Friedrich Huch
Peter Michel
Friedrich Huch

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11. Kapitel

Tinchen hing noch immer an seinem Halse. In dem Gefühl, er müsse ihre Zärtlichkeit erwidern, streichelte er ihr sanft den Rücken. Endlich machte sie sich los von ihm: »Mamachen – gleich sagen – schreiben, meine ich, um ihren Segen bitten!« – Die alten Treuthalers wußten selbstverständlich längst um die geplante Sache. Man beriet über die Form des Briefes, und Julius entschied, es solle in einer humoristischen geschehen. So setzte sie sich an den Schreibtisch, während er diktierte: »Liebe Mama, ich kann nicht kommen, denn ich sitze hier gefangen. Doch sind die Fesseln, die mich binden, Liebesfesseln.« – In diesem Tone ging es fort. Dann mußte Peter als Bräutigam schreiben und noch einmal offiziell um Tinchens Hand anhalten, und schließlich setzten Herr und Frau Treuthaler ihre Unterschriften darunter. Julius umarmte Peter noch einmal und legte all sein Gefühl in das eine Wort: »Schwagerherz!« Dann wurden die Verwandten geladen, und am selben Abend feierte man Verlobung. Peter ging wie im Traum umher und nahm alle Gratulationen mit abwesendem Gesicht auf. Man wunderte sich etwas über ihn, und namentlich die Damen machten unter sich Bemerkungen. Herr Treuthaler kam endlich auf ihn zu: »Peter, was stehst du denn da so allein in der Ecke! Tinchen sitzt da und wartet auf dich!« Dann sah er ihm väterlich in die Augen und klopfte ihm auf die Schulter: »Dich stören die vielen Menschen, du möchtest gern mit ihr allein sein, nicht wahr?« Und als Peter zögernd nickte, nickte er ebenfalls, indem er schmunzelnd, wie bestätigend für einen Moment die Augen schloß und sie beim Öffnen wieder auf ihn gerichtet hielt, in stiller Zärtlichkeit. – »Kommt alles noch, alter Junge, kommt alles noch!« – Er entfernte sich wieder, und Peter sah zu Tinchen hinüber, die auf einem Rohrstuhl saß und die Hände gefaltet auf dem Schoße hielt. – Was sie wohl alle sagen würden, wenn ich jetzt heimlich fortginge und nie wiederkäme! dachte er und sah in Gedanken blaue Täler und Hügel. Dann fiel ihm ein, daß er ja zu ihr hingehen müsse. Er setzte sich neben sie, und sie ergriff seine Hand, behielt sie in der ihren und drückte sie zuweilen leise. Er drückte sie dann jedesmal wieder. – »Ein ordentliches Brautpaar muß sich doch einmal umarmen!« sagte eine der Damen. »Das finde ich auch!« rief eine andere, und schließlich riefen alle im Chor, Peter und Tinchen sollten sich mal umarmen. Tinchen hatte sich erhoben und wischte vorbereitend die Hände an ihrer Schürze ab. Peter stand ebenfalls. Dann warf sie ihre Arme, ganz in derselben eigentümlichen Weise wie bei ihrem ersten Kuß, in die Luft und darauf um seinen Nacken. – »So!« riefen die Damen, indem sie das »lebende Bild« mit Muße betrachteten, »nun setzt euch wieder hin!« Und Peter und Tinchen setzten sich. – Sie blieb noch ein paar Tage, dann reiste sie nach Hause, um ihre Aussteuer zu besorgen. Wie sie fort war, atmete Peter innerlich etwas auf. Bald darauf erhielt er eine Einladung seiner Schwiegereltern, die ihn persönlich kennenzulernen wünschten. Er erschrak des höchsten, und in seiner Angst vernichtete er den Brief, tat, als habe er ihn nicht bekommen, und erzählte niemandem darüber. Es vergingen einige Tage, in denen er Ruhe hatte. Aber dann kam ein zweiter Brief. Man fragte, ob der erste nicht angekommen sei, und wiederholte die Einladung.

Peter begab sich hinaus aus der Stadt, er mußte mit sich allein sein. Ringsumher zitterten reifende Kornfelder, und über ihm spannte sich hoch hin ein wolkenloser, dunkelblauer Himmel. Vor einem Heere brennend roten Mohnes hielt er an. Was soll ich tun! Was soll ich tun! – Kein Mensch war weit und breit zu sehen, er war ganz allein. – »Ich kann mich doch nicht hier verkriechen wie ein Wilder!« sagte er nach einer Weile, indem er in das Ährendickicht starrte. »Das geht doch nicht, das ist doch lächerlich!« Gleichzeitig wurden seine Gedanken aber in die Ferne gezogen, indem er sich ein solches Wildenleben vorstellte und sehnsüchtig bei dieser Vorstellung verweilte. – »Also, das ist doch ganz einfach!« begann er, sich aufraffend, von neuem. »Entweder ich heirate sie, oder ich heirate sie nicht. Von dieser Frage hängt alles ab. Nicht wahr? Naja. Und wenn ich sie heirate, dann ist doch alles gut, ich meine, dann ist doch alles in Ordnung. Und wenn ich sie nicht heirate? Was geschieht denn dann eigentlich, wenn ich sie nicht heirate? Liebe ich sie denn nicht?« – Die ersten Sätze hatte er laut für sich gesprochen; die letzte Frage dachte er nur; sie kam ihm selber unerwartet in ihrer Unmittelbarkeit, obwohl sie schon lange im Hintergrunde seiner Seele stand. Und jetzt wollte er sie fast vor sich selbst nicht gehört haben, er hatte Angst vor ihrer Beantwortung. Denn wenn sie ein »nein« war, wie er schon wußte, so reihte sich eine Kette neuer Fragen daran. Aber wie um sich selbst zu beschwichtigen, die Unbefangenheit vor sich selber aufrechtzuerhalten, wiederholte er seine Frage. – »Ich möchte wissen, warum ich sie nicht lieben sollte«, sagte er endlich, indem er sich an die Ähren wandte, die leise im Winde schaukelten. Aber die gaben keine Antwort, und so sah er sich wieder auf sich allein angewiesen. – »Also von der Frage hängt alles ab!« begann er, sich selbst antreibend, von neuem, indem er krampfhaft nachdenklich in die Ferne starrte. – »Ich muß mir endlich über diese Frage klarwerden«, rief er, indem er fühlte, wie seine Seele sich schon wieder mit den blauen Hügeln am Himmelsrande mischte. Und er blickte wieder auf den Mohn, der in der Sonne siedete und lohte, als eine einzige dunkle Flamme zusammenschlug. Und er dachte an Liesel, an jenen heißen Sommertag mit ihr im Walde – und im selben Augenblick fühlte er sich auch von dem ganzen Jammer seiner Lage angepackt! »Nein!« sagte er. »Ich heirate sie nicht! Ich liebe sie nicht! Es ist nicht wahr, daß ich sie liebe! Wie bin ich denn in diese ganze Geschichte hineingekommen? Wie, um Gottes willen, bin ich da hineingekommen? Wenn ich nur den ausfindig machen könnte, der mich da hineingebracht hat! Ist sie denn hübsch? Nein, absolut nicht! Ist sie klug? Nein, dumm ist sie! Jawohl dumm!« – Er lauschte seinen Worten, als habe sie ein anderer gesprochen. – »Das ist noch viel zuwenig!« fuhr er fort: »Eine Gans ist sie!« Doch im selben Augenblick erschrak er und verbesserte: »Nein, eine Gans ist sie nicht. Aber habe ich denn keinen eigenen Willen? Muß ich sie denn heiraten? Kann ich ihr nicht einfach schreiben, ich hätte es mir anders überlegt? Ihr sagen, ich wolle überhaupt nicht heiraten?! Das geht doch sehr gut! Ich möchte wissen, warum das nicht gehen sollte!« – Die Gestalten des Tinchen, ihres Bruders, dessen Frau und die noch unbekannten und um so mehr gefürchteten des alten Herrn Treuthalers, der sich im Kriege ausgezeichnet hatte und ein Mann in der ganzen Bedeutung des Wortes war, wie Julius sagte, und dessen Frau traten vor seine Seele wie eine dunkle Drohung. – War es vielleicht doch nicht möglich? – Er stand wieder am Ende seines Wissens, wie zuvor. Es war ein ewiger Kreislauf, in dem seine Gedanken sich bewegten. Fast unbewußt wandte er seine Schritte endlich einem der hohen Kornfelder zu, seine Arme teilten die schwankenden Ähren, und dann lag er mit dem Rücken auf dem Boden und sah über sich den blauen Himmel und um sich herum den goldenen Schleier der Halme, die sich mit leisem, festlichem Geräusche gegeneinanderneigten.

Ein Gefühl öder Vereinsamung, trostlosesten Alleinseins kroch über seine Seele. Und doch: War nicht im Grunde alles gut? Fühlte er sich nicht zu Hause hier auf dieser blauenden, duftigen Erde? Liebte er nicht die Sterne, die als goldene Spitzen weltenferner Himmelsähren auf die Erde niedergrüßen!? – Er schloß die Augen, dachte nichts mehr, blinzelte ins Licht und versank in Schlaf. – Und im Traume fand sich seine Seele wieder; sein ganzes unbewußtes Sein löste sich rein und fleckenlos in einem Bilde:

Er lag am Meeresstrand und starrte träumend in die dunstige, dunkel-dämmernde, niedrige Wölbung über Kopf und Brust. Sonnenwarme, glimmende Wellen bespülten ihn und trugen leicht und leise seltsame Dinge zu den Wölbungen hinan: kleine, steinerne Figuren, Menschen, Bäume, Tiere.

 

In der folgenden Woche war er für ein paar Tage bei Treuthalers zu Gaste. Er gefiel allgemein recht gut. Tinchen umgab ihn mit Liebe und Zärtlichkeit, und er legte gegen sie eine sanfte, resignierte Ruhe an den Tag. – »Besser als die ewige Ableckerei, die man sonst gewöhnlich zwischen Brautleuten findet!« sagte der alte Treuthaler zu seiner Frau. Peter hatte sich unter ihm einen kolossalen alten Herrn vorgestellt. Aber er war eher klein als groß und hatte einen zierlichen weißen Ziegenbart. Peter wurde auch viel nach Julius gefragt und nach dessen Gattin und Kinde, indem man das Glück seines Sohnes auch gern von andern bestätigt hörte. Auch auf Liesel kam die Rede. Der alte Herr geriet sofort in Eifer und nannte sie: »Die Person!« – Es wurde lange überlegt, wo die Hochzeit stattfinden solle. Man entschied sich schließlich für den Ort, in welchem Tinchen ihren zukünftigen Wirkungskreis haben würde. Die Eltern wollten sich bei der Gelegenheit das Heim ihres Sohnes ansehen und ihr Enkelkindchen kennenlernen. Tinchen nähte nun mit ihrer Mutter Tag und Nacht an ihrer Aussteuer, und bald war alles »fix und fertig, blank und proper«.

Peter verbrachte die letzten Tage vor seiner Hochzeit gänzlich allein. Wie ein Tier hatte er sich zurückgezogen. Wenn ich doch krank würde! dachte er oft. Auch erwog er den Gedanken, ob er sich nicht das Leben nehmen solle. Aber davor hatte er noch viel mehr Angst als vor der Hochzeit. So wartete er denn, daß eine natürliche Krankheit kommen solle, um ihn zu beschirmen, bis die drohende Wolke wieder abgezogen wäre. Aber die Krankheit kam nicht, und der Tag der Hochzeit rückte näher und näher.

Da mit einem Male entfaltete er eine fast fieberhafte geistige Tätigkeit. Ein Hoffnungsstrahl, die Möglichkeit eines Ausweges aus diesem Irrsal, hatte sich ihm plötzlich gezeigt, und er arbeitete nun unausgesetzt daran, diesen Gedanken, der vorläufig noch ungeformt in seinem Geiste stand, herauszubilden, an das Licht zu bringen und ihm selbsttätige Kraft zu geben. – Die Verlobung aufheben, das konnte er nicht. Darüber war er sich vollkommen klar. Nicht der leiseste Grund wäre dazu vorhanden gewesen. Aber – und dieses war die neue Frage, deren Lösung Klarheit und Rettung bringen mußte: War es nicht möglich, Treuthalers selbst zur Aufhebung des Verhältnisses zu bringen?! Dieser Gedanke war vor ihm aufgestiegen, vorläufig noch als ein Lichtchen am dunklen Horizont, aber je länger er hinschaute, um so heller wurde es. Nur wenn er sich selbst opferte, war es möglich, sich selbst zu retten. Er mußte sich kompromittieren, und die Familie würde zurücktreten. Nun sann er nach, ob er nicht irgend etwas Schreckliches in seinem Leben begangen hätte. Und da tauchte alsogleich die Gestalt des Liesel vor ihm auf: Wenn Treuthalers erfuhren, daß er mit der Frau ihres Sohnes Beziehungen gehabt hatte, mit ihr, der Chansonettensängerin, die so viel Skandal über die Familie gebracht hatte, so konnten sie – als streng moralische Leute – ihre Tochter ihm nicht anvertrauen. – Der Hauptfaden war gefunden; es kam nun noch darauf an, ihn auf die geschickteste Weise zu befestigen. Und das war keine kleine Arbeit! – Er selbst konnte sich unmöglich verraten; das stand fest. Abgesehen davon, daß er nie den Mut dazu gehabt hätte, mußte hierdurch auch zugleich die ganze Wirkung auf das wesentlichste abgeschwächt werden. Man würde seine Mitteilung als die Beichte eines reuigen Sünders auffassen, er würde gedemütigt werden und Tinchen am Ende vielleicht doch noch zu heiraten haben. Er durfte nicht als Reuiger dastehen, sondern als ertappter Frevler! – »Man muß mich denunzieren!« murmelte er. Aber wer? Wer wußte denn außer ihm und Liesel um diese Sache? Niemand! Also blieb nur Liesel! Hier stockte er wieder und verlor sich vorläufig in Gedankennebel. – Aber die Wirklichkeit hatte ihn im Genick; er mußte weiter. – »Und wenn mich Liesel nun bei Treuthalers denunziert, wird man ihr glauben? Wird man sie nicht für eine freche Verleumderin halten, die mir mein Glück nicht gönnt oder Tinchen ihr Glück nicht gönnt? Der kein Mittel zu schlecht ist, um dieses Glück zu zerstören? – Aber dann kann ich sagen: ›Doch! Alles ist wahr, alles!‹ Denn so einfach beiseite legen werden sie ihren Brief auf keinen Fall.« – Entsetzlich, entsetzlich! dachte er, indem er sich die nächsten Folgen ausmalte, die furchtbaren Auftritte, den unvermeidlichen Bruch mit Julius und Stadtklatsch für viele Wochen. Und vielleicht gar noch eine Disziplinarstrafe von seiten der Schulobrigkeit! Aber er dachte an den Selch. Der war noch immer im Amte und noch immer unverheiratet. – Aber wie sollte er Liesel dazu bewegen, diesen Brief zu schreiben! Vielleicht tat sie es gar nicht, denn sie war ja so unberechenbar! Und doch: Gewiß würde sie es tun. Sie hatte ihn ja gerne, und dann konnte sie ja Treuthalers auch damit einen Streich spielen. Daß sie sich selbst kompromittierte, das, wußte er, würde ihr zum mindesten egal sein. So setzte er sich hin und schrieb einen langen Brief an sie. Er schüttete ihr sein ganzes Herz aus, und je länger er schrieb, um so mehr fühlte er, wie nah sie ihm stand. Sie würde für alles Verständnis haben, sie gehörte einer anderen Welt an als seine Umgebung. Oh, könnte er zu ihr und bei ihr bleiben! Sie war so stark und er so schwach! – Er legte die Feder hin und vergrub seine müden Augen in den Händen. – Bunte Ringe drehten sich im Dunkel und wandelten sich in lohendes, brennendes Chaos. Aber er mußte weiter; er raffte sich empor, der Brief wurde vollendet, und er überlas ihn noch einmal. Dann atmete er tief auf. Eine Last war von seiner Seele genommen, dafür hatte er auf seine Schultern ein neues Gewicht gelegt, das er aber nicht lange mehr zu tragen brauchte. Er rechnete aus: Vier Tage waren es noch bis zur Hochzeit: Am ersten hatte Liesel seinen Brief, am zweiten hatten Treuthalers Liesels Brief, und einen Tag vor der Hochzeit würde das Unwetter auf ihn hereinbrechen. Treuthalers würden ihm einen furchtbaren Brief schreiben, und mit Julius würde die persönliche Auseinandersetzung folgen. – So verging ein Tag nach dem andern, und mit fiebernder Beklommenheit verfolgte er die einzelnen Stadien dieser gefährlichen, heilvoll-unheilvollen Sache. – Am Morgen des letzten Tages, wo er die Katastrophe erwartete, lag er schon frühe wach im Bett. Bei jedem Läuten schreckte er zusammen. Jeden Augenblick konnte der Brief dasein. Aber es kam kein Brief. Also würde wohl Julius im Laufe des Vormittags zu ihm kommen. Er überlegte, ob er ausgehen sollte. Nein; es war besser, der Gefahr ins Auge zu sehen; er blieb. Und gegen Mittag erschien Julius in der Tat. – Peter stand blaß und regungslos am Tische. Wenn er mich prügelt, prügele ich ihn wieder! dachte er in grimmiger Verzweiflung. – Aber Julius prügelte ihn nicht. Doch war er etwas ernster als gewöhnlich. Im übrigen war er gänzlich unbefangen. – »Der letzte Tag!« sagte er, indem er Peter die Hand auf die Schulter legte. »Der letzte Tag! Ja, Peter, du hast einen feierlichen Schritt vor, den feierlichsten, den ein Mensch zu tun vermag! Halte mir mein Tinchen treu fürs Leben!« Er schüttelte ihn, und Tränen traten in seine blauen Augen. – »Ich sehe sie als Kind vor mir – ach, welch Spanne Zeit ist doch das Leben – von der Wiege bis zum Grabe!«

Aber dann reckte er sich männlich empor und sagte mit veränderter Stimme: »Weswegen ich eigentlich gekommen bin: Ich wollte dir sagen, Papachen und Mamachen kommen heute nachmittag um fünf hier an, mit Tinchen. Du holst sie doch natürlich von der Bahn ab?« – Peter stotterte: »Ja, selbstverständlich« und vermochte nicht seinem Schwager in die Augen zu blicken. – »Peter!« sagte dieser nach einigem Zögern; »ich wollte dich schon lange fragen: Was hast du eigentlich diese ganze letzte Zeit? Du bist so sonderbar! Ist es die Aufregung, oder drückt dich ein Kummer? Sage es mir, Peter, ich habe dich ja so lieb wie einen Bruder! Drückt dich ein Kummer?« Peter schüttelte den Kopf. Julius sah ihm forschend in die Augen. – »Hast du Schulden?« fragte er plötzlich. Peter hob den Kopf, den er gesenkt hatte, und sagte sehr bestimmt: »Schulden? Nein!« – »Sonst – du weißt, das Schwagerportemonnaie ist stets zur Hilfe da! Das versteht sich von selbst. Also ist es wirklich nichts?« – Peter nahm sich zusammen, blickte ihm ins Gesicht, lächelte schwach und sagte: »Nein, gar nichts!« – »So! Nun – dann ist es gut! Dann freut es mich!« antwortete Julius in einem Tone und mit einem Blicke, welche ausdrückten: So ist die Sache abgetan, so habe ich mich geirrt, im übrigen: Vertrauen gegen Vertrauen! – Er schüttelte ihm derb die Hand und entfernte sich. Peter aber blieb brütend zurück. – Also wie steht denn nun die Sache, dachte er endlich, gewaltsam sich zusammennehmend: Julius weiß noch gar nichts, und seine Eltern kommen heute abend. Wenigstens haben sie das geschrieben. Inzwischen können sie Liesels Brief aber doch noch erhalten haben, ja, sie müssen ihn sogar inzwischen erhalten haben; und dann kommen sie natürlich nicht und überlassen die Sache zunächst einer mündlichen Aussprache zwischen mir und Julius. Das ist ganz klar. Julius wird heute nachmittag einen Brief von ihnen haben, und dann läßt er mich zu sich kommen. – Sein Herz schlug schneller bei dem Gedanken, daß es bis dahin nur mehr einige Stunden waren. – Und wirklich erhielt er am Abend von Julius ein Billett, in dem er ihn bat, ihn sogleich aufzusuchen. Er ging wie im Traume; was auch kommen möge, sagte er zu sich – den Kopf kann er mir nicht abreißen. Und, wie gesagt, wenn er mich prügelt, prügele ich ihn wieder. – Vor dem Hause zögerte er, stieg aber schließlich die Treppe hinauf, indem er jede Stufe taktmäßig zählte; dann ging er geradewegs auf die Klingel zu und zog sie im selben Momente, wo er sie ergriff. Man führte ihn ins Wohnzimmer. Julius Treuthaler saß dort allein und drehte ihm den Rücken zu. Peter blieb auf der Schwelle stehen und atmete schnell und hielt den Blick auf ihn geheftet. – »Du könntest dich um deine Schwiegereltern und deine Braut wohl etwas mehr bekümmern!« sagte Julius, indem er sich von seinem Sitz erhob. – »Sind sie denn da?« fragte Peter schnell und unwillkürlich. – »Ob sie da sind?!« fragte Julius erstaunt zurück: »Wenn morgen eure Hochzeit ist, müssen sie doch wohl spätestens heute ankommen. Außerdem habe ich es dir doch heute morgen mitgeteilt. Warum stehst du denn da immer auf der Schwelle?«

»Ich fühle mich sehr krank!« sagte Peter instinktiv. – Julius' Gutmütigkeit gewann sofort wieder die Oberhand: »Sieh, also das ist es! Weshalb hast du mir das nicht heute morgen schon gesagt! Du siehst ja auch ganz elend aus. Warte mal, mein lieber Junge!« Er schenkte ihm ein Glas Portwein ein, welches Peter auf einen Zug leerte. – »Na, aber das kommt uns recht in die Quere! Hoffentlich ist es nichts von Bedeutung. – Mama, Peter fühlt sich so unwohl!« wandte er sich an seine eintretende Mutter. »Er konnte den ganzen Tag nicht ausgehen«, setzte er wie entschuldigend und begütigend hinzu; »sonst hätte er euch selbstverständlich von der Bahn abgeholt.« – Frau Treuthaler fühlte Peter ohne weiteres den Puls: »Fieber hat er nicht. Wird wohl 'ne kleine Erkältung sein. Heute nacht tüchtig schwitzen, dann ist morgen alles gut.« – Jetzt trat auch der alte Treuthaler herein. Auch ihm wurde die Sache vorgetragen, er verstand, daß Peter nicht zur Bahn kommen konnte, und sagte, der Fall sei erledigt. – »Wo ist denn Tinchen?« fragte Peter, der wohl fühlte, daß er sich nach ihr erkundigen müsse. – »Tinchen ist draußen in der Küche und bügelt ihren Brautschleier. Das Mädchen hat ihn schlecht eingepackt; er ist bei der Reise ganz zerknittert. Tinchen!« – »Ja, Mama?« – Das war ihre Stimme. – »Tinchen, komm doch mal 'rein!« – »Is so quadderig!« rief Tinchen zurück. – »Du kannst ihn ja nachher fertig bügeln. Komm nur mal herein!« – Draußen klangen Schritte, Peter hatte sich erhoben, Tinchen erblickte ihn, ging auf ihn zu, und er zog die Schultern hoch, sich vorbereitend auf den Schlag, mit dem ihre beiden Arme auf seinen Nacken fielen. – »Schatz!« sagte sie, ihn küssend, »süßer Schatz!« – »Na, Kinder, nun hört mal wieder auf, rief die alte Frau Treuthaler, »sonst bleibt ja für morgen nichts mehr übrig! Überhaupt: Peter ist erkältet, nimm dich in acht, Tinchen!« – »Erkältet?! Soll ich dir einen Kamillentee machen, Herz?« – »Nein!« sagte Peter sehr bestimmt. »Ich brauche keinen Kamillentee. Und überhaupt –«, er wußte nicht weiter und stockte. Was soll denn nun werden? Der Brief war immer noch nicht angekommen. Und wenn er auch morgen früh nicht kam? – Wie um Gottes willen soll ich es machen, daß ich sie nicht heirate! Ich bleibe morgen einfach im Bette liegen, und wenn mich jemand holt, so sage ich, ich wäre krank und stände auf keinen Fall auf. Ja, das tue ich wirklich, was soll ich denn anders machen? – »Geht es dir schlechter?« fragte Julius, der ihn beobachtete, teilnehmend. – »Ja!« sagte Peter mit trockener Kehle. »Ich glaube, viel!« – »Das wäre aber doch ärgerlich«, brummte der alte Herr Treuthaler aus seinem Lehnstuhl in der Ecke hervor, »wenn wir die Hochzeit deswegen verschieben müßten!« – »Ja«, sagte Peter. »Aber ich fühle mich sehr elend.« – »Leg dich zu Bett!« meinte Julius. »Morgen früh komme ich und sehe nach dir. Wenn es dann gar nicht besser ist, so müssen wir die Hochzeit verschieben.« – Peter erhob sich, dankte allen und ging nach Haus. Draußen wurde ihm ein wenig freier ums Herz. »Also das steht fest!« sagte er laut für sich: »Morgen bleibe ich den ganzen Tag im Bette.« – Den nächsten Tag um acht Uhr klopfte es an seiner Türe. – Der alte Herr Treuthaler trat herein in Begleitung eines Arztes: »Hier ist der Patient. Nun untersuchen Sie mal, was ihm fehlt.« Der Arzt untersuchte, fragte, wo Peter Schmerzen habe, und Peter antwortete: »Hier – und da!« Und der Arzt untersuchte noch einmal, schlug ihm endlich auf die Schulter und sagte: »Ihnen fehlt nicht die Spur, Sie sind ganz gesund!« – »Kleine nervöse Verstimmung! Weiter nichts!« wandte er sich an Herrn Treuthaler. Dieser fragte sogleich, ob Peter aufstehen dürfe, und der Arzt antwortete: »Gewiß, selbstverständlich.« Peter verteidigte sich noch eine Weile, aber der Arzt schüttelte den Kopf: »Wird alles vergehen! Stehen Sie auf, und gehen Sie etwas an die Luft, das tut Ihnen am besten.« – »Also, an die Luft gehen!« wiederholte Herr Treuthaler. – »Und wenn Sie Kopfschmerzen haben, so nehmen Sie ein Brausepulver.« – »Also, ein Brausepulver!« wiederholte Herr Treuthaler. »So, Peter, nun wissen wir alles.« – Als Peter zu Hause war, überlegte er sich, was nun geschehen solle. Ein Grund, die Hochzeit zu verschieben oder aufzuheben, war nicht mehr vorhanden. Er hätte sich geradezu den Arm oder das Bein brechen müssen. Er versuchte das auch ein paarmal auf der Treppe, aber im entscheidenden Momente fehlte ihm jedesmal der Mut, und er kam immer wieder auf beiden Füße zu stehen. Auch wurden die Hausbewohner aufmerksam. – »Also, heirate ich sie!« sagte er mit matter Stimme. »Aber mit Vorbehalt!« setzte er heftig hinzu. »Später scheide ich mich von ihr!« – Diesen letzten Zusatz aber machte er nur, um sich vor sich selbst Respekt zu geben. Gegen Liesel erfaßte ihn eine wehe Bitterkeit. Welche Herzlosigkeit, ihn so seinem Unglücke zu überlassen, wo es ihr so leicht war, ein Mittel wenigstens zu versuchen, das ihn befreien konnte. Er schrieb ihr einen Eilbrief, er heirate nun doch, da er keine Rettung durch sich selbst wisse. Sie möchte in dieser Sache nichts mehr tun, da sie nichts getan habe, solange es noch Zeit gewesen, und jetzt jeder Schritt von ihr nicht nur nutzlos, sondern direkt schädlich sein würde, da er nichts mehr ändere und alles nur verschlimmern könne. Er habe von ihr mehr Liebe und Erinnerung erwartet, und sie habe ihm nun gezeigt, daß er ihr völlig gleichgültig sei.

In Wirklichkeit lag die Sache anders, als er wähnte: Liesel hatte im Gegenteil sofort alles getan, was er von ihr verlangte. Ihr Brief war unterwegs, und die Verzögerung verschuldete Peter Michel selbst, der seinen Brief mit ihrem ihm gewohnten und geläufigen früheren Vor- und Vaternamen adressiert hatte, unter welchem sie nicht offiziell bekannt war. So bedurfte es erst polizeilicher Nachforschung, ehe es gelang, den Brief der Empfängerin auszuhändigen. Liesel hatte sich ein Vergnügen daraus gemacht, Peter recht behilflich und dienlich zu sein. Sie sah mit Freuden, daß es mit ihm doch noch nicht so schlecht stand, wie sie befürchtet hatte, und hoffte, daß noch einmal etwas Gutes aus ihm werden könne. Um ihn den Treuthalers als einen noch möglichst warmgebackenen Sünder hinzustellen, hatte sie die Zeitverhältnisse verschoben und geschrieben, ihre nähere Bekanntschaft datiere erst von der Zeit nach ihrer Heirat mit Herrn Julius: Nicht sie sei der schuldige Teil gewesen, sondern er; er habe sie verführt, langsam und allmählich, wenn ihr Gatte auf Reisen war. Dann habe sie nicht mehr gewollt, und da habe er ihr gedroht, er würde sie durch anonyme Briefe an ihren Gatten beunruhigen. Einen solchen hätte er auch geschrieben, und sie habe in ihrer Angst ihrem Manne vorgelogen, sie selbst hätte ihn erfunden – um ihn eifersüchtig zu machen. Dann habe Peter noch einmal geschrieben, und da sei sie in ihrer Not mit einem Dritten durchgegangen, nur um von Peter Michel loszukommen und in namenloser Furcht vor ihrem Gatten. Aber jetzt, wo sie sehe, daß er in derselben Familie nach dem Bruder nun auch die Schwester unglücklich machen wolle, da könne sie nicht mehr zurückhalten. Und wenn sie auch ein verworfenes Wesen sei, so seien doch ihre Worte wahr und wahrhaftig. Sie habe Peter Michel geschrieben, ihn beim Heiligsten beschworen, von jener Ehe abzustehen, aber er habe ihr die furchtbarste Rache angedroht, wenn sie ihn verriete. Sie würde seine Briefe schicken, wenn sie als Beweisstücke nötig wären, im Falle er leugnen sollte. Endlich habe sie geschrieben, sie müsse reden, wenn man sie auch mit glühenden Zangen zerfleischte, und darauf habe sie den vorliegenden Brief an Treuthalers abgeschickt. Hoffentlich käme er noch zur rechten Zeit, um ein Unglück zu verhüten. – »So; das ist gepfeffert genug!« sagte sie zufrieden zu sich selbst, indem sie die Feder fortlegte und den Brief spedierte. Bald darauf erhielt sie dann Peters Eilbrief, und ohne einen Moment zu verlieren, telegraphierte sie zurück: »Ja nicht heiraten! Brief unterwegs! Liesel!« – Aber dieses Telegramm sollte ihn nicht mehr erreichen.

Er erschien im Frack, um Tinchen zum Standesamte abzuholen. Immer noch hoffte er auf ein Wunder. Und das Blut gerann ihm, als Tinchen ihm entgegentrat in Schleier und Myrtenkranz. »Wo hast du denn dein Bukett für deine Braut?« fragte Julius erstaunt. Das hatte Peter total vergessen, und er stürmte die Treppe hinunter, um das Versäumte nachzuholen. Die alte Frau Treuthaler hatte verweinte Augen; und auch Tinchen sah man deutliche Spuren von Tränen an. Peter wandte sich fragend an Julius. – »Der Abschied zwischen Mutter und Tochter ist niemals leicht!« sagte dieser. Die Wagen fuhren vor, und man begab sich zum Standesamte und darauf zur Trauung. Tinchen saß steif und feierlich auf ihrem Sitze. Peter wagte kaum, sie anzusehen. Denn sie ergriff dann jedesmal seine Hand und blickte ihn zärtlich an. Und als sie in die Kirche traten, da noch immer wartete er auf das Wunder. – Wenn jetzt Liesel hereintrat und sagte: »Mir gehört er und keinem anderen!« – Er würde ihr in die Arme fallen. Ob sie ihn später zehnmal hinterging, das war ja ganz egal. Aber Liesel kam nicht; der Pastor hielt seine Traurede, fügte ihre Hände ineinander, und Peter sprach bewußtlos sein: »Ja.«

Das Hochzeitsmahl war bei Julius Treuthaler. Außer den nächsten Verwandten waren nur noch der Rektor und Frau Ottilie geladen. Peter saß ihr schräg gegenüber; Julius schenkte ihm fleißig Wein in sein Glas, und er trank ihn, um sich zu betäuben. Frau Ottilie war noch immer schön. Sie trug ein hellblaues Kleid aus feiner Seide und eine goldene Kette um den Hals. Sie blickte voll zu ihm hinüber und nickte ihm leise zu, als wolle sie sagen: Nun hast du, was du wünschest! Reden wurden gehalten, von Julius, von Herrn Treuthaler, vom Rektor, und man machte Peter begreiflich, daß er ebenfalls einige Worte zu sprechen habe. Er erhob sich und trank ein Wohl auf die ganze Versammlung, auf sich und auf »Fräulein Tinchen«, welche Bezeichnung von den Anwesenden als ein launiger Scherz belacht wurde.

Nach dem Essen traf er zufällig mit Frau Ottilie in einer Ecke zusammen. – »Gott sei Dank, daß Sie hier sind!« sagte er. »Ich glaube, ich hätte es sonst nicht überstanden.« Und als sie ihn erstaunt anblickte, fuhr er fort: »Ach, Sie wissen ja genau, daß ich sie nicht liebe. Ich habe nur einmal jemand geliebt, und das sind Sie.« – Sie, erhob sich sofort und sagte: »Sie scheinen nicht zu wissen, was Sie da reden. Nehmen Sie sich doch etwas zusammen!« – »Und Liesel!« setzte er lebhaft hinzu. »Aber das ist ja eigentlich dasselbe. Wissen Sie noch, wie Sie mich gemalt haben?« Diese Reminiszenz kam ihr durchaus nicht gelegen. »Seien Sie vernünftig!« sagte sie. »Sie sind ein Mann und müssen wissen, was Sie tun!« – »Ein Mann?!« wiederholte er; »nein, das bin ich nicht!« – Aber sie drehte ihm den Rücken und ließ ihn stehen, und er merkte, daß er Dinge geredet hatte, die er nicht hätte reden sollen. »Es ist ja doch alles eins«, sagte er für sich. Dann packte man ihn und Tinchen in einen Eisenbahnwagen, und fort rollte der Zug, der nächsten Hauptstadt zu.

Am folgenden Morgen erhob er sich melancholisch und übel gelaunt. Tinchen half ihm beim Ankleiden und blickte verlegen zur Seite, wenn er sie ansah. »Gleich wieder annähen!« sagte sie, als sie einen abgerissenen Knopf an seiner Wäsche bemerkte. Sie holte Nadel, Zwirn und Fingerhut aus einem Kästchen und begab sich an die Arbeit. Peter trank mürrisch seinen Kaffee. Sie blickte zuweilen von ihrem Schoße auf und sah zu ihm hinüber. Plötzlich warf sie ihre Arbeit hin, flog ihrem Manne um den Hals und brach in lautes Schluchzen aus. – »Was hast du denn?« fragte er verwundert. – »Ach, Peter! Süßer! Ich kann es ja immer noch nicht fassen, daß wir nun verheiratet sind! Uns angehören für immer und ewig!« – Peter starrte schwermütig über ihre Schulter. – Nach dem Kaffee schlug er ihr vor, ein wenig in der Stadt mit ihm zu spazieren und sich die interessanten Denkmäler und Museen anzusehen. Sie war sofort mit Eifer bereit, und während er seine Toilette beendete, holte sie ihre Mundharmonika und begann ein Stück zu blasen, den Choral, den er schon kannte. Aber mitten in ihren Tönen wurde sie durch ein Klopfen an der Tür unterbrochen. – »Telegramm für Herrn Michel!« meldete der Kellner. Peter nahm es, Übles ahnend, und erbrach es unverweilt – »Sogleich zurückkehren, notwendige Umstände. Treuthaler.« – Er sagte sich sofort, dies Telegramm müsse in Beziehung zu Liesels Briefe stehen, der nun wider Erwarten doch noch eingetroffen war.

»Wir gehen nicht zurück! Ich kann mir absolut nicht denken, was da passiert sein soll.« – Aber Tinchen meinte, Papachen sei immer kränklich gewesen, er könne vielleicht plötzlich todkrank geworden sein. – »Unsinn!« antwortete er. Aber sie begann zu weinen und beschwor ihn, sofort mit ihr zurückzukehren: »Mamachen hat gestern noch gesagt: ›Wenn du nur deinen Vater glücklich und lebendig wiedersiehst, Tinchen!‹ Oh, ich weiß es ganz gewiß; gestern, der viele Wein, die Aufregung, das ist er ja alles nicht mehr gewohnt, und nun hat er die Anstrengung nicht ertragen können! Peter, fahre mit mir zurück!« – Er wurde schwankend. »Meinst du?« fragte er. »Gut! Ich werde anfragen, was passiert ist; dann werden wir es ja erfahren.« – Sollte es sich wirklich nicht um Liesels Brief handeln? Es konnte sehr wohl sein. Ja, bei Lichte betrachtet, war es gar nicht so unwahrscheinlich. Er telegraphierte zurück: »Ist Papa krank?« Und erhielt die Antwort: »Ja!« So nahm er denn unverzüglich zwei Billetts, und dann saßen sie wieder Hand in Hand im Eisenbahnwagen. – Und wenn dies zweite Telegramm nun eine List war? Diese Idee schoß ihm mit einem Male durch den Kopf. Er suchte im stillen ein herausfordernd-hochmütiges Gesicht zu machen, aber es gelang ihm nicht recht. Und überhaupt, wenn es wirklich der Brief war, war denn das ein Unglück? Kam es dann nicht doch noch so, wie er gewünscht hatte? Konnte er sich nicht immer noch von Tinchen trennen? Er würde alles eingestehen, alles!! – Aber der Gedanke an die nächsten Stunden schnürte ihm die Kehle zu. – Tinchen konnte es nicht erwarten, ihren Vater zu sehen. Sie stolperte die Treppe hinauf, fiel ihrer Mutter an der Türe um den Hals und rief: »Ist er tot? Ist er tot?« – »Nein«, sagte sie. »Dein Vater lebt und ist gesund. Komm hier mit herein, Tinchen, in mein Zimmer. Peter, mein Mann erwartet dich vorn.« Peter lief alles Blut zu Herzen. Es kann nichts helfen! dachte er, und mechanisch öffnete er die Tür.

Der alte Herr Treuthaler saß im Lehnstuhl und erhob sich nicht bei seinem Eintritt. Julius stand neben ihm und blickte unbeweglich auf seinen eintretenden Schwager. Herr Treuthaler deutete auf einen Stuhl sich gegenüber und sagte: »Setz dich.« Peter tat es. Es entstand eine Pause; der alte Herr schaute, wie nach einem Anfang suchend, auf den Boden, während Julius voll und unverwandt auf Peter blickte. – »Nun«, begann der alte Herr endlich, »errätst du wohl, weshalb wir dich rufen ließen?« – Peter fühlte, wie alles Blut zu seinem Herzen strömte, und er sagte: »Nein.« Sein Blick tastete auf Herrn Treuthalers Gesicht, senkte sich aber sogleich, als er dessen Augen begegnete, die voll auf ihn gerichtet waren. Herr Treuthaler zuckte verächtlich mit den Achseln: »Nun gut, so will ich meine Frage anders stellen: Was hast du zu deiner Verteidigung zu sagen?« Peter atmete immer schneller. Ihm war, als ertränke er. »Zu meiner Verteidigung?« sagte er endlich tonlos. – »Eine solche Unverschämtheit ist doch unerhört!« fuhr da der alte Herr mit einem plötzlichen Ruck vom Stuhle auf, und Julius schüttelte mit einem Laute der Entrüstung seinen Kopf und begann im Zimmer auf und ab zu wandern. – »Was hast du zu deiner Entlastung zu sagen?« schrie ihn der alte Herr von neuem an. – »Ich weiß ja gar nicht, was sie alles geschrieben hat!« rief da Peter, gänzlich in die Enge getrieben. – »Also jede Spur eines Zweifels beseitigt!« wandte sich Herr Treuthaler an seinen Sohn. – »Du weißt nicht, was sie alles geschrieben hat? Das weißt du nicht? Von wem ist denn überhaupt die Rede, he? Wer ist denn diese ›sie‹, he? Wenn du weißt, daß ›sie‹ über dich geschrieben hat, so wirst du vermutlich auch wissen, was sie geschrieben hat! Du bist ein verkommener Mensch! Ein verkommener Mensch!! Aber die Person hat immer noch mehr Ehre im Leibe als du! Sie fürchtet sich nicht vor deinen Drohungen! Du hast sie zur Untreue gegen ihren Gatten verführt!« Peter wollte protestieren, aber der alte Herr brüllte: »Schweig! Du hast sie auf die abschüssige Bahn gebracht, und jetzt, wo sie sieht, daß du ein zweites Mädchen unglücklich machen willst – was sage ich: zweites Mädchen? Gott weiß, die wievielte es ist! – da hat ihre bessere Natur in ihr gesiegt! Kannst du leugnen, daß du ihr Rache angedroht hast, wenn sie dich verriete? Er glaubte sie einzuschüchtern, der Patron, durch seine albernen Drohungen, und doch hat er von Stunde zu Stunde, von Minute zu Minute gezittert, der Brief könne doch noch eintreffen! Er wurde krank vor Angst, der Feigling! Er steckte sich ins Bett vor Furcht! Und dann dampfte er mit unserem Kinde ab und lachte uns aus, daß ihm der Streich doch noch gelungen war, daß er sie und ihr Geld doch noch gekapert hat, gerade vor Torschluß. Kriegt noch im letzten Augenblick ein Telegramm von der Person.« – »Das ist nicht wahr!« rief Peter verzweifelt. – »Ja, gelesen hat er es natürlich nicht, der Bube, denn er war mit unserem Kinde schon über alle Berge – aber hier steht es, hier, hier!« – Er zog mit zitternder Hand ein Telegramm aus der Tasche: »Ja nicht heiraten! Brief unterwegs! Liesel!« Da – da steht es, Monsieur, da steht es! Und du bist festgenagelt und kommst nicht mehr los von deiner Schande, trotz aller Ausflüchte, die du machen möchtest!« – »Ich habe sie nicht verführt!« rief Peter wie taumelnd. – Der alte Herr stürmte auf ihn ein: »Da–a, lies deine Schande schwarz auf weiß, und dann sage noch, wenn du den Mut hast: ›Ich habe sie nicht verführt!‹« – Er schlug mit dem Rücken seiner Hand heftig und viele Male auf den Brief der Liesel, den er in der Linken hielt. »Lies ihn!« – Er hielt ihn Peter dicht unter die Nase, und der sah nur eine Flucht hinwirbelnder Buchstaben; der alte Herr ließ ihm auch gar keine Zeit zum Lesen: Im nächsten Augenblick schlug er ihm Hand und Papier mitten aufs Gesicht. Das war zuviel für Peter. – »Ich verbitte mir das! Das ist eine Unverschämtheit!« – »Unverschämtheit!?« rief der alte Herr und wollte von neuem auf ihn zu. Aber Julius hielt ihn zurück. – »Überhaupt«, rief Peter wütend, »alles ist nicht wahr, was sie geschrieben hat. Gar nichts davon ist wahr!« – »Bravo!« rief der alte Herr, »bravo!« Und Julius sah Peter mit einem Blicke tiefster Verachtung an und sagte: »Wenn es der Mühe verlohnte, dir eine Antwort zu geben, so möchte ich dich fragen: Bist du nicht kreidebleich wie ein armer Sünder gewesen, als du zur Tür hereintratst? Wußtest du nicht sofort, wovon die Rede war, ehe wir nur ein Wort gesprochen hatten? Kann uns Liesel nicht deine Briefe schicken, in denen du sie bedrohtest, falls sie dich verriete? Hast du nicht damals die beiden anonymen Briefe an mich geschrieben? Haben wir hier nicht das Telegramm, in dem sie dich beschwört, nicht zu heiraten?« – Peter flimmerte es vor der Seele. Seine Gedanken waren ein wildes Chaos. Er atmete schwer und schwieg einige Augenblicke. – »Also!« begann er endlich, »jetzt sehe ich, ich muß euch geradeheraus sagen, wie sich alles zugetragen hat: Ich habe Tinchen nie geliebt; ich wollte sie nicht heiraten: ich wußte keinen Ausweg; ich schrieb an Liesel, sie möchte mich bei euch verdächtigen; ich wollte alles eingestehen; ich hoffte, ihr würdet die Verlobung darauf von selber lösen; dann war ich kompromittiert und nicht Tinchen; Liesels Brief kam nun zu spät an; ich war bereits verheiratet; weshalb soll ich jetzt noch Dinge eingestehen, die nicht wahr sind? Ich schrieb ihr in letzter Stunde, ich heirate nun doch, weil ich glaubte, daß sie den Brief an euch nicht geschrieben hätte. Und das Telegramm, das ich nicht mehr erhielt, ist die Antwort auf meinen letzten Brief; ich sollte nicht heiraten, denn der Brief an euch wäre unterwegs!« –

Dies trug Peter aufgeregt und hastig vor. Es herrschte einen Augenblick Pause höchsten Erstaunens. Dann schlug der alte Herr wahnsinnig Beifall klatschend in die Hände, und Julius rief höhnisch: »Wahrhaftig, Peter, ich hätte dir niemals zugetraut, daß du so kunstvoll lügen könntest! Wirklich geistreich. Direkt erfinderisch! Geradezu genial!!« – Er trat auf ihn zu und durchbohrte ihn mit seinen Augen: »Kannst du mich gerade anblicken und mir meine Frage beantworten: Hast du keinerlei Beziehungen zu meiner früheren Frau gehabt?« – Diese Frage kam Peter, wenigstens in solcher Form, unerwartet. Er wollte reden, aber er fand die Worte nicht; Julius wandte sich von ihm ab; es herrschte ein Moment der Stille. Dann sagte Julius, »ich glaube, die Frage ist nun entschieden.« – »Schurke!!« zischte der alte Herr. Aber da kochte es in Peter plötzlich auf. »Nein!« rief er; »die Frage ist nicht entschieden. Ich habe mir zuviel gefallen lassen! Ich habe allerdings Beziehungen zu Liesel gehabt, aber das war lange, ehe sie verheiratet war, ehe Julius sie überhaupt gekannt hat. Ihr habt gar keine Veranlassung, mich von Tinchen zu trennen. Aber das sage ich euch: Jetzt trenne ich mich von ihr, für eure Unverschämtheit!« – »Hinaus!!« brüllte der alte Herr, »hinaus!« Aber indem er ihn zur Türe trieb, wurde diese von außen aufgedrückt, und Tinchen, mit rotem, tränenüberströmtem Gesicht suchte hereinzudrängen, während die alte und die junge Frau Treuthaler sich bemühten sie nach hinten zu zerren. Sie zwängten sich hindurch, und die beiden Frauen hinterdrein. Alle drei Weiber stimmten ein gemeinsames Weinen an. – »Geht ihr mal hinaus!« rief Julius barsch. »Ihr macht die Geschichte nur noch viel schrecklicher!« Aber Tinchen hatte sich schon hingesetzt und hielt sich am Stuhle fest. – »So haltet doch wenigstens euren Mund!!« schrie der alte Herr, und auf dies Kommando herrschte Stille im Zimmer, und man vernahm nur noch ein abgerissenes Glucksen. – »Also, es hat sich herausgestellt, Tinchen«, sagte ihr Vater mit bebender Stimme, »falls du es noch nicht wissen solltest, daß dein Mann bis zu seiner Verheiratung ein Lotterleben geführt hat. Du wirst wohl wünschen dich wieder von ihm zu trennen. Und ich kann dir versichern: Wir wünschen es ebenfalls.« – Tinchen brach in heftiges Schluchzen aus und schüttelte den Kopf: »Aber ich – ich – ich will mich ja gar nicht von ihm trennen! Ich – ich habe ihn ja – viel zu lieb!« – »Tinchen, unsere Familie ist dann wieder gereinigt von dem Schmutz, der ihr jetzt anhaftet!« Tinchen schüttelte den Kopf. Da rief Peter: »Dann trenne ich mich von ihr! Ich will auch von eurem Familienschmutze gereinigt werden!« Hierauf erhielt er von Julius eine kräftige Ohrfeige, die er, seines Vorsatzes eingedenk, ebenso kräftig erwiderte. Es wäre eine Keilerei entstanden, wenn sich die Frauen nicht an ihre Rücken und Arme gehängt hätten. »Laßt ihn!« schrie Tinchen. »Laßt ihn! Er ist mein Mann! Er hat nicht die Schuld! Ihr habt ihn gereizt! Ihr habt ihn beleidigt! Ich weiß es ja doch besser als ihr alle, wie lieb er mich hat! Seit gestern – sind wir ja – verheiratet.« – »Ha, Bube! Herzloser!« rief ihr Vater, »siehst du nun das ganze Unglück, das du über eine schuldlose Familie gebracht hast? Und du, du willst dich trennen von ihr? Du?! Darfst du dich denn eigentlich trennen von ihr? Ist sie der schuldige Teil, oder bist du es? Hat sie sich vergangen, oder hast du dich vergangen? Du kannst gar nichts tun, als dich freuen und dich gedemütigt bedanken, wenn deine Frau dich wieder in Gnaden aufnehmen will! Das kannst du!« – Peter stand wie versteinert; er fühlte die Wahrheit dieser Worte, und seine letzte Hoffnung sank in nichts. Tinchen aber hatte sich erhoben, die Arme ausgebreitet, und schmiegte sich eng und innig an seine Brust. – – »Du hast es nicht verdient!« zischte jetzt die alte, hagere Frau Treuthaler aus ihrer Ecke hervor, und die junge blickte ihn mit recht grünlichen Augen an. – »Nein! Verdient hat er es weiß Gott im Himmel nicht!« rief Julius mit Emphase. – »Sprich, hast du es verdient?« schrie ihn der alte Herr an. »Ob du es verdient hast?! Antworte!! Antworten sollst du!!« – »Nein«, murmelte Peter, welcher das Nutzlose einer anderen Antwort einsah, die nur einen neuen Entrüstungshagel auf ihn hätte herniederprasseln lassen. – »So! Nun hat er doch wenigstens eingestanden, daß er 'n Lump ist!« rief der alte Herr, indem er ihn mit seinen Augen an die Wand zu nageln schien. »Und nun marsch! Aus dem Zimmer, und nach Hause mit dir!« – Eine solche Behandlung aber war zuviel für Peter: Er ballte die Fäuste und sah den alten Mann mit bebenden Lippen an. Dieser machte Miene, abermals auf ihn einzustürmen, aber Tinchen warf sich zwischen sie und drängte ihren Vater bis zur Tür: »Ihr sollt meinen Mann nicht beschimpfen«, rief sie und hing im nächsten Augenblicke wieder an seinem Halse. »Ihr sollt ihn nicht beschimpfen! Wenn ihr ihn beschimpft, so beschimpft ihr mich, und dann bin ich euer Kind nicht mehr! Dann sage ich mich los von euch!« – Peter fühlte dunkel, daß er in Tinchen einen Bundesgenossen habe. »Jawohl!« rief er, »dann sagen wir uns los von euch!« – Und Tinchen legte ihren Kopf an seine Brust und drehte ihn zu Treuthalers hinüber mit einem aufmerksamen, fast hasenartigen Ausdruck: »Komm, Peter, wir wollen fort von ihnen, sie haben uns nicht lieb; wir wollen wieder auf unsere Hochzeitsreise!« – »Bist du toll?« rief ihr Vater. »Hochzeitsreise! Auch noch! Hier bleibt ihr, unter Julius' Aufsicht! Und der Monsieur Michel kann sich freuen, wenn wir ihn nicht einsperren! Da sie sich einmal an den Monsieur gehängt hat, in Gottes Namen denn!« – Aber Tinchen schmiegte sich nur fester an Peter, und Peter sah herausfordernd auf seine Schwiegereltern.

Die ganze Situation hatte sich allmählich und ihm unbewußt verschoben: Er und Tinchen bildeten die eine, die Familie die andere Partei. – »Sie liebt ja den Monsieur mehr als ihre eigenen Eltern!« – »Jawohl«, rief Tinchen, »ich habe ihn auch lieber als euch, denn er ist mein Mann! Er ist immer so gut gegen mich gewesen, o so gut! Und ihr seid schlecht gegen mich und wollt mir mein Glück nicht gönnen! Aber wir brauchen euch gar nicht zu unserem Glücke! Wir haben aneinander genug! Und die Geschichten sind alle nicht wahr, die ihr erzählt habt, Peter hat es ja selbst gesagt! Gott weiß, wer sie erfunden hat! Alle nicht wahr sind sie! Ihr habt ihn verleumdet! Komm, Peter, wenn sie nicht wollen, daß wir glücklich sind, so sind wir erst recht glücklich, und wenn sie uns unsere Hochzeitsreise nicht gönnen, so machen wir sie erst recht!« – Sie hatte ihn bei der Hand gefaßt und zerrte ihn aus dem Zimmer. »Adieu!« rief sie, »ich behalte euch alle lieb, wenn ihr mich lieb behaltet.« – Damit war sie hinaus, und bald darauf saß sie mit Peter abermals in der Eisenbahn und sagte: »So, nun haben wir beide nur uns selbst und sonst niemanden in der Welt! Mein süßer, einziger Mann!« – Und sie lag in seinen Armen und er in ihren. – Wie das alles gekommen war, er wußte es nicht. Er wußte auch nicht, ob er sich glücklich oder unglücklich fühlte. Aber ihm war, als sei eine große Gefahr endlich überstanden. Und Tinchens reine Zärtlichkeit wirkte wie eine Entschädigung auf alle die vergangenen Beschimpfungen, und er empfand etwas wie Dankbarkeit gegen sie.

»Sage mir, Peter«, fragte sie ihn am Abend, als sie eng aneinandergeschmiegt und allein waren: »Ist irgend etwas wahr von dem, was Papa und Julius erzählt haben?« – Peter zögerte. – Dann beichtete er ihr sein Erlebnis mit Liesel, welches er vor Jahren hatte, und schwor, dies sei der einzige Fehltritt, den er je begangen. Und dann weinte und weinte sie an seinem Halse, daß ihm die Tränen an der Brust herunterliefen, und sie weinte so lange, bis aller Schmerz von ihrer Seele gespült war. Und dieser Abend war erst ihr eigentlicher Hochzeitsabend.


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