her!« sagte der Kantor, als Peter sich an den Kaffeetisch setzte. Peter wollte gerade den Mund auftun, um herzusagen, als Frau Annette auf ihn zutrat: »Das wollen wir jetzt lieber lassen! Ich denke, Peter trinkt seinen Kaffee, und dann soll er seine Mutter besuchen. Das gehört sich so für einen Jungen an seinem Konfirmationstage. Nicht wahr, Peter?« Er nickte, obgleich er viel lieber daheim geblieben wäre. Dann band er mit großer Sorgfalt eine riesige Serviette um, damit auch ja kein Tropfen auf den neuen Rock falle. Aber es sollte anders kommen: Dem Kantor ging nämlich die Zigarre aus, und er langte nach den Streichhölzern, die in Peters Nähe standen. Dieser fuhr dienstfertig mit der Hand nach ihnen und riß mit dem Ärmel seine Tasse um, in der, wie gewöhnlich, der Löffel steckte. Er machte zwar einen schnellen Ruck nach rechts, aber die Flut ereilte doch gerade noch sein linkes Knie. Nun stand er da, und er meinte, die Welt müsse untergehen. Der Kantor lachte aus vollem Halse, aber seine Frau holte ein Becken mit Wasser und einen Schwamm und begann die Hose sorgfältig zu reinigen. Sie tröstete ihn und sagte, so etwas könne vorkommen. Dann trocknete sie. die Stelle mit dem Handtuch nach und meinte prüfend: »Nun soll mir aber einer mal sagen, daß da ein Fleck gesessen hat.« Frau Michel sah es sofort.

Peter fand sie beschäftigt, sich eine neue Krause in ihr bestes Kleid zu nähen. – »Was hast du denn da auf dem neuen Anzug?!« Peter beichtete alles heraus. Sie war aufs höchste empört über die leichtsinnige Unachtsamkeit ihres Sohnes, warf ihm vor, er wüste nur so drauflos mit seinen Anzügen, und sie wisse nicht, wo das noch einmal mit ihm hinaus solle. Dann untersuchte sie sein Gesicht und seine Ohren. – Da war nichts auszusetzen, »Zeig mal deine Hände!« Peter reichte ihr die inneren Flächen hin. – »Nun die andere Seite!« Er drehte sie um und hielt die Finger gekrümmt. – »Ausstrecken!« – Er tat es ängstlich. – Pause. – »Was ist denn das?« fragte Frau Michel endlich, wirklich starr. Peter versicherte, daß er schon seit drei Wochen die Nägel nicht mehr abgebissen habe, aber daß sie gar nicht wachsen wollten. Frau Michel hörte kaum, was er sagte. Sie ging im Zimmer auf und ab und rief, sie hätte nicht geglaubt, daß ihr Sohn so viel Unehre über sie bringen würde. Dann ließ sie heißes Wasser bringen und bearbeitete seine Finger auf das fürchterlichste. Schließlich hielt sie erschöpft inne und sagte: »So, nun trocken dich ab, aber bitte vorsichtig, daß du nicht auch noch den Handtuchhalter mit herunterreißt!« Dann wollte sie wieder den Fleck auf seinem Knie besehen, konnte ihn aber nicht mehr finden. »Nun, das ist dein Verdienst auch nicht!« sagte sie ärgerlich. »Jetzt komm, wir müssen fort. Kannst du denn wenigstens deine Sprüche und Regeln, daß du mir nicht auch noch darin Schande machst?« Peter bejahte. Sie verlangte einiges aus dem Katechismus, und da er es ohne Stocken hersagte, glaubte sie, daß alles in Ordnung sei.

Draußen läuteten die Glocken. »Wieviel Zeit haben wir nun mit diesen Dingen versäumt«, sagte sie, »und wie einträchtig hätten wir hier sitzen können!« Peters gänzliche Zerknirschtheit rührte sie etwas, und sie hatte das Gefühl, daß sie ihre Heftigkeit wieder ein wenig gutmachen müsse. »Da! Hier!« – Sie gab ihm ein paar Bonbons aus einer Tüte, die sie in der Stadt gekauft hatte, denn sie aß gern Süßigkeiten, ohne es jedoch wahrhaben zu wollen. Nun machten sich beide auf den Weg. Zwei ältliche Damen blieben stehen und sagten: »Ach nein, was für ein freundlicher Junge!« Dabei sahen sie sich innig an. »Und die Frau dabei ist gewiß seine Mutter!« fuhr die eine fort. – »Und noch so jung!« sagte die andere. Frau Michels schlechte Laune war im Nu verflogen. Sie bezog die letzten Worte ohne Besinnen auf sich und war stolz über das Lob ihres Jungen. Doch würdigte sie die Damen keines Blickes. Dann schritten sie durch das Kirchtor, das mit zwei mächtigen Tannenbäumen geschmückt war. Der Kantor präludierte auf der Orgel, und bald erscholl der einleitende Choral. Dann folgte die Rede des Pastors; für Peter bot sie nichts Neues, Unverständliches. Er hatte das alles schon so und so oft gehört; aber je mehr er sich dann dem heiligen Tische näherte, um so beklommener wurde ihm. Er sah auf, und seine Augen begegneten denen der Frau Kantor, welche stolz und liebevoll auf ihm ruhten. Wie im Traum bewegte er sich vorwärts, und als er nun das Abendmahl wirklich nahm, da schwindelte ihn leise. Er vergaß, was er doch so genau wußte: daß er zu warten habe, und wollte weitergehen. Aber der Pastor hielt ihn unmerklich am Rocke fest und sprach den Segen über ihn. Darauf ging er zu seinem Stuhle zurück mit dem Gefühl, etwas Wirkliches genossen zu haben. Für ihn war die Konfirmation zu Ende; denn was nun folgte, bezog sich auf die übrigen oder war allgemeiner Teil. Der Knabenchor sang seinen Choral, und die Feier fand ihren Abschluß. Unter den Klängen einer freien Orgelfantasie des Kantors verließ die Gemeinde langsam die Kirche.

Peter hatte sich sogleich zu seiner Mutter gesellt, die neben der Frau Kantor auf ihn wartete. Beide Frauen küßten ihn. – »Mein Mann wird gleich herunterkommen; wir wollen hier solange bleiben«, sagte Frau Annette. Frau Michel wünschte, inzwischen mehreren Herrschaften vorgestellt zu werden: einem Rentamtskasseninspektor mit seiner Frau und einer älteren Dame; alle drei Verwandte vom Kantor, die für den Mittag zu Tisch geladen waren, da sie es sehr übelgenommen hätten, wenn die gekauften Leckerbissen ohne sie vertilgt wären. Frau Michel machte einen wunderbar zeremoniellen Knicks, über den das Liesel beschaulich-selbstvergessen lachte. Inzwischen hatte sich die Kirche gänzlich geleert, und der alte Diener ging klappernd mit den Schlüsseln herum.

Da nahte durch einen der Säulengänge geschwinden Schrittes eine weibliche Figur im rosa Kleide, mit winkenden weißen Federn auf dem Hut und einem roten Schirm, den sie wie einen Feldherrnstab in der Mitte gefaßt hielt. Hinter ihr her schoß ein gelber, dicker Hund von der Gestalt eines Dackels. Sie stürzte auf die erstaunte Gruppe zu, breitete die Arme aus, als sie Peter erblickte, riß ihn an sich und rief in erschöpfter Ekstase: »Also doch noch! Also doch noch! O mein Gott – diese Gnade!«

Peter wußte nicht, wie ihm geschah. Aber da sprang der Hund an ihm empor, vor Freude heulend, und nun vergaß er alles andere; mit dem lauten Ausruf: »Fanny!« fiel er ihm in die Arme. – Die Tante war inzwischen erschöpft auf einen Kirchenstuhl gesunken und schloß die Augen. Dies alles war so plötzlich und überraschend gekommen, daß niemand die Zeit gefunden hatte, ein Wort zu sprechen. Frau Michel löste sich endlich aus ihrer Erstarrung, und ohne ein Wort stürmte sie hinaus. Durch das Gebell des Hundes aufmerksam gemacht, hatte sich inzwischen der Kirchendiener herbeibewegt; er kam gerade noch zur rechten Zeit, Fanny durch einen Fußtritt von der Altarecke zu entfernen. Aber Fanny verstand keinen Spaß. Er bellte kurz und scharf und näherte sich ernsthaft der Ecke aufs neue. – Die Tante war jetzt wieder zu sich gekommen und warf teilnahmsvolle Blicke umher. – Endlich nahte auch der Kantor von der Orgel her, besah sich die Szene und wunderte sich. Jetzt ergriff seine Frau das Wort und regelte die Sache, so gut es ging: Fräulein Michel habe sich wohl bei der Konfirmation verspätet, sagte sie, und sei erst jetzt zum Schluß gekommen; das sei traurig, man sähe, wie es Fräulein Michel angegriffen habe; ein gutes Mittagessen würde sie erfrischen, und sie lüde sie freundlichst ein, mit ihnen zu kommen. – Die Verwandten waren etwas entrüstet über die letzten Worte; erstens würde ihre Portion dadurch geringer werden, und dann – na überhaupt – Frau Michel zu gewinnen gelang der Frau Kantor nur durch Aufgebot aller ihrer Liebenswürdigkeit: Sollte Fräulein Michel wirklich die Familie kompromittieren, so sei sie doch die beste Persönlichkeit, dies nach der anderen Seite hin reichlich wieder auszugleichen! – Der Pensionär verspätete sich beim Essen und sah unverhohlen erstaunt aus, als er Tante Olga zu Gesicht bekam. Er fand sofort, daß sie Ähnlichkeit mit Peter hatte, wenn dieser in Zorn geriet. Man trank auf Peters Gesundheit, was er mit einem lauten: »Danke!« beantwortete. Dann schlug der Kantor an sein Glas und hielt eine kleine Rede, in der er die Damen hochleben ließ. Er verglich die Tafelrunde mit einem Kranz, die Männer mit den Blättern, die Damen mit den Blüten – worunter eine Rose, welche manchmal sticht! – hier sah er launig zu seiner Frau hinüber; – auch ein kleines Gänseblümchen hat sich mit eingeschlichen! – dies ging auf seine Tochter Liesel, und dann trank er ein Hoch auf sie alle, die dem Leben Poesie und Duft verleihen! Frau Michel war entzückt von diesem Manne. In ihm sah sie nun das Ideal eines solchen, wie sie es früher in ihrem Gatten gewähnt und nicht gefunden hatte. Wie saß er da! Diese breiten Schultern! Der mächtige Bart! Und dies schallende frohe Lachen! Auch Fräulein Michel war von ihm ergriffen. Mit offenem Munde und verzückten Augen hing sie an seinem Blicke. Frau Michel bemerkte, wie man darüber lachte, und sie versetzte ihr unter dem Tische einen Fußtritt, daß sie mit einem hellen Schrei in die Höhe fuhr: Sie hätte einen Ruck im Beine gespürt, das bedeute Unglück. O Gott, und so fest! – »Wie sind Sie eigentlich so spät in die Kirche gekommen?« fragte der Kantor, welcher die Sachlage immer noch nicht begriffen hatte. Tante Olga zog die Augenbrauen hoch, spitzte den Mund und sah starrvergnügt und regungslos zu ihm hinüber. – »Meine Schwägerin wollte mich nicht mitnehmen!« sagte sie endlich. »Aber da« – sie legte den Zeigefinger an die Nase und schielte vorsichtig zu Frau Michel –, »da habe ich den alten Herrn bestohlen! Übrigens Peter, gib mir einmal meinen Beutel her, dort hängt er an der Türklinke!« Er lag hinter ihr auf einem Tische, und Peter holte ihn. Sie wühlte sehr lange darin und überreichte ihm endlich das abgegriffene atheistische Büchlein. Auf der ersten Seite stand: Dies goldene Buch dem goldenen Peter von seiner goldenen Olga. Frau Michel riß es ihr heftig aus der Hand und stopfte es in den Sack zurück. Die Tante zog es erstaunt wieder heraus und streichelte das also mißhandelte. »Was ist denn das für ein Buch?« fragte die Frau Kantor neugierig. »Mein liebes atheistisches Büchlein!« sagte die Tante gereizt und streichelte es aufs neue. Sie wollte sogleich daraus vorlesen. Aber Frau Michel riß es ihr abermals aus der Hand. – »Oh, ich kann es auch auswendig: ›Vorrede des Verfassers. Die größte Lüge, die je der eitle Priestertrug erfand‹« – aber Frau Michel schrie sie dermaßen an, daß sie verwundert dreinschaute und sogleich innehielt. Liesel war inzwischen aus einer Verzückung in die andere geraten. Sie schlug mit den Händen auf den Tisch, neigte den Körper von rechts nach links und fiel mit dem Kopf gegen die Brust des neben ihr sitzenden Pensionärs, der nicht unangenehm davon berührt war. Er faßte sie mit beiden Händen sanft um die Taille und setzte sie wieder gerade. Die alte Dame, welche fast noch kein Wort geredet, sondern mit mächtigem Kiefer kolossale Stücke vertilgt hatte, warf Fräulein Michel entrüstete Blicke zu und murmelte etwas in ihre Bartstoppeln. Das Rentamtkasseninspektorehepaar aber schaute eitel verdutzt drein. Plötzlich fuhr Liesel von ihrem Stuhle auf. Ihr war die Idee gekommen, Tante Olga mit Peters Hütchen zu konfrontieren. Sie setzte es auf und trat auf sie zu. »Ei, was ein feines Hütchen!« sagte sie sogleich und lobte die artige Arbeit. – »Aber das ist doch Peter sein Hut!« rief Liesel, etwas enttäuscht, verwundert. »So?« sagte die Tante. »Woher hast du ihn denn, Peter?« Er sah sie mit runden verlegenen Augen an: »Aber Tante Olga, den hast du mir doch selbst gearbeitet!« Die Tante schüttelte aufmerksam den Kopf: »Wie könnt' ich ein solch feines Werkchen schaffen! . . . Wie sollte mir das Hütlein stehen?!« Liesel setzte es ihr auf den Kopf, und nun sah sie sich erwartungsvoll fragend im Kreise um, während Liesel in ohnmächtige Heiterkeit ausbrach und fast in den Armen ihres jungen Nachbars lag. Der Wein machte seine Wirkung bei ihr geltend. Die Tante aber äußerte beschämt den Wunsch, das Hütlein behalten zu dürfen, was ihr Peter gerne gewährte.

Da klopfte es draußen. Die Magd trat herein und überreichte dem Herrn Kantor eine Karte. »Ah!« sagte dieser erstaunt. »Bitte den Herrn in mein Arbeitszimmer zu führen.« – Es war der Vater seines Pensionärs, der ihm mit feinen Worten die Eröffnung machte, daß er noch heute mit seinem Sohne nach dem Süden abzureisen gedenke: Der Kantor lud ihn höflich ein, ein Glas Wein mitzutrinken; sie befänden sich bei einem Familienfeste. Der Sohn war nicht wenig überrascht, plötzlich seinen Papa eintreten zu sehen, und noch überraschter, als er erfuhr, daß er fort solle. Zwar wußte er genau, daß er nicht nach dem Süden, sondern in eine bessere Pension gehen würde, um die er ihn brieflich gebeten hatte, aber nun traf es ihn doch etwas unerwartet und keineswegs erwünscht. Sein Vater durchschaute sofort den Grund seines mühsam verhaltenen Ärgers, als er das schwarze Liesel in dem leichten weißen Wollkleid sah mit ihren heißen, verliebten Augen. Die beiden hatten sich bei Tisch unausgesetzt die Hände gereicht. – Er fand den Geschmack seines Sohnes nicht übel. – Als er sah, wie Frau Michel um seine Gunst buhlte, da ließ er sich ihr gegenüber noch zu ganz besonderen Artigkeiten herbei, als ein Mann der Welt, der sich auch einmal in niedere Sphären herabläßt. Aber er bedauerte, so wenig Zeit zu haben und sich selbst dem Vergnügen allzufrüh entziehen zu müssen; er bestellte seinen Sohn zu sich ins Hotel und empfahl sich in liebenswürdigster Weise. Damit gab er das erste Zeichen zum allgemeinen Aufbruch.

Der Abschied von dem Pensionär war wohlwollend, aber nicht sehr herzlich. Dem Liesel wollte er noch Adieu sagen, aber die war verschwunden. Sie lag auf dem Bett und weinte zornige Tränen. So verächtlich wie er war! Hätte er nicht seinen Vater bitten können, hierbleiben zu dürfen, wenn ihm irgend etwas an ihr gelegen war?! Aber sie war ihm gleichgültig; er hatte ja so viele Mädchen, und sie war nur eine mehr. Sie biß sich in Haare und Hände. Dann sprang sie mit einem Ruck vom Bette, lief an den Wandtisch und tauchte ihr vom Weine, von der Aufregung, den Tränen heißes und gerötetes Gesicht ins Wasser. Sie wollte es nicht zeigen, daß sie sich etwas daraus mache. Nun erst recht nicht! Überhaupt war sie froh, daß er fort war, und wenn Peter, der dumme Bauernjunge, sie etwa auslachte, so sollte er schon sehen!

Dieser begleitete inzwischen seine Mutter und die Tante in den Gasthof. »Wo ist denn Fanny?« fragte er plötzlich. Alle vermißten ihn erst jetzt. War er denn überhaupt mitgegangen? »Dort hinten ist er!« rief Peter. »Fanny! Fanny!« – Fanny hob den Kopf, aber wandte sich gleich wieder fort. Diese Stadt erschien ihm als ein Paradies. Nie hatte er so viel Hunde auf einem Fleck gesehen. »Sieh dich nicht um!« herrschte Frau Michel ihren Sohn an, als sie weiterschritten. Vor dem Eingang des Gasthofes blieben sie stehen und warteten. Und endlich kam Fanny um die Ecke, staubbedeckt, wie ein Vagabund, und wedelnd. Frau Michel würdigte ihn keines Blickes. Sie lobte Peter und sagte ihm, er sei ein braver Junge. Tante Olga hängte sich an seinen Hals und schluchzte haltlos. – »Gott sei Dank«, sagte Frau Michel noch leise zum Abschied, »daß mit Tante Olga alles noch einigermaßen glimpflich abgegangen ist. Es ist ein reines Wunder, daß sie nicht etwas wirklich Fürchterliches angerichtet hat!« – Es war schon Abend, und die Laternen brannten, als Peter nach Hause kam. – Er saß noch still bei der Frau Kantor – und so klang der Abend schön und harmonisch für ihn aus.

Der Besuch Tante Olgas hatte noch ein Nachspiel, das sich jedoch in Peters Heimatdorf vollzog und dort großes Aufsehen erregte. Es handelte sich im Grunde nur um eine neue Gotteshausvisite, aber die begleitenden Umstände waren rätselhafter Art.

In einem fürstlichen, reichen weißen Atlaskleid mit reichem Brokatbesatz, silberblinkend, huschte sie während der Predigt hochrot und eilig wie eine Otter durch die Reihen, indem sie sich nur manchmal nach ihrer langen Schleppe umsah. Das Hütlein mit der goldenen Troddel stach seltsam in die Luft. Der Pastor hielt einen Augenblick im Gebete inne und betrachtete überrascht die besondere Erscheinung. Sie umkreiste vorsichtig, in großem Bogen die Kanzel und ließ sich endlich in gemessener Entfernung auf einem Stuhle nieder, dessen Nachbar frei war, so daß sie die beiden nach Gelüsten oft vertauschen konnte. Ihr flacher Busen hob und senkte sich, funkelnde Blicke schoß sie nach allen Seiten, scharf und schnell sah sie zum Pastor auf, und unverweilt wühlte sie in ihrem Buche nach dem einschlägigen Evangelium, um ihn bei einer Fälschung des Textes zu ertappen. Aber sie fand die Stelle nicht und klappte es mit dumpfem Knalle wieder zu. Dann weidete sie sich an den erstaunten Blicken rund um sich her. Das Schlußlied sang sie mit, leise und zurückhaltend, da sie sich einbildete, es selbst gemacht zu haben, »eine kleine Sache«, wie sie bescheiden dachte. Als sich dann aber die Gemeinde erhob und die Frauen sie umdrängten, schnellte sie aus ihrer Zerstreutheit empor und verließ die Kirche fluchtartig. Da es zu regnen begonnen, stutzte sie einen Augenblick, dann streckte sie dem Himmel ihre Zunge raus, nahm mit einem Ruck ihr Kleid empor, zog die Schleppe vorn zwischen den Beinen durch und eilte von dannen. Ihre roten langen Strümpfe flackerten im Regen, ein Knäuel von Menschen sah ihr nach. Sehr bald aber ließ sie Kleid und Schleppe wieder fahren, und wie sie zu Hause schnell aufs Bett gesprungen war und nun dort lag, streckte sie den Hals, lugte zu ihren Füßen hinunter und besah nachdenklich den Schaden. Dann pfiff sie leise eine wilde Melodie. – Da trat Frau Michel ein. Anstatt von der Kirche heimzukehren, war sie, nicht so flink wie ihre Schwägerin, deren Spur gefolgt, nun stand sie kurzatmend auf der Schwelle, und keuchend tat sie ihre Frage: wie sie zu diesem Feenkleid gekommen sei. Tante Olga sah durchdringend aufmerksam auf sie, aus ihren großen grauen Augen. Frau Michel fragte dringender. Lautlos und behutsam legte sie da ihre langen Hände vors Gesicht und bedeckte es vollkommen, so, wie man ein flaches Gehäuse über ein Grab tut zum Schutz gegen kommende Unbilden der Witterung. Gewohnt an die Seltsamkeiten ihrer Schwägerin, trat Frau Michel dicht an sie heran und suchte ihre Hände zu entfernen. Da aber stieß sie so fürchterliche, langgezogene, schrille Töne aus, daß sie erschrocken losließ und sie anstarrte. – Unbeweglich lag Fräulein Michel, nicht einmal ihr Atem war zu hören. Frau Michel machte kehrt und lief hinaus.

Tante Olga blieb in ihrer starren Lage, lange Zeit, ohne sich zu rühren, endlich glitten ihre Hände langsam vom Gesicht und fielen auf die Brust, denn sie war eingeschlafen. – Als sie ihre Augen wieder öffnete, war es schon dämmrig in der Stube. Sie setzte sich aufrecht in ihr Bett, zog die Knie unters Kinn und umschlang sie mit den Armen. Da fiel ihr alles wieder ein, sie wandte ihr Gesicht zur Tür, streckte den Oberkörper ein wenig vor, erhob langsam, in weitem Bogen, den Finger und drohte leise in die Leere. Dann sah sie wieder vor sich hin, stieß endlich einen langen Seufzer aus, schnellte sich vom Bett herunter und entledigte sich in größter Eile ihres Silberstaates, den sie sogleich in die tiefste Ecke ihres Schrankes stopfte. Und da sie nichts anderes wußte, kauerte sie sich in einen Winkel neben ihrem Bett und starrte unausgesetzt zur Tür, erst ohne Grund, dann, um sie zu bewachen. Aber alles blieb ruhig, es wurde immer dunkler, ihre Zähne klapperten leise, und sie verspürte großen Hunger. Sie erhob sich wieder, zog ihr graues Hausröckchen an, warf den Mantel um – einen alten abgelegten Mantel des Großvaters –, stand wieder einen Augenblick bewegungslos, indem sie murmelte: »Die Welt ist wie ein Hühnerei, erst kommt das Gelbe, dann das Weiße und dann die Schale« – dann verließ sie das Haus, um sich zu ihrem Bruder zu begeben. Wie sie die vielen zusammengeschnittenen Sohlen auf dem Boden liegen sah, vergaß sie ihren Hunger und bezeugte großes Interesse an dem Schustertume, das sie so viele Jahre zu beobachten Gelegenheit hatte. Sie ließ sich eine Menge Handgriffe zeigen, ohne einen Zusammenhang zwischen ihnen zu ahnen, und machte ihrem Bruder den Vorschlag, sich mit ihr zusammenzutun, in die Hauptstadt zu ziehen, dort wollten sie gemeinsam eine Riesenwerkstätte eröffnen. Frau Michel könne hier am Orte bleiben. Herr Michel hatte Bedenken. Da rief sie: »O du törichter Mann! Wie wenig du die Welt kennst! Hunderte von Männern trennen sich von ihren Frauen, und noch wegen ganz anderer Dinge.« – Dann fragte sie ihn, wenn heute die Polizei alles Kupfergeschirr der Welt verhaften würde, wieviel da wohl zusammenkäme. Und während Herr Michel einen Berg von Kesseln aufgetürmt sah, noch höher als der höchste Hügel, den er kannte, fuhr sie von ihrem Stuhl empor und sagte, sie vergäße ganz den Heimgang. Ziellos irrte sie draußen in der Nässe. Durch Zufall traf sie auf ihre Schwägerin. Frau Michel war am Spätnachmittag bei der Schulzenfrau gewesen, ihrer besten Freundin, bei der sie auch noch andere Gesellschaft traf. – »Sie liegt auf ihrem Bette und schreit!« war alles, was sie auf die Fragen zu erwidern wußte, dann schwiegen alle und blickten grübelnd in die Lampe; gleißend und lockend schimmerte das Kleid vor ihren Augen, und die Frau Pastor sagte endlich: »Ich weiß es klar, der Teufel führt uns in Versuchung, weil sie den Teufel in sich hat.« – Dieses leuchtete allen ein, und auch Frau Michel nahm sich vor, es zu glauben, wenn sie nicht einen anderen Ausweg fände. Auf diesem Ausweg befand sie sich bereits, er schien glatt und eben, aber gerade wenn sie schon glaubte, draußen zu sein, war er plötzlich wieder versperrt. Ihre Überlegungen waren folgende: Daß ihrer Schwägerin das Kleid um Mitternacht in den Schoß geflogen sei, schien ihr unwahrscheinlich, denn im Prinzipe glaubte sie an keinen Teufel. Es mußte ihr also von auswärts gekommen sein. Was war natürlicher, als daß sie es in letzter Woche, als sie von Peters Konfirmation im fernen Städtchen heimreisten, in der Postkutsche mitbrachte. Zwar erinnerte sie sich nicht, ein fremdes Paket erblickt zu haben, aber wie viele Pakete übersieht man nicht in seinem Leben, wenn sie einen vorläufig nichts angehen! Seit jenem Augenblick, wo Tante Olga verspätet, überraschend, nachdem die Konfirmation bereits beendet war und die Gemeinde die Kirche schon verlassen hatte, durch die Pforte drang, seit jenem Augenblick bis zur Heimfahrt in ihr Dörfchen waren sie stets beisammen gewesen. Sie mußte sich also das Kleid schon vorher verschafft haben . . . aber hier blieb alles dunkel. Oft und oft machte Frau Michel diesen Gedankenweg, wie ein Tier, das eingeschlossen ist und immer wieder denselben kleinen Gang hinabläuft, da es nur diesen einzigen gibt, und an seinem Ende regelmäßig mit der Schnauze an die Wand stößt.

Argwöhnisch spähte Tante Olga jetzt auf die sich nahende Gestalt, von der sie vorläufig noch nicht wußte, was es war. Dann aber schrie sie auf, denn Fanny, den sie in der Dunkelheit nicht sah, war über ihre Füße gesprungen, und sie hatte geglaubt, es wäre ein Mannsbild. Frau Michel kam eine plötzliche Erleuchtung: »Olga!« sagte sie in strengem Ton, »du hast das Kleid gestohlen!« – Einen Augenblick war Stille, dann fiel Fräulein Michel mit lautem, tiefem Baßton ein: »Oho! Oho! Halt den Dieb!« und entwich in die Finsternis, gefolgt von Fanny, der aufgeregt und toll bald den Saum ihres flatternden Kleides, bald einen ihrer Arme zu erwischen suchte, und endlich wie fliehend ihr voraussprang. »Halt den Dieb! Halt den Dieb!« verklang es in der Ferne.

Am nächsten Sonntag war die Kirche drängend voll besucht. Fräulein Michel hatte eine dunkel-furchtbare Tat vorhergesagt für diesen Tag, an dem es, ihrem Ausdruck nach, zwischen ihr und dem Pfarrer, ja vielleicht einem noch Höheren, ein für allemal zum Austrag kommen werde. Sie hatte hinzugesetzt: »In voller Wehr werd' ich erscheinen!« so daß man einen noch gesteigerten Anblick erwartete. Minute auf Minute verrann, der Pfarrer schielte ängstlich über sein Gebetbuch weg zur Kirchentür – und wirklich, da erschien das Ärgernis, aber nicht gleißend angetan oder gar noch gleißender als das letztemal, sondern in bescheiden grauem Hausrock, mit verweinten Augen. Demütig setzte sich Fräulein Michel auf die letzte Reihe, wo sie schlicht verharrte, so daß man sie, nachdem die Kirche sich geleert, vertreiben mußte. Eine dichte Menge umstand sie, neugierige Fragen umflogen sie, wo denn ihr Rüstzeug geblieben sei; sie aber antwortete nicht und eilte weinend wieder nach Hause.

Nie mehr ward das Kleid gesehen, nie ward seine Herkunft und sein Hingang aufgeklärt, denn der einzige Mann, der davon wußte, schwieg, und das war der Großvater. Er empfing einen Brief vom Kantor, der die Erklärung lieferte.

Eines Morgens nämlich besuchte der Kantor eine Dame, welche niemand kannte und die auch sogleich wieder in ihre diskrete Abgeschlossenheit zurücktrat. Sie nannte sich Fräulein Minthe und hatte in früheren Jahren Fräulein Michels Bekanntschaft in einer kleineren Stadt gemacht. Bei näherem Verkehr hielt sie sie für eine gebildete und geistreiche Person, sie wurden Freundinnen und wechselten Liebesringe. Nun hatte Fräulein Minthe eine Base, die jetzt tot war, früher aber bei einer Herzogin als Kammermädchen diente. Testamentarisch wanderte ein abgelegtes, aber immer noch recht präsentables Prunkkleid der Fürstin von der Base auf Fräulein Minthe über. – Einst, in einer weichen Stunde, zeigte sie Fräulein Michel diesen Schatz, und von da an waren deren Gedanken nur auf ihn gerichtet. Da war ihre Freundschaft natürlich zu Ende. Sie trennten sich, und Fräulein Michel war für sie verschollen, Jahre und Jahre hindurch, bis jetzt das Schreckliche hereinbrach: Als sie am letzten Sonntag von einem Ausflug heimkehrte, war der Schrank geöffnet und das Kleid verschwunden. Daß aller Wahrscheinlichkeit nach Fräulein Michel der Dieb war, ging daraus hervor, daß diese ihr gleich am folgenden Tage brieflich versicherte, sie sei gestorben – ein ganz plumpes Manöver, das den Verdacht von ihr ablenken sollte und womit sie sich nur selbst verriet. Zu allem Überfluß begegnete ihr am selben Tag ein Junge, hinter dem ein anderer die Worte herrief und ‑sang:

»Michel Peter, Michel Peter,
Nichts versteht er, nichts versteht er.«

Auf diesen Jungen nun, den sie im übrigen ganz außerordentlich lobte, stürzte sie sich mit der Frage: »Hast du eine Tante Olga?« Er bejahte dieses stark errötend und erzählte, daß sie am Sonntag zu seiner Konfirmation dagewesen, aber bereits wieder abgereist sei. Darauf begab sie sich zu seinem Pensionsvater, dem Kantor. Der schrieb an den Großvater, und der ging hin zu Tante Olga und drohte ihr mit der Polizei und ewigem Zuchthaus. Erschrocken wickelte sie das Kleid zu einer Kugel, trug diese nächtlich zu dem Haus des Großvaters und warf sie zu seinem Schlafzimmerfenster hinein. Im Pakete lag ein Zettel, darauf bat sie sehr bescheiden und in ganz normalen Ausdrücken: Fräulein Minthe möge ihr doch jenes Kleid in etwa fünfzig Jahren gütigst vermachen. Alle nach unten frei auslaufenden Buchstabenstriche ihrer dünnen, langgezogenen Schrift hatte sie nach Schluß des Schreibens verlängert, nach einem festen Punkte hin, unten auf dem Papier, wo sie sich sämtlich trafen. Daran hatte sie einen pfeilspitzenartigen Haken gemacht, und dieser Haken traf mitten in ein schiefes Herz, in welchem »Olga« stand, welches Wort zugleich die Unterschrift des Briefes war.


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