Friedrich Huch
Peter Michel
Friedrich Huch

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6. Kapitel

Als Peter die Nachricht von seiner Anstellung als Lehrer erhielt, war er wie gelähmt, obgleich er durch Jahre immer nur auf dieses Ziel hingestrebt hatte. Er fühlte sich unfähig zu irgendeinem Posten, der ihm Verpflichtungen gegen die Welt auferlegte, der ihn zum Gliede in einer großen Kette machte. Er war nach Haus gereist, und eines Tages schüttete er seiner Mutter das Herz aus. Frau Michel begriff nichts von allem, was er sagte. – »Du bist doch ein erwachsener Mensch und willst dich vor Kindern fürchten? Was willst du denn tun? Hast du etwas anderes gelernt als dein Lehrfach? Willst du wie dein Vater, der nie Sinn für Höheres hatte, Schuhe flicken? Ihr Michels seid alle Taugenichtse. Früher glaubte ich, wie ich ihn kennenlernte, dein Vater wäre ein Dichter; aber nachher sah ich, daß nichts, rein gar nichts von einem Dichter in ihm ist. Wenn ich dich in kindlicher Weise Gesichter zeichnen sah, glaubte ich, du würdest ein Maler, und ich sah im Geiste schon ein neues Altarbild in unserer Kirche. Dann hoffte ich, du würdest ein großer Rechenmeister; aber auch damit scheint es nichts zu sein, denn du willst nicht einmal den ersten Schritt tun und furchtest dich vor Kindern!« – Herr Michel hatte bis jetzt stillschweigend in einer Ecke gesessen und aufzuhorchen versucht; immer wenn er glaubte, er hätte den Faden, verlor er ihn wieder; nur so viel merkte er, daß Peter gescholten wurde. Er erhob sich und ging still hinaus. Tante Olga hatte gesagt, ihn würden die Galgenvögel verschlingen, denn er sei ein Teufelsbraten. – »Er versteht überhaupt nichts mehr!« sagte Frau Michel, als Peter sie fragend ansah. »Manchmal denke ich, ich bin in einem Irrenhause. Dein Vater ist so trübsinnig, daß man meinen sollte, er lebe überhaupt nicht mehr, Tante Olga in steter Bereitschaft, ein Unglück anzurichten – neulich wartete sie oben in deiner Kammer, bis unten jemand vorbeiging, und ließ dann einen Backziegel hinabfallen – und jetzt du mit deiner kindischen, blödsinnigen Angst. Es sollte mich gar nicht wundern, wenn du was von deiner Familie geerbt hättest. Und das schlimmste ist: Ich selbst bin meiner nicht mehr sicher. Es ist oft, als ob mein Gehirn mir den Kopf sprengen wollte – ich habe oft Angst, ohne zu wissen, vor was; es würde mir wohl niemand glauben, aber ich habe schon manchmal vor der Frage gestanden, ob es nicht besser wäre, diesem Leben gewaltsam ein Ende zu machen. Doch Selbstmord ist die schlimmste Sünde, Peter, denn sie ist die einzige, die man nicht bereuen kann. Und dann habe ich ja auch Pflichten. Ich muß für deinen Vater sorgen.«

Als Peter den letzten Abend vor seiner Abreise seine Kammer betreten, sich bereits entkleidet hatte und im Begriff war, ins Bett zu steigen, fuhr er erschrocken zurück, denn das helle Mondlicht zeigte ihm bereits jemanden darin. Tante Olga! Sie rührte sich nicht. Sie hatte vorgehabt, diese einzige und letzte Nacht mit ihrem Neffen das Lager zu teilen, war aber während des Wartens eingeschlafen. Jetzt erhob sie sich sehr mürrisch und gänzlich schlaftrunken, warf ihm einen leeren Blick zu, tappte zur Tür hinaus und die Treppe hinunter. Aber unten fiel ihr ein, was sie vergessen hatte, und flugs kehrte sie wieder um. Peter hatte sich zum Fenster hinausgelehnt, um sie unten aus der Tür heraustreten zu sehen. Wie sie nun gar nicht kam, dachte er, sie müsse wohl schon vorbeigegangen sein, eh er ans Fenster trat. – Wie kalt und geisterhaft sie ihn angesehen hatte! Es schauerte ihn leise. Er drehte sich langsam um, legte sich nieder, und da stand sie vor ihm, lang und hager. Sie hob die Arme, und mit einem Male hatte sie ihn beim Kopf gepackt. Er war wie gelähmt vor Schreck. – »Was willst du?« keuchte er endlich. Er suchte sich aufzurichten, aber sie war über ihm und hielt seine Kehle umspannt. – »Küsse mich!« rief sie. »Küsse mich, oder ich beiße dich! Küßt du mich nicht, so verhex ich dich!« Wie ein zotteliger Nachtalp kauerte sie im Mondlicht auf dem Bette über ihm.

»Peter! Um Gottes willen, was ist geschehen!« Es war Frau Michel, die von außen rief. Im Nu schnellte sich die Tante vom Bett hinunter, zum Fenster hinauf und verschwand, indem sie sich ihrer Körperlänge nach daran herunterließ. Frau Michel trat mit einem Licht ins Zimmer. Peter lag keuchend auf dem Bette. »Was ist geschehen? Um Gottes willen, wie siehst du aus! Hast du mit einem Tier gekämpft?« Sie leuchtete ihm ins Gesicht. Dann sah sie sich erstaunt in der ganzen Kammer um. Er deutete auf das Fenster; sie blickte hinaus, aber draußen flimmerte Baum und Strauch im Mondlichte, alles lag still. Peter kämpfte mit sich selbst, aber endlich sagte er doch alles, wie es sich zugetragen. – »Nun hat es ein Ende! Das hat ja noch gefehlt! Morgen kommt die Polizei: Entweder ins Irrenhaus oder ins Gefängnis! Und verhexen will sie dich! Ja, wahrhaftig, ich habe zuweilen ein rechtes Grauen vor ihr! Gott weiß, ob sie uns nicht noch einmal alle miteinander verhext.«

Als sie sich trennten, ging Frau Michel zum Fenster, um es zu schließen. Da fühlte sie ein Hindernis. »Was ist denn das?« fragte sie, sich niederbeugend. »Finger?« Im selben Augenblick lösten sich diese, und man hörte drunten einen dumpfen Fall. Beide sahen sich mit leisem Schauder an, und Frau Michel schloß mit schnellem Ruck das Fenster.

In derselben Nacht wurden die Dorfbewohner aus ihren Betten gerüttelt, denn Tante Olgas Häuschen stand in Flammen. Die Leute, die es bewohnten, wurden gerettet, und mit großer Anstrengung schließlich auch Fräulein Michel selbst, die bis zum letzten Augenblicke in ihrem Zimmer ausgeharrt hatte. – Bei dem Falle vom Fenster herab hatte sie sich einen Fuß verrenkt; sie litt an argen Schmerzen; zugleich hatte sie auch eine namenlose Angst vor den Dingen, die ihr Frau Michel anzutun gedachte; und wie sie da in ihrem Bette saß, mit hochgezogenen Beinen, das Kinn auf ihr Knie gestreckt, da kam ihr plötzlich ein Gedanke, wie sie ihrer Schwägerin ein Schnippchen schlagen und zugleich sich selbst diesem heiklen Handel entziehen könne; und sie lächelte listig in die Leere. Dann stand sie auf, goß vorsichtig das Öl ihrer Lampe auf einen Stuhl, zündete diesen an und legte sich wieder in ihr Bett, von wo aus sie dem wachsenden Feuerbrande mit Interesse zusah. Da sie vergessen hatte, das Fenster zu schließen, so zog der Rauch für eine Weile ab. Aber als es dann heißer und heißer im Zimmer wurde, Vorhänge und Decken vom Feuer ergriffen wurden, fing sie an zu weinen wie ein kleines Kind und spuckte schließlich mit aller Gewalt in die Flammen. Dann versuchte sie das Zimmer zu verlassen, aber es gelang nicht mehr. Mit Mühe und Gefahr wurde sie vom Fenster aus gerettet. Jetzt war sie vor Dankbarkeit fast sinnlos. Alle Haare waren ihr vom Kopfe gebrannt; wie ein junger Sperling umhüpfte sie auf dem gesunden Bein den Mann, der sie aus den Flammen getragen. Aber am nächsten Tage lag sie fieberkrank im Bette. Frau Michel, welche sie aus Pflichtgefühl bei sich aufgenommen hatte, lief oft ein kalter Schauer über die Glieder, wenn das kahlköpfige Fräulein sich plötzlich funkelnd emporrichtete, einen schwarzen Pastor aus einer Ecke hervorzitierte oder unvermittelt mit tiefer Männerstimme ungesehene Armeen kommandierte. Dann schrie sie auf einmal: »Hui das Öl. Hui hui hui hui hui hui hui!« schnalzte mit der Zunge, schlug mit den Armen und blies mit vollen Backen, bis ihr die Augen aus dem Kopfe quollen und sie sich jählings in das Bett zurückwarf.

Von diesen letzten Dingen wurde Peter gemeldet, wie er schon in seiner neuen Stelle war. Als er über den Schulhof schritt, um dem Direktor einen Besuch zu machen, wurde ihm ganz eigen zumute: als solle er selbst dort zur Schule gehen, nicht als Lehrer, sondern als Schüler. Wie oft würde er den Platz noch überschreiten und schließlich gar nicht mehr wissen, daß es je anders war! Dann erfuhr er, daß er sich in dem Schulgebäude geirrt hatte, kehrte um, fand das rechte und schritt nun ohne jede Betrachtung quer über den Hof auf das Rektoratshaus zu. Vor der Tür saß ein kleiner Knabe. Er reichte Peter wortlos seine Peitsche hin und sah ihn ernsthaft an. Peter verstand sogleich, was der Kleine wollte, und brachte sie in Ordnung. Der Direktor, ein ziemlich hochgewachsener, jovialer Herr, empfing ihn sehr freundlich. Peter durfte oder mußte vielmehr rauchen; er dachte an die Ermahnungen seiner Mutter, er möge stets dem Großvater nacheifern und sich einbilden, daß dessen Geist in ihm selbst wäre, und so sagte er denn alsogleich, daß das Städtchen trefflich gelegen sei und daß einer hier wohl sein Auskommen haben könne. Dann sah er sich mit etwas schüchternen Augen um. Die Tür ging auf, und eine mittelgroße, ebengewachsene Dame trat ins Zimmer. Sie sah Peter an, als ob sie ihn schon kenne, sagte aber: »Ach, ich störe wohl«, und wollte sich zurückziehen. – »Nein, Ottilie, bitte, tritt nur näher! Ich stelle dir hier einen jungen Herrn vor, der von jetzt ab unserem Schulverbande angehören wird: Herr Michel – meine Frau.« – »Habe ich Sie nicht vorhin an der Tür gesehen?« fragte sie errötend. Peter sah sie völlig verwirrt an. – »Nun ja! Sie haben doch meinem Kleinen die Peitsche zurechtgemacht! Du mußt nämlich wissen, Theodor, Herr Michel hat dem Maxel die Peitsche wieder zurechtgemacht!« Sie blickte ihn wieder an und fragte: »Nicht wahr, Sie haben meinen Maxel gerne?« Peter sah nach wie vor in äußerster Verwirrung auf sie. Das war ja Liesel! Und Ottilie hatte sie ihr Mann genannt. – »Aber warum setzen Sie sich denn nicht wieder?« In ihren Augen stand unverhohlenes Wohlgefallen. – Warum nannte sie ihn denn nicht du?! – Ihr Mann hatte ihr indes mehrfach Blicke zugeworfen, die sie nicht verstand oder nicht verstehen wollte. Jetzt sagte er plötzlich mit Betonung: »Nun, Herr Michel, Sie werden wöchentlich so gegen sechzehn Lehrstunden zu geben haben. Sehen Sie, da haben wir zunächst die Arithmetik!« – »Ach, wenn ihr von Geschäften redet, da zieh ich mich zurück. Adieu, Herr Michel!« Und ehe er sich ganz erhoben hatte, war sie schon hinaus und hatte die Tür hinter sich geschlossen. – »Und zweitens haben wir hier die Geometrie!« Der Direktor sah Peter mit einem Blicke an, welcher sagen sollte: Wir ignorieren das, was uns nichts angeht! – Aber Peter sah und hörte gar nichts: Es war am Ende doch nicht Liesel. Hatte Liesel nicht dunkleres Haar gehabt? Nein, sie hatte dasselbe Haar! Natürlich war sie es. – »Ob Sie mich verstanden haben?« Peter fuhr aus Träumen und »Ja!« – »Bitte, wiederholen Sie, was ich eben gesagt habe!« bat der Schulmonarch. Peter konnte es nicht, und der Rektor wiederholte es selbst. – »Vor allem arbeiten, arbeiten und noch einmal arbeiten! Das Arbeitsfeld ist ein so großes! Der Lehrerberuf ist ein heiliger Beruf! Von uns hängt die Zukunft des Staates ab! Wir geben dem Staate das Geistesmaterial!«

Als Peter das Haus verließ, stand Frau Ottilie mit ihrem Jungen vor der Tür: »Sag adieu, Maxell« Sie führte ihn zu Peter. – »Sind Sie – Sind Sie – ich meine, ob Sie – heißen Sie nicht eigentlich Liesel?« Sie errötete über und über und sah ihn ganz verwirrt an. Im selben Augenblick aber brach ihr kleiner Knabe in lautes Weinen aus; er lag auf der Nase und konnte nicht wieder aufstehen. Sie eilte auf ihn zu, und da er ein wenig blutete, hatte sie für nichts anderes mehr Sinn. »Auf Wiedersehen!« Und ehe es sich Peter versah, hatte sie ihren Jungen über die Schulter genommen und war verschwunden, Er aber starrte ihr nach wie im Traume. Warum verbarg sie sich vor ihm? Wollte sie, als Frau eines Rektors, ihren Freund von früher nicht mehr kennen, weil der nur ein armer Kandidat war? – Mit scheuem Blicke musterte er die Fenster, ob ihn vielleicht jemand beobachtete, dann entfernte er sich, in tiefes Nachsinnen verloren. Er suchte jetzt die beiden im Geiste zu vergleichen, sich genau die Züge der Liesel vor die Seele zu bannen, so wie er sie zuletzt gesehen. Über fünf Jahre waren seither verflossen. Ihr Bild hatte sich ein wenig verwischt. Und doch glaubte er jetzt Unterschiede zu bemerken. Liesel hatte größere Augen gehabt. Aber hatte diese nicht auch große Augen? Große, dunkle. Und Liesel hatte einen kleineren Mund und vollere Lippen. Aber konnte, mußte sie sich nicht in den fünf Jahren auch verändert haben? Deutlich erinnerte er sich ihrer feinen Schultern. Jetzt waren sie voller, weicher. – Und die Haare – das waren nur Liesels Haare! Solche Haare hatte nur Liesel! Und wie hübsch sie sie jetzt trug; aufgesteckt, und kleine Locken an den Schläfen! – Aber weshalb nannte sie ihr Mann Ottilie? Fand er, daß »Liesel« sich nicht für eine Rektorsfrau eignete? Elise oder Lisbeth würde sie sich niemals haben nennen lassen, das wußte Peter. Anderseits hatte sie aber immer Sinn für Vornehmes gehabt. Da konnte sie sich ihrem Mann zuliebe schon diesen Namen ausgewählt haben. – Sollte er nicht einfach an den Kantor schreiben und ihn um die Sache befragen? Aber wie sollte er das begründen? – Er fühlte sich unglücklich, um so mehr, als sein Unglück so dunkel war.

Am nächsten Morgen kleidete er sich in seinen schwarzen Rock und ging zur Schule. Noch fern vom Schulhaus konnte man ihn wohl für einen Spaziergänger halten, aber je mehr er sich ihm näherte, um so mehr, glaubte er, müsse man merken, daß er ein Lehrer war oder ein Kandidat, wie man sie nannte. Und als er die Aula betrat, als sein Name genannt wurde, als er sich erhob, als die Vorstellung, er sei sein Großvater, nicht mehr wirkte, und tausend Augen auf ihn gerichtet waren, da war es ihm, als sei er inmitten dieser Versammlung ganz einsam irgendwo im Walde. Am selben Tage wurde er noch in die neuen Klassen eingeführt. Jetzt sollte er seine Stunde halten. Der Rektor blieb im Zimmer, um, wie er sagte, auch etwas mitzulernen: »Denn man lernt nie aus im Leben, und manches Gelernte vergißt sich wieder. Repetitio est mater studiorum; heißt?« Und einer der Schüler sagte es. »So, Herr Michel, fangen Sie an. Machen Sie den Schülern die Grundzüge der Buchstabenrechnung klar.« Peter brachte dies in einer leidlich guten Ausdrucksweise zuwege. Wenn er nicht recht weiter konnte, so half der Rektor ein, indem er stets hinzufügte: »Merkwürdig, wie einem alles bei Gelegenheit wieder einfällt! Ja, ja, das Gedächtnis ist wie eine Scheuer, in der nichts verlorengeht, wenn auch manches den Blicken sich entzieht, da der Körner zu viele sind!« – In solchen Momenten wartete Peter bescheiden, aber er runzelte die Stirn, als ihm der Rektor einen Fehler nachweisen wollte, den er gar nicht gemacht hatte. Da wurde er sehr gesprächig und lauter, als seine Art war. Schließlich sah der Rektor seinen Irrtum ein und sagte ihm, er möchte seine Buchstaben deutlicher schreiben. »Welche?« fragte Peter unschuldig. Da wurde der Rektor nervös und sagte: »Bitte, rechnen Sie nur weiter.« So ging diese Stunde hin, und es folgte eine zweite. In vier Klassen hatte er zu unterrichten, und als er erst einmal alle seine Schüler kannte und gelernt hatte, sich unter ihnen zu bewegen, da sah er, daß die Sache nicht so schlimm war, wie er sie sich vorgestellt hatte. Nur mit dem Mathematikprofessor stand er sich nicht gut. Dieser suchte sofort ihm gegenüber eine gönnerhaft-nachlässige Stellung einzunehmen, und das war etwas, was Peter gar nicht vertragen konnte. Er hatte einen großen Stolz bei aller äußeren Bescheidenheit. Bei Zensurverteilungen war er sehr nachsichtig und ließ sich zuweilen von den Schülern selbst bestimmen, eine Note etwas aufzubessern. Manchmal jedoch blieb er hart, verweigerte jedes Entgegenkommen und sah dabei wahrhaft ehern aus. Oft gaben Tränen seiner heimlich schon längst in Bewegung gesetzten Gutmütigkeit den letzten Stoß, er zog langsam seinen Blaustift und verbesserte die Note. Auch Schmeicheleien war er nicht unzugänglich, doch stets nur in ganz naiver Weise. So sagte einst ein Schüler in einer plötzlichen Anwandlung unglücklichen Humors: »Sie haben auch einen so schönen Schlips!« – »Wirklich?« fragte Peter überrascht und erfreut. Und dann gingen die Erweichungsversuche von neuem vor sich, und diesmal mit Erfolg. Hier zeigte sich ein Zug, den er wohl von seiner Mutter hatte, jedoch mit dem Unterschiede, daß diese alle Schmeicheleien persönlich nahm, während Peter sich nur über die Sache selbst freute und darüber, daß er so glücklich war, sie zu besitzen. – Alle die kleinen und allerkleinsten Quälereien, denen die Lehrer zum Opfer fallen, ertrug er mit Ruhe. Sehr selten kam es vor, daß er sich vom Zorne hinreißen ließ, und immer nur in Fällen, wo man systematisch untergeheizt hatte. Dann konnten aber auch Ausbrüche heftigster Art erfolgen. Er teilte Ohrfeigen aus, warf zur Tür hinaus und war ganz außer sich. Nachdem ihn dann die steinerne Ruhe der Mathematik etwas ins Gleichgewicht zurückgebracht hatte, holte er den Hinausgeworfenen persönlich wieder herein, und nun begann eine Szene, die sich mit Regelmäßigkeit wiederholte und an deren Ende Peter fast immer unterlag. Weinen des Gemaßregelten, Zwischenhandeln von seiten Unbeteiligter, Anstürme auf seine Milde und Versprechen der Besserung – welch letzteres Mittel jedoch manchmal die schon zur Ruhe gehende Erbostheit von neuem aufrührte. – »Das hast du schon zehnmal gesagt!« platzte er dann los. Worauf wohl jemand aus einer sicheren Ecke heraus, in dem Gefühl seiner eigenen unangegriffenen Persönlichkeit und der mählich wiederkehrenden Sonne in Peters Gesicht, rief: »Dann sagte er es zum elften!« – Sein Zorn war plötzlich ganz verraucht, hatte einer frischen Entrüstung Platz gemacht, und sein ganzes Wesen bewegte sich in einer neuen Richtung. Er stellte Untersuchungen an, mit einer Schärfe, die seiner Mutter Ehre gemacht haben würde. Doch zerschellte seine Findigkeit zumeist an der noch größeren Verschlagenheit der Schüler, die ihn oft irreleiteten. Manchmal aber erwischte er den Täter doch, nahm eine ausgiebige Rache und erließ freiwillig und fast mit Genugtuung dem ersten Bösewichte seine Buße. – So wurde er von seinen Schülern geliebt, gequält und verzogen. Außerhalb der Schule und der häuslichen Arbeit lebte er still dahin; Interessen hatte er nicht, oder sie waren nie geweckt worden. Jeden Tag machte er einen Spaziergang und kam dann stets in heiter-trüber Stimmung heim, denn er ging jedesmal an des Rektors Haus vorbei, um Frau Ottilie zu sehen.

Bald aber fand er einen Gefährten. Auf seinen Spaziergängen begegnete ihm nämlich mit Regelmäßigkeit ein junger Lehrer seiner eigenen Schule, namens Lottermeyer, ein stiller und bescheidener Mann, der im Lateinischen unterrichtete; klein, mit einem schwarzen Zwicker, schwarzen Nägeln und einem spitz aufgerichteten, ebenfalls schwarzen Schnurrbärtchen. Seine mausartigen Augen hatten den Ausdruck steter kluger Wachsamkeit. Mit diesem nun verband Peter Michel sich durch Zufall. Sie machten ihre Spaziergänge von nun an zusammen und besuchten sich auch öfter in ihren Wohnungen. Peter erfuhr unter anderem, Herr Lottermeyer habe eine Braut, mit der er schon seit seinem ersten Studentenjahr verlobt sei und die er auch in kurzem heiraten werde. »Sind Sie auch schon verlobt?« – »Nein.« – »So. Aber Sie werden sich bald verloben?« – »Nein.« – »Aber wollen Sie denn niemals heiraten? Nun, das ist ja allerdings nicht meine Sache; aber ich meine, wenn man sein gutes Auskommen hat, was steht denn da noch im Wege?« – Herr Lottermeyer wunderte sich anfangs, weswegen Peter jeden Abend den Umweg an des Rektors Haus vorbei machte; und Peter antwortete, es sei, weil er sehen wolle, ob er nicht einmal die Knaben erwischen könnte, die an des Rektors Hause immer die Rosen umbrächen. Der Rektor habe sich schon mehrmals darüber beklagt. Das leuchtete Herrn Lottermeyer sehr ein, und er war ganz bei der Sache. So stellten sie sich an den Sommerabenden oft an dem gegenüberliegenden Gitter auf, und der eine beobachtete die Straßengänger, soweit sie aus Knaben bestanden, der andere die Fenster, die hinter den Rosen lagen. Manchmal gewahrte er Frau Ottilie oder ihren Schatten, und ein wehes Glück zog dann durch seine Seele. – »Da sind sie!« flüsterte Herr Lottermeyer einmal erregt. Peter fuhr erschreckt empor, wie aus einem Traume. Da standen in der Tat ein paar Knaben vor dem Gitter, regungslos, und schienen etwas Böses vorzuhaben. Mit einem Male fuhren sie alle auseinander, bis auf einen, der zurückblieb, in gebückter Stellung, die Hände vors Gesicht gehalten, wie ein heftig Weinender. Die beiden Lehrer waren sehr erstaunt. Besorgt gingen sie auf den Knaben zu. »Hundert!« rief er plötzlich mit glockenklarer Stimme – und im nächsten Momente war er davongestürmt. – »Diese Jungens haben einen doch immer zum besten, auch wenn sie einen nicht zum besten haben wollen!« sagte Herr Lottermeyer säuerlich. Peter aber, in plötzlicher Erschütterung vor diesem Ausbruche des Lebens, hatte Tränen in den Augen. – Er wünschte nun Herrn Lottermeyer stets fort.

Einmal gelang es ihm auch wirklich, ohne ihn seinen Spaziergang anzutreten. Gerade vor des Rektors Hause aber sah er ihn von der anderen Seite daherkommen. Halb ohne zu wissen, was er tat, trat er seitwärts in den Garten und drückte sich in die Blumenbüsche, horchte atemlos und spähte heimlich nach seinem Freund, der vor dem Hause stehenblieb, um zu warten, bis Peter auf seinem gewöhnlichen Spaziergang dort vorbeikäme. Schließlich, nach einer Viertelstunde, schien er sich zu entfernen, und Peter wollte gerade aus seinem Versteck heraustreten, als er Stimmen vernahm, und da erkannte er den Rektor selbst mit seiner Frau. Sie trug ein faltiges, feines Wollkleid, das ein schmaler Gürtel umschlossen hielt! – »Hast du Herrn Lottermeyer bemerkt?« fragte sie ihren Mann. Ihre Stimme war voll und biegsam. Er antwortete mit einem halbgepreßten »Ja!« und stemmte sich dabei gegen die Gartentür: »Wenn ich mal einen von den Buben packe, die mir hier Holz in das Schlüsselloch stopfen . . . Ob ich wen gesehen habe? Lottermeyer? Nein. Wo ist er denn?« – Sie ging langsam zum Gartentor zurück und sah zu, wie er sich mit der Tür mühte. »Ach so! Lottermeyer. Ja! Der geht ja hier jeden Abend mit Michel vorbei. Was wollen die beiden nur hier?« – Er schloß noch ein paarmal auf und zu, das Schloß schnappte wieder, und beide wandten sich dem Hause zu. Peter wartete noch eine geraume Zeit, ehe er sich aus seinem Verstecke hervorwagte, schließlich kletterte er hastig über das Gitter. Als er nach Hause kam, saß Herr Lottermeyer auf seinem Sofa. Ihm war, als müsse er gleich wieder umkehren. – »Wo steckst du denn eigentlich?« – Seit geraumer Zeit duzten sie sich. – »Ich . . . war heute woanders.« – »So. Na, diesmal hast du was versäumt!« sagte der andere, gereizt über die ausweichende Antwort. »Ich sage dir: Ich habe vor der Schule auf dich gewartet, und gerade als ich fortgehen will, sehe ich, wie ein Junge was in das Gartentürschloß steckt. Ich springe darauf zu, packe ihn, und da kommt auch schon der Herr Rektor nach Haus; hat mich schön gelobt!« – Dies gab Peter zu denken; aber er sagte kein Wort darüber, daß er es besser wußte. – »Ein andermal läßt du mich nicht so warten, lieber Freund. Hat doch übrigens ein reizendes Frauchen, findest du nicht?«

Peter hätte leicht ihn oder einen seiner Kollegen fragen können, welchen Mädchennamen Frau Ottilie vor ihrer Verheiratung geführt habe. Aber eine Scham hielt ihn zurück. Es war ihm, als gäbe er damit sein Geheimnis preis. – Am nächsten Morgen fragte der Rektor Lottermeyer wie zufällig, was er denn da jeden Abend mit Herrn Michel treibe. – »Ich passe auf, Herr Rektor, ob ich nicht einmal den erwischen kann, der Ihnen immer Holz in das Türschloß steckt und Ihnen immer die Rosen abknickt!« – »Na, das machen Sie mir nicht weis«, lachte der Rektor. – Herr Lottermeyer wurde sehr erregt: »Ganz gewiß, Herr Rektor!« sagte er und nahm seinen Zwicker ab; »ich passe jeden Abend auf, und es würde mich riesig freuen, so einen Jungen mal zu fassen und dem Herrn Rektor zu überweisen!« Er war vor Aufregung ins Lispeln geraten, und seine Zungenspitze huschte hin und her zwischen den gelblichen Zähnen, wie ein Mäuschen. Dabei sah er dem Rektor rot und emsig ins Gesicht: »Herr Michel sagt, hier würden immer Rosen umgebrochen!« – »So?!« fragte der Rektor ganz erstaunt; »das sagt Herr Michel?« – Er hatte schon öfter bemerkt, daß Peter ein etwas sonderbares Wesen gegen ihn an den Tag legte. Jetzt dachte er: Sollte bei dem irgend etwas nicht ganz richtig sein? – ›Ich danke Ihnen für Ihre Bemühungen, Herr Lottermeyer, aber es ist fernerhin nicht nötig!‹« – Triumphierend erzählte dieser nun seinem Freunde, der Rektor habe ihn zu sich rufen lassen und habe ihn noch einmal gelobt. – »Nun wollen wir aber nicht mehr dort vorbeigehen, denn der Rektor hat mir auch gesagt, daß ihm jetzt keine Rosen mehr abgebrochen würden. Er sagte: »Ich danke Ihnen für Ihre Bemühungen, Herr Lottermeyer, aber es ist fernerhin nicht nötig!« – Peter fiel ein Stein vom Herzen, denn er hatte sich seit einiger Zeit vorgenommen, aber nie den Mut dazu gehabt, selbst einmal ein paar Rosen abzuschlagen, um so die Notwendigkeit fortgesetzter Wachsamkeit darzutun. Dessen war er nun überhoben. Gleichzeitig aber machte es ihn traurig. Und doch war es im Grunde wiederum gleichgültig, denn allein seine Gänge machen, das wußte er, ging nicht an. Wenn er auch einmal etwas früher von zu Hause fortging als gewöhnlich, um allein zu sein, gleich tauchte irgendwo das gelbliche Gesicht mit dem Bärtchen und dem schwarzen Zwicker auf, und Herr Lottermeyer sagte: »Ich habe unten auf dich gewartet, weil ich dachte, du gingst heute vielleicht schon etwas früher fort.« – Oft blieb Peter zu Hause, manchmal auch ohne Licht, um seinen Freund irrezuführen. Aber es half alles nichts. Das »guten Abend, alter Mathematikus« war so unvermeidlich, daß Peter sich schließlich darein ergab, wie in ein unheilbares Leiden.

Nun gingen sie wieder durch die Felder; oft ganz schmale Wege, daß einer hinter dem anderen gehen mußte. Herr Lottermeyer pfiff auf einem Blatte das Lied Gaudeamus igitur, und Peter sah nur den schwarzen Rücken seines Freundes mit den geschweiften Linien und dachte nur immer: Da steckt nun der Mensch drin! Wenn er sich jetzt umdreht, so sehe ich sein Gesicht. Soll ich ihn mal anrufen? Derweil drehte sich Herr Lottermeyer schon von selbst herum und sagte: »Na, was machst du denn für Augen?« – Peter versuchte mehrmals von ihm loszukommen. Aber da sagte Herr Lottermeyer eines Tages: »Sag mal, es scheint ja fast, als ob du mir ausweichen möchtest?« – Peter betonte eifrig, daß das ein Irrtum sein müsse. – »Ich wüßte auch nicht, wann ich dir irgendwie Gelegenheit gegeben hätte, dich über mich zu beklagen!«

Peter ging jetzt auch jede Woche mit ihm auf den »Verein«. Dieser versammelte jeden Samstagabend die Lehrer in einem Lokale an der Landstraße. War das Wetter gut, so machte man am Nachmittag einen Ausflug, an dem auch die Frauen teilnahmen; abends wurden sie jedoch nach Hause geschickt, denn: die Frau gehört in die Familie! Frau Ottilie hielt sich jedoch diesen Spaziergängen stets fern. – »Meine Frau macht nicht gerne Spaziergänge!« sagte der Rektor, »sie hat noch nie eine Partie gemacht – bis auf eine!« fügte er jedesmal hinzu und sah sich im Kreise um und lächelte diskret, und dann lächelte man ebenfalls diskret.

Ein solcher Ausflugstag war wieder einmal herangekommen. Man war gerade im Begriffe loszumarschieren, als sich Herr Lottermeyer und Peter Michel eilends von ferne nahten. Herr Lottermeyer schwang seine kurzen Beine mit einer wahrhaft sklavenmäßigen Behendigkeit, während Peter, der nicht so schnell zu Fuß war, die Daumen an die Schultern gelegt, nebenhertrabte. Der Rektor hatte gerade seinen Witz gemacht, Herr Lottermeyer hörte noch die letzten Worte und grinste keuchend. – »Ja ja, meine Herren, Sie sind zum Teil noch Muli, was die Ehe anbetrifft, aber hier sehen Sie sich Herrn Lottermeyer an, in ihm haben wir einen, der demnächst sein Mulustum abstreifen wird!« Herr Lottermeyer sah sich strahlend im Kreise um und sagte: »Ja, nächsten Monat, Herr Rektor!«

Nun ordnete man sich nach Gruppen. An der Spitze schritt der Rektor mit dem ältesten Professor, dann kamen die Oberlehrer, die Doktoren, und schließlich die Kandidaten, wie man sie nannte. Von Zeit zu Zeit blieb der Zug stehen; dann explizierte der Rektor irgendeine besondere Form des Gesteines, eines Baumes oder einer Blume. – »So sollte jede Wissenschaft gelehrt werden, meine Herren! Spielend, beiläufig! So etwas bleibt im Gedächtnis. Ja, ja, spielender Unterricht! Das sollten sich unsere Jungen hinter die Ohren schreiben! Der alte Basedow war doch kein so verächtlicher Mann! Nur bemerkte er leider nicht, daß sich die Praxis oft nicht mit der Theorie verträgt. Er schoß übers Ziel! Was sollte wohl aus unseren Schülern werden, wenn wir lediglich spielenden Unterricht erteilten! Dazumal mag es noch anders gewesen sein. Aber wie hat sich seitdem das Material gehäuft! Will man es bewältigen, so reichen unsere neun Schuljahre knapp dazu aus! Da heißt es exakt und mit Methode arbeiten!« – Die Hinterstehenden hörten von solchen Reden meist nichts oder beinahe nichts; aber sie spitzten die Ohren und warteten geduldig, bis man weiterschritt. Mitunter tönte auch ein herzhaftes Gemecker durch die Luft: das war das Korps der Oberlehrer, das sich über einen Witz erlustigte. – Peter hatte es zuwege gebracht, daß er nicht neben Herrn Lottermeyer zu gehen brauchte. Dafür schritt er hinter ihm und sang halblaut und schnarrend, indem er Peter auf die Fersen trat: »Nur immer langsam voran, nur immer langsam voran, daß unser alter Mathematikus mitkommen kann.« – Jetzt war der Zug stehengeblieben. Der Rektor deutete mit dem Stock in die Ferne: dort stände ein alter Turm, er sei bald nach dem Jahre 1653 gebaut worden. Der älteste Professor aber, der nicht mehr gut sehen konnte, bestritt es und sagte, dort stände kein alter Turm. Er sei nun sechzig Jahre am Ort, und da hätte noch nie ein alter Turm gestanden. Peter hatte den Streit gehört und sah jetzt scharf in die angegebene Richtung. Er hatte sehr gute Augen. »Da ist wirklich einer!« rief er. – »Wer hat ihn gesehen?« fragte der Rektor von der Spitze herab. »Herr Michel!« antwortete das Korps der Kandidaten. – »Kommen Sie mal 'rauf, Herr Michel!« Peter leistete der Aufforderung Folge und beschrieb die Richtung. Es stimmte genau mit den Angaben des Rektors. Ein Oberlehrer glaubte ihn auch zu sehen, war aber seiner Sache nicht so sicher, daß er einen Eid darauf hätte ablegen oder sein Ehrenwort geben können. – »Ich sehe, wir beide haben die besten Augen«, sagte der Rektor. – Peter wollte wieder hinunter zu seiner Abteilung, aber der Rektor hielt ihn am Ärmel fest und meinte: »Nun, haben Sie nur keine Angst. Bleiben Sie mal ein bißchen bei uns. Ein Tropfen junger Wein ist gar nicht vom Übel zwischen so vielen alten Jahrgängen. Freilich: was sich soll erklären, das muß erst gären! Na, zu den ganz alten Jahrgängen gehöre ich ja nun zwar auch noch nicht. Aber ausgegoren hat es bei mir schon lange, wollen wir hoffen!« – Im Laufe des Gesprächs stellte sich heraus, daß der alte Professor mit Peters Großvater bekannt gewesen war. Er lobte ihn als einen würdigen Mann der alten Zeit. –

»Aber da steckt Ihnen ja das Lehrertum im Blute!« rief der Rektor.

»Wo waren Sie eigentlich auf der Schule?« Peter nannte die Stadt, und der Rektor sagte: »So? Da ist meine Frau auch ortsangehörig! Nun weiß ich auch, weshalb sie sagt, Sie erinnerten sie immer an die Heimat!« Peter gab es einen jähen Schlag aufs Herz. Jetzt war es entschieden! Sie war es. Wenn er noch der Bestätigung bedurft hätte, so war sie hier gegeben. Seine Sehnsucht, die seit Wochen einem dumpfen Weh gewichen war, zitterte in schmerzlich-dunklen Schlägen. Seine Aufregung war so groß, daß die anderen es bemerkten. »Was haben Sie denn? Was ist Ihnen denn geschehen?« Peter war stehengeblieben und sah ins Leere. Man umringte ihn, bot ihm Erfrischungen an, aber er sagte, es sei schon vorüber. Doch war er von diesem Augenblicke an teilnahmslos und beachtete nichts von dem, was um ihn her vorging. Abends verabschiedete er sich, ehe die anderen gingen. Er war erschöpft, das Gedonner der Kugeln, der Tabaksqualm, das Bier, das Gebrüll der Oberlehrer betäubte ihn. Allein ging er nach Hause.

Es war im Hochsommer, zu einer Zeit, wo die Nächte so warm sind wie die Tage.

Halb bewußtlos schritt er die Allee hinunter, die zu seinem Hause führte. Oben in seinem Zimmer setzte er sich auf einen Stuhl, starrte in den Himmel und dachte nur immer an sie, regungslos, mit klopfenden Schläfen; in der Ferne glaubte er vielstimmiges Gemurmel zu vernehmen; es war sein Blut, das ihm in den Adern sang. Eine leuchtend-goldene Furche durchschnitt still den Himmelsrand; ihre Bahn erlosch, fast ehe er sie wahrgenommen. – Er vergrub den Kopf in seine Hände. – Soll ich noch einmal zu ihrem Garten gehen?

Er blieb regungslos, nicht fähig zu irgendeiner Bewegung, lange, lange. Aber endlich erhob er sich, und während er noch überlegte, schritt er schon hinaus, in die stille Sommernacht hinein, die dämmernde, duftende, blütenschwere Allee hinunter. Er hörte seine Schritte nicht. Niemand begegnete ihm, alles war im Schlummer. Nur am Himmel schwärmten still die weißen Sterne. Da lagen vor ihm die Rosenbüsche – ein dunkel-leuchtendes Dickicht. Der Duft betäubte seine Seele. Leise warme Wellen fluteten in fernen Tönen an sein Ohr. Da sah er vor sich eine weiße schimmernde Gestalt! »Liesel!« rief er und streckte die Arme nach ihr aus. – »Peter!« – – – und da saß er daheim auf einem Stuhle, in der Dunkelheit, und draußen fiel ein warmer Sommerregen.


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