Friedrich Huch
Peter Michel
Friedrich Huch

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10. Kapitel

Peter bezog wieder seine alte Wohnung. Der Tod seiner Mutter hatte sehr auf sein Gemüt gewirkt; es bedurfte einer langen Zeit, ihn wieder ins Gleichgewicht zu bringen. Es zeigte sich bei dieser Gelegenheit, daß er die Sympathie aller Lehrer seiner Schule besaß. Sie suchten ihn mehr als früher in ihre Kreise hineinzuziehen, und er schien ihnen nicht mehr so abgeneigt wie ehedem. Anfangs betrachtete er ihre Abende als ein Ablenkungsmittel für seinen Kummer, aber dann gewöhnte er sich an sie. Er lernte nun Skat, Kegeln und andere gesellige Unterhaltung. Seine Familienverhältnisse waren jetzt dunkel bekannt. Es verlautete gerüchtweise, sein Vater wäre schwachsinnig und seine Schwester sei tobwütig und in einem Irrenhause. Die letzten traurigen Vorgänge mit seiner Mutter waren natürlich in ihrer ganzen Furchtbarkeit bekannt, den Lehrern sowohl wie den Schülern. Aber wie ähnliches bei Kindern oftmals geschieht, aus einem gesunden Lebensinstinkt heraus, dessen Äußerung dem Unverständigen roh erscheinen muß, so hatten die Knaben, das Seelische des Vorganges nicht begreifend, nur das Fremde und Groteske in ihm gesehen und es in ihrer Weise aufgefaßt. Sie spielten: Michel und seine Mutter. Einer legte sich als Michel auf einen der langen Schultische, ein anderer als Mutter. Dann schnarchten beide, bis der eine stöhnte, schrie, aufsprang und zum Fenster lief, während der andere mit wildem Gebrüll hinter ihm dreintobte. Es kam nun darauf an, daß die »Mutter« durch das Parterrefenster entwischen konnte, ehe es dem andern gelang, sie festzuhalten. Gelang dies letztere nicht, so hatte die Mutter »gesiegt«.

Frau Ottilie stand ihm in der schweren Zeit sehr zur Seite. Sie erfuhr alle Einzelheiten der Katastrophe, aber das Ganze war ihr fremd und unfaßbar. So milderten sich ihm allmählich die Schrecknisse der Erinnerung, und als er nach Jahresfrist an dem efeubedeckten Grabe seiner Mutter stand, da war ihm fast, als sähe er sie wieder so vor sich, wie er sie als Kind gesehen.

So lebte er still dahin, als eines Tages Liesel bei ihm erschien mit einem fremden Herrn, den sie als ihren Mann vorstellte. Dieser machte eine Verbeugung, versicherte, daß er Treuthaler heiße und sich am hiesigen Orte niederlassen würde, da seine Geschäfte dieses erforderten. – »Er ist übrigens kein Jude!« sagte Liesel etwas protegierend; »sein Name kommt nicht von Treuthal, sondern von Treu und Taler: Das kann er ganz genau beweisen. Er sieht doch auch nicht die Spur jüdisch aus!« – Das tat Herr Treuthaler wirklich nicht. Er hatte ein ziemlich rundes, etwas plattgedrücktes, gutmütig dreinschauendes Germanengesicht und hellblaue ehrliche Augen. Die Augenbrauenknochen waren so stark vorgebaut, als wolle der obere Teil des Gesichtes den unteren zermalmen. Dies gab dem Kopfe etwas gleichsam Angedonnertes, das durch den nach rechts und links gezwirbelten Schnurrbart noch ins Martialische gesteigert wurde. Er war ein feuriger Philister. – »Julius heißt er mit Vornamen«, fuhr Liesel fort. »Julius, ich habe dir doch viel von Peter Michel erzählt, du weißt doch!« – »Ja«, sagte er. »Soviel ich weiß, waren Sie ein Pflegekind von Papa.« Peter sah ihn verständnislos an. – »Von meinem Papa natürlich«, erklärte Liesel. – »Das ist ein prächtiger alter Herr!« nickte Herr Treuthaler mit Wärme; »prächtiger alter Herr! Und seine Frau erst! Prächtige alte Dame! Wirklich zwei prächtige alte Leute! Wohnten so hübsch gemütlich mit ihrem Kinde zusammen, bis ich es ihnen weggekapert habe. Eigentlich grausam von mir! Was, Liesel?« Er sah sie mit seinen blind-hellen, treuherzigen Augen schmunzelnd an. Peter betrachtete ihn: Wie mochte Liesel wohl gerade an den geraten sein? Sie erriet seine Gedanken und sagte ohne weiteres: »Peter, guck nicht so unverschämt!« – »Aber Liesel!« sagte ihr Mann etwas verdutzt, »was fällt dir denn ein!« Sie aber sprang auf: »So! Jetzt wollen wir wieder fort.« – Während Herr Treuthaler sich etwas umständlich seine roten Glacéhandschuhe anzog, stand sie hinter seinem Rücken und sah über seine wattierten Schultern zu Peter hinüber, mit Augen, die etwa sagen sollten: Nun siehst du wohl, ich hab' doch noch einen gekriegt; etwas schofel zwar, allein was tut's?! – Als sie fort waren, blieb Peter noch eine ganze Zeit in Nachdenken versunken. Wie kam es nur, daß er so gänzlich ungerührt war? Sie war doch immer noch sehr eigenartig! Auch ihr Gesicht hatte an Frische nichts verloren.

Herr Treuthaler blieb mit seiner Frau nun wirklich am Orte. Er hatte eine Zuneigung zu Peter gefaßt und trug ihm seine Freundschaft in so herzlicher, fast erdrückender Weise an, daß Peter gar nicht anders konnte, als ebenfalls herzlich sein. Und so schloß sich zwischen den beiden Männern ein Freundesbund. Seine Frau verehrte er über alle Maßen und sah in ihr eine Art höheres Wesen. Von ihrer Vergangenheit wußte er rein gar nichts, da er von außen zugereist kam, sie durch Zufall kennenlernte, ihre Eltern als achtungswerte Bürgersleute schätzte und es als unwürdig verschmähte, Erkundigungen hinter ihrem Rücken anzustellen. Was Liesel nun veranlaßte, seinen Antrag anzunehmen, war folgendes: Das Verhältnis zu ihren Eltern war im Lauf der Zeit zu einem unerträglichen geworden; sie wollte fort von zu Haus. Vor einer Heirat schreckte sie zwar im allgemeinen zurück, aber der Fall schien ihr hier besonders günstig zu liegen: Sie durchschaute Herrn Treuthaler sofort als einen grundguten, etwas beschränkten, leicht bewundernden Menschen; er hatte ein reichliches Einkommen und würde sie sehr gut behandeln, und diese Heirat würde ihr einen sicheren Untergrund, einen Hafen gleichsam, bieten, in den sie von ihren abenteuerlichen Ausflügen stets zurückkehren konnte. Denn sie hatte keinen Moment daran gedacht, ihre Gewohnheiten aufzugeben. Herr Treuthaler war durch sein Geschäft zu vielfachen Reisen gezwungen. Nach diesen hatte sie sich nun genau bei ihm erkundigt, und während er sie ihr mit dankbarer Gründlichkeit auseinandersetzte, sie in seine Interessen vertieft glaubend, kombinierte sie in Wirklichkeit diese Dinge mit ihren eigenen Plänen. – Die Sache verlief genau, wie sie verlaufen sollte: Herr Treuthaler war ein ahnungsloser und äußerst fürsorglicher Ehemann, der nur etwas zu sehr auf Bequemlichkeit, Pantoffeln und Wärmflasche sah, gern über seine Gesundheit redete und ihr jeden Morgen die Zunge zeigte. Als Gatte war er ihr von einer irritierenden Stumpfsinnigkeit.

Gleich seine erste Abwesenheit benutzte sie dazu, Peter Michel einen Besuch zu machen. Sie fand ihn immer noch anziehend und zudem männlicher geworden. Er saß bei der Lampe und arbeitete, als sie hereintrat. Sie trug ein dunkelgrünes, hochschließendes Kleid, eigentlich etwas zu frauenhaft. Aber sie war ja nun verheiratet. – »Was willst du denn hier?« fragte Peter. – »Dich besuchen! Ist dir das etwa unangenehm?« – »O nein; wo ist denn dein Mann?« – Sie wollte sagen: »Verreist«; besann sich aber und antwortete: »Der kommt bald nach! Hast du keinen Wein?« Peter schüttelte den Kopf. – »Julius wird müde sein; er ist den ganzen Tag auf den Beinen gewesen. Hol doch welchen!« Peter ging die Straße hinunter und beeilte sich, damit Julius nicht etwa vor ihm einträfe. Als er zurückkam, fand er Liesel, eine Zigarette rauchend, auf dem Sofa liegend. – »Aber Liesel, wenn dich dein Mann so sieht!« – »Tu den Kork ab!« – »Den Kork ab?« – »Natürlich!« – Er tat es. Sie nahm das Glas, streckte die Beine gänzlich aus, reckte sich und ließ ihre kleinen, mit feinen schwarzen Strümpfen und Schuhen umkleideten Füße und zierlichen Knöchel sehen. Er sah sie von der Seite an und dachte: Sie ist doch eigentlich eine kokette Frau! – »Wann kommt denn dein Mann?« fragte er endlich. – »Ach Gott, laß doch den Esel!« sagte sie laut und ärgerlich, sich mitten im Gähnen unterbrechend. – »Hör mal, Liesel, da hört doch wirklich alles auf. Erstens liegst du da sehr unanständig, und dann nennst du deinen Mann einen Esel!« – »So! Als wir zusammen im Grase lagen und Wein tranken, das war wohl sehr anständig?« – »Nein!« sagte er, etwas nach einer Antwort suchend, »das war es nicht. Aber damals warst du auch noch nicht verheiratet.« – Draußen ging eine Tür. – »Geh mal schnell vom Sofa, da kommt dein Mann!« – Aber sie blieb ruhig liegen, und die Schritte entfernten sich. – »Sag mal, er kommt wohl gar nicht?« – »Ach Gott, Peter, du bist tödlich! Dies ewige Fragen! Wenn er kommt, ist er da, und wenn er nicht kommt, ist er nicht da. Ich bin froh, daß ich ihn mal los bin, und nun stehst du da und starrst fortwährend auf die Tür und fragst, ob er käme. Also: Er kommt nicht, er ist verreist und kommt erst morgen nachmittag zurück.« – »Wohin ist er?« – »Weiß ich nicht, ist mir auch vollkommen einerlei. Heute bleibe ich bei dir. Sei mal so gut und zieh mir die Schuhe aus!« – Peter stand versteinert. Endlich raffte er sich auf: »Also daraus wird auf keinen Fall etwas. Jetzt steh mal sofort auf und setz dich anständig hin. Das geht ja gar nicht mehr!« – Er trat auf sie zu und faßte sie am Arm. Aber sie packte ihn mit beiden Händen und zog ihn an den Haaren zu sich nieder. »Du dummer Junge!« rief sie und küßte ihn, »du dummer Junge! Anstatt dich zu freuen, daß ich da bin, stehst du da und lamentierst!« – Er machte sich hastig los: »Jetzt stehst du auf und begibst dich nach Hause. Ohne weiteres. Und wenn du das nicht tust, so rufe ich meine Wirtin!« – »Das ist mir ganz egal.« – »Und die Polizei!« – Liesel brach in ein lautes Gelächter aus und sprang mit einem Ruck empor. – »Peterchen, du niedliches!« rief sie, indem sie ihn von neuem umarmte und schüttelte, »ich wollte ja nur mal sehen, ob du mich noch möchtest!« – »Ich mag dich nicht mehr!« sagte er schmollend, mit abgekehrtem Gesichte. – »Ich dich eigentlich auch nicht! Aber lieber als Julius mag ich dich doch noch! Du glaubst gar nicht, wie fabelhaft öde er ist!« Sie schwieg und blickte ihm ins Gesicht, mit einem Ausdruck, daß Peter sagte: »Liesel, du solltest dich schämen!« – »Auch noch!« rief sie erheitert, »na, Peter, adieu! Hoffentlich bist du das nächste Mal in besserer Stimmung.« – »Daß du dich nicht unterstehst!« rief er. – »Bitte, liebes Peterchen, gegen Damen muß man immer galant sein!« – Damit war sie hinaus und stampfte nun mutig und leicht durch den Schmutz in ihre Wohnung zurück. Dieser dumme Junge! dachte sie. Und dann dachte sie an ihren Mann. Drei Monate hatte er sie nun schon elend gemacht, sie wäre ihn am liebsten so bald wie möglich wieder losgeworden. – »Ein schrecklicher Kerl!« sagte sie ganz laut. – Sie hatte sich da eigentlich recht festgefahren mit ihrer Heirat. Und es ergriff sie eine stille Wut gegen diesen Menschen. – »Wenn ich nur jemand fände, mit dem ich ihm durchbrennen könnte!« – Dann fiel ihr Blick auf seinen Zylinder auf dem Tische, mit seiner breiten, unbeholfenen Form, und sie glaubte ordentlich das Gesicht mit dem martialischen Bart und den unausstehlich treuen, hellblauen Augen darunter zu sehen. – Mit einem kräftigen Faustschlag trümmerte sie ihn zusammen. Dann saß sie wieder da, und es zuckte in ihr vor Lebenslust.

Plötzlich sprang sie auf, zog sich wieder an und verließ das Haus. Bald darauf befand sie sich in dem Saale eines Varietétheaters. Hier wimmelte es doch wenigstens von Menschen, die sich amüsieren wollten.

Sie überflog die Tische mit ihren Augen und setzte sich in die Nähe eines Herrn, der am aufgewecktesten dreinschaute und zugleich sehr gut gekleidet war. Sie lernten sich darauf kennen, und Liesel fand in dem späteren Verlauf ihrer Bekanntschaft, daß sie eine sehr gute Wahl getroffen habe. Ihr Mann war aber sehr betrübt, daß seine Frau anfing, sich unliebenswürdig gegen ihn zu zeigen. Er wagte sie kaum noch zu liebkosen, sein »herziges kleines Weibchen«. Einmal äußerte er sich Peter Michel gegenüber und fragte ihn, ob er den Grund ihrer dauernden Verstimmung kenne. Er habe durch seinen früheren Verkehr mit ihr vielleicht einen besseren Einblick in ihr Seelenleben. – Peter hätte ihm am liebsten die Wahrheit gesagt, aber er scheute sich davor. Er dachte: Ich beunruhige ihn vielleicht ganz unnötig, denn Liesel ist gewiß nicht mehr so schlimm, wie sie tut; und wenn Liesel es erführe, würde sie am Ende aus Ärger über mich ihrem Manne erzählen, was früher zwischen uns geschehen ist, und dann würde der Verkehr zwischen ihm und mir aus sein. – So schwieg er. Herr Treuthaler jedoch bohrte seine treuen Augen grübelnd in eine Ecke, zwirbelte seinen Bart und schüttelte den Kopf. Aber Liesel wurde nach und nach wieder freundlicher gegen ihn, sie war oft in einer ausgeglichenen, fast sanften Stimmung. – »Wo hast du denn den neuen Hut her, Liesel? Du machst doch nicht etwa Schulden?« fragte er sie einmal mit schäkernd-drohender Stimme. – »Wo denkst du hin!« antwortete sie gutgelaunt; »alles vom Wirtschaftsgeld. Da sieh mal!« – Sie öffnete ihr Portemonnaie und zeigte ihm den Inhalt. »Und heute ist schon der zwanzigste!« – Er war ganz erstaunt, und sie dachte: Oh, ich könnte dir noch manches zeigen. Dann lobte er seine sparsame kleine Hausfrau, und sie antwortete in Gedanken: Du Kamel! – Nach und nach wurde sie kühner, und bald nahm sie gar keine Rücksicht mehr auf ihn, indem sie überhaupt nicht mehr auf Gründe und Entschuldigungen sann, wenn sie fortblieb. Dann erhielt er einen anonymen Brief: Seine Frau halte es mit einem andern. Den Brief zeigte er ihr sofort, bleich vor Schrecken und Erregung. Sie faßte sich und log ihm etwas betreten vor, den Brief habe sie selbst geschrieben, um ihn eifersüchtig zu machen, denn sie glaube, er liebe sie nicht mehr so wie früher. Darum habe sie sich auch in der letzten Zeit von ihm zurückgezogen. Da schloß er sie gerührt in seine Arme, zerfloß fast in Mitleid für sein »herziges, goldiges Weibchen« und widmete sich ihr nun mit doppelter Hingebung. – Dann erhielt er eines Tages einen zweiten Brief, von derselben Hand, er möge dann und dann da und da sein, um sich mit Augen davon zu überzeugen, daß seine Frau ihn hintergehe. Im ersten Augenblick lächelte er über sie, daß sie ihn zweimal mit demselben Mittel anführen wolle. Aber plötzlich wurde er stutzig und dachte: Sollte sie den ersten Brief vielleicht doch nicht geschrieben haben? Sollte mich meine Frau wirklich hintergehen? Er begab sich augenblicks zu Peter, dem er beide Briefe zeigte. Der war des tiefsten erschreckt, doch faßte er sich und sagte, es müsse sich um eine ganz schmähliche Verleumdung handeln. Am selben Tag begab er sich heimlich zu Liesel, sagte ihr, alles sei entdeckt, und beschwor sie, nicht zu ihrem Rendezvous zu gehen sowie überhaupt dieses unwürdige Leben aufzugeben. – Liesel verschaffte sich den Schlüssel zum Geldschrank ihres Mannes, und am nächsten Tage war sie mit ihrem Freunde auf und davon gegangen. Herr Treuthaler setzte Polizei und Agenten in Bewegung, aber es gelang nicht, die Flüchtlinge aufzufinden. Sie verjubelten ihr Geld, und als sie nichts mehr hatten, machte ihr Freund ihr den Vorschlag, mit ihm an ein Varietétheater zu gehen. Er selbst gehörte der Bühne an. Anfangs hatte sie keine Lust dazu, indem sie es unvornehm und dumm fand. Aber als er ihr rund erklärte, sie allein sitzenzulassen, da überlegte sie sich die Sache doch, zumal er sie selbst ausbilden wollte, wenn sie bei ihm bleibe. So geschah es denn; in kürzester Zeit hatte sie einige Couplets auswendig gelernt, und da sie hübsch und feurig aussah, so fand sie auch bald eine Stelle und legte nun den Namen Nikita Schlimpinska an. – Aber dieses Leben war ihr recht zuwider. Nur der Champagner, den sie manchmal zu trinken bekam, versüßte ihr das Dasein.

Herr Treuthaler war über die Flucht der Gattin tief unglücklich. Aber er maß sich selbst alle Schuld an dieser Sache bei. – »Ich bin nicht der rechte Mann für sie gewesen!« sagte er wiederholt zu Peter; »ich verstand sie nicht, und da hat das unglückliche Wesen in seiner Verblendung diesen Schritt der Verzweiflung begangen!« – Gegen den Verführer war er von der grimmigsten Wut erfaßt, und er schwor, er würde den Kerl totschlagen, wenn er ihn zu fassen kriegte.

Peter redete eines Tages mit Frau Ottilie über Liesel. Er fürchtete, sie würde in harten Ausdrücken über sie sprechen; aber nichts davon geschah. Sie sah eigentlich nur die praktische Seite der Sache. – »Wenn das arme Ding nur nicht bald in Verlegenheit gerät!« sagte sie. »Wie ich höre, hat sie ihrem Manne heimlich Geld fortgenommen, ehe sie ihm durchging. Aber sie soll ja aus Versehen die Hauptsache liegengelassen haben!« – »Ja«, sagte Peter, »und das sah ihr ganz ähnlich.« – »Sie hätte ihn nie heiraten sollen«, fuhr sie fort; »erstens paßte ihr Mann nicht für sie, und dann paßte sie nicht für ihn; und überhaupt nicht fürs Heiraten. Sie wird nie eine Frau werden. Übrigens scheint es mir, als ob sie eine ziemlich bewegte Vergangenheit hinter sich hat. Für Sie, Peter, ist's ein Glück, daß sie Sie nicht genommen hat. Sie würde Ihnen nur das Leben schwer gemacht und Sie nie verstanden haben. Aber ich wundre mich doch, daß sie diesen letzten Schritt getan hat, denn ich hätte nicht geglaubt, daß sie so viel Kraft besäße und so viel Vertrauen in sich selbst. Auch die ursprünglichsten Menschen werden beeinträchtigt durch die Verhältnisse, die sie umgeben!« –

Diese letzten Worte sprach sie mit unbewußtem Bezuge auf sich selbst. Sie fühlte, daß sie im Laufe der Zeit allmählich eine andere wurde, und zugleich die Unfähigkeit, sich diesem fast unmerklichen Einflüsse ihrer fortwährenden Umgebung zu entziehen. Sie hatte ein drittes Kind geboren, ihre Mutterpflichten erfüllten sie fast gänzlich, und die wenige freie Zeit, die ihr blieb, widmete sie gesellschaftlichen Forderungen, denen sie sich nicht mehr gut entziehen konnte und nicht einmal mehr wollte; denn sie waren so von Nutzen! Das hatte sie so sehr empfunden, als bei einer gefährlichen Krankheit des Annili die befreundeten Mütter ihr mit Rat und Tat zur Seite standen, Wege für sie machten, ihr Krankengegenstände borgten und dem Kinde, als die Genesung vorwärtsschritt, manch hübsche Überraschung und kleine Freude bereiteten. – Ihre Stimme hatte gelitten, sie sang nun gar nicht mehr, und die Gartenarbeiten fingen an, sie anzugreifen, da ihre Körperformen allmählich voller wurden. Auch das Versprechen, das sie Peter vor Jahren gab, ihn wieder zu malen, wurde nicht gehalten. Peter erinnerte sie wohl daran, aber sie fand nicht die Zeit dazu, und dann fehlte ihr auch etwas die Energie. – »Es wird ja doch nichts Rechtes!« sagte sie. »Das Bild, das ich damals machte, war schon schlecht, aber jetzt würde ich es kaum halb so gut machen können; ich habe ja seit Jahren alles liegenlassen! Und wozu soll ich mir die Bitternis bereiten, mir Stück für Stück meine eigene Unfähigkeit vorzupinseln! Sehen Sie mein Orangenbäumchen! Da steht es und ist inzwischen groß und stark geworden und hat viele kleine Früchte bekommen; da sieht man, wie die Zeit vergeht!« – Peter brach eine auf und kostete sie. Aber sie war matt, es fehlte das Aroma. – Und eines Tages ging das Bäumchen ein und wurde vom Fenster entfernt. Frau Ottilie zerschnitt es eigenhändig mit einer Schere, tat es Stück für Stück in den Kamin und sah zu, wie sich die Teile krümmten und wanden unter der Flamme, bis sie schwärzlich und regungslos verglommen.

Peter sah Frau Ottilie seltener und seltener. Denn während sie auf der einen Seite von ihren Pflichten und neuen Interessen sehr in Anspruch genommen wurde, nahm sein Verkehr mit den Kollegen und Herrn Treuthaler zuviel von seiner eigenen Zeit hinweg, als daß er sich ihr mit der ganzen Innigkeit hätte widmen können; wenn sie zusammenkamen, so war es, als stände irgend etwas Unsichtbares zwischen ihnen. Sie entfremdeten sich leise. Das empfanden beide und litten darunter, ohne es jedoch ändern zu können. Sie trösteten sich mit der Hoffnung, es würde wieder anders werden, und im Grunde seien sie beide die alten geblieben.

Peter führte Herrn Treuthaler in seinen Bekanntenkreis ein, der diesem sehr behagte. »Das sind ja Männer mit goldenen Herzen!« sagte er. »Mit goldenen Herzen! Wirklich mit goldenen Herzen! Nein, Peter, was ich dir dankbar bin, daß ich die kennengelernt habe! Mit denen müssen wir öfter zusammenkommen! Dieser Bente, oder wie heißt er doch gleich! Der Dicke mit der niedrigen Stirn und den Pausbacken! Wenn der die Augen zukneift und dann lospustet vor Lachen, da muß ja jeder mit, er mag wollen oder nicht! Na, und dann der, der schon so'n bißchen 'ne Glatze hat; der mit der goldenen Brille, Ahmann heißt er, glaube ich; übrigens, der trieb es eigentlich ein bißchen zu toll! Hat es dick hinter den Ohren. Na, ist ja auch in Paris gewesen! Und wie du gähntest und die beiden dich wie auf Kommando in die Rippen pikten, das war doch gottvoll! Übrigens, der Kleine, das scheint mir aber doch ein bißchen ein Kaffer zu sein!« – »Der ist ein ganz neuer; er ist erst seit einigen Wochen bei uns und noch sehr schüchtern.« – »Ach so!« Julius nickte langsam mit dem Kopfe. Die Sache schien ihm nun plausibel und der Mann entschuldigt.

Eines Tages erhielt Herr Treuthaler einen mit »Nikita Schlimpinska« unterzeichneten Brief, in dem diese ihm mitteilte, sie ginge jetzt nach Frankreich.

Julius war nicht sogleich auf der Höhe der Situation. – »Leb wohl, Du kleiner Schafskopf« hieß es am Schluß, »ich fühle mich recht wohl ohne Dich. Dein Geld ist leider alle.« – Das war zuviel! Herrn Treuthaler erfaßte ein gerechter Zorn. Er hatte sich so oft schon in einsamen Stunden ausgemalt, wie seine Frau voll Reue zu ihm zurückkehren und wie er ihr alsdann alles Böse mit Liebe vergelten würde! Aber nun war es aus! – »Schafskopf! Jawohl, Schafskopf!« rief er erregt; »ich bin ein Schafskopf, wirklich ganz wahrhaftig!« Er sah unwillkürlich in den ovalen Spiegel über dem Sofa und begegnete seinen eigenen hellblauen Augen, die ihn mit Zorn aus ihren Hinterhalten anblickten, während der Schnurrbart, nach rechts und links gezwirbelt, ihm zuzurufen schien: »Mach einen Strich durch diese ganze Sache, Julius!« – »Das will ich auch!« rief er. »Sie hat es nicht verdient um mich!« – Er setzte nun die Polizei in Bewegung, und einige Tage darauf traf das weltunkundige Liesel, das mit einer solchen Möglichkeit gar nicht gerechnet hatte, unter obrigkeitlichem Schutze wieder in der Stadt ein. Herr Treuthaler klagte auf Ehebruch und drang auf Scheidung. – »Ich bin noch nicht fertig mit dem Leben!« sagte er zu Peter. »Ich bin ein Mann in den besten Jahren! Ich will wieder heiraten! Ich will eine Familie gründen!« – Liesels intimste Erlebnisse wurden nun an die Öffentlichkeit gezerrt, und Peter zitterte, daß man ihn als Zeugen vernehmen würde und daß sein früheres Verhältnis zu ihr ans Licht kommen könnte. Aber dieses geschah Gott sei Dank nicht. – Das Wiedersehen der beiden Gatten war sehr merkwürdig. Wie Julius sie erblickte, richtete er sich hoch auf und begann, den linken Arm auf den Rücken gelegt, den Blick auf sie geheftet, in großen Bewegungen seinen Schnurrbart zu drehen; sie dagegen sah ihn unter einem etwas phantastischen Hute lächelnd an, den Oberkörper ein wenig vorgeneigt, und wollte ihm ganz unbefangen die Hand reichen. – »Bedaure sehr, Fräulein Schlimpinska«, sagte er mit einer Verbeugung und einem erregten Zittern in der Stimme. Dann blickte er mit Genugtuung nach rechts und links. Wie gut ihm diese Antwort gelungen war!

Die ihr zur Last gelegten Dinge gestand sie eifrig ein und willigte gern in die Scheidung. Aber ihre Zuversichtlichkeit wurde doch etwas herabgemindert, als sie mit einem Male ihrem Vater gegenüberstand. Sie begriff, daß man sie zum mindesten wieder in ihr elterliches Haus zurückhaben wolle. Aber so gut kam es gar nicht: In eine Besserungsanstalt sollte sie! Und so wie dieses Wort gefallen war, nahm sie gar keine Rücksicht mehr. Sie sagte, sie sei mündig und selbständig, und ihr Vater möchte sich seine Worte sparen. Dann stand der alte breitschulterige Mann, die schwarzen Augen durchdringend auf sie geheftet, hochaufgerichtet, wie zum Äußersten bereit, vor ihr. – »Du sollst mir nicht vorwerfen«, sagte er endlich mit schwerem Atem, »daß ich es an Selbstbeherrschung hätte fehlen lassen. Aber von heute an ist das Band zerschnitten zwischen dir und uns. In unserem Hause ist kein Platz für eine – Dirne!« – Das waren seine letzten Worte; schweren Schrittes verließ er den Raum. – Die Scheidung wurde vollzogen, und Liesel reiste zu ihrer Truppe zurück, die sie mit lautem Hallo begrüßte. Sie sollte ihre Abenteuer erzählen, aber das tat sie nicht. – »Es war furchtbar langweilig!« war alles, was sie sagte. Sie dachte auch in der Folgezeit nicht mehr viel an die verflossenen Dinge; dagegen trat ihr Herrn Treuthalers Persönlichkeit in sonderbarer Weise näher. Sie verfiel nämlich auf den Gedanken, sie in ihren Couplets zu verwerten. Sie trat im Herrenkostüm auf, mit einem altmodischen Zylinder, mit einem martialischen Schnurrbart und breitem Männerbauch, und trug ein Lied vor, das sie selbst gedichtet und dessen Strophen mit dem Refrain schlossen: »Ach, was bin ich für ein Esel!« – Sie hatte eigentlich nicht viel Stimme und auch nicht viel Spiel. Aber in ihrer Art des Auftretens, in ihrer ganzen Erscheinung, in ihrem Vortrag lag etwas so Selbstverständliches, fast Trockenes, das durch ihre innere Unbeteiligtheit noch verstärkt wurde, daß diese Nummer eine Attraktion ersten Ranges wurde und ihr stets einen rasenden Applaus eintrug. Aber auch wenn sie eine »Dame« darzustellen hatte, zeigte sich, daß, was bei anderen ein Mangel war, bei ihr zum Vorteil wurde: Sie konnte nämlich gar keine Dame darstellen. Ihre starke Weiblichkeit jedoch, vermischt mit der fast jungenhaften Art ihrer Bewegungen, ihre südlichen dunkeln Augen, ihr knabenhafter voller Mund, den sie fast unschön öffnete, die herben Linien ihres Körpers – das alles vereinigte sich zu einem fremdartigen Ganzen, das ungemein pikant wirkte. Der Direktor, welcher sie anfangs für ziemlich talentlos gehalten und sie fast nur wegen ihres Äußeren genommen hatte, erhöhte ihr alsbald die Gage um ein Beträchtliches, da sie ihm eine wahre Erwerbsquelle geworden war. Sie erlangte eine Berühmtheit in Fachkreisen, und »à la Schlimpinska« wurde modern; doch, wie es in den meisten solchen Fällen geht, all die Nachahmungen erreichten das Original auch nicht entfernt, indem was hier Natur war, dort zur Mache wurde, und nur einige äußerliche Ähnlichkeit zwischen beiden bestand durch eine gewisse Seelenlosigkeit des Vortrages. – Auch ihr Lied »Ach, was bin ich für ein Esel« ging bald über die Bretter eines jeden größeren Varietétheaters. – Herr Treuthaler, welcher von dem Rufe seiner geschiedenen Gattin gehört hatte und eines Tages ein »à la Schlimpinska« auf einem Plakat las, beschloß, mit Peter Michel das Theater zu besuchen, um einmal diese Schlimpinskamanier kennenzulernen. Und als dann eine Dame auftrat, die fast genau aussah wie er selber, um das berühmte Originalcouplet vorzutragen, da bedurfte es kaum noch der vor der Eingangsstrophe trocken gesprochenen Worte: »Ich bin der treue Julius, wer's nicht glaubt, bezahlt 'nen Taler!« – um Herrn Treuthaler zu versichern, daß er selbst der Julius sei. – Dann sang die Dame, sie sei Kaufmann und habe sich verheiratet: »Ein herziges goldenes Weibchen«. Es folgte der Betrug der Gattin mit dem Freunde, seine Leichtgläubigkeit und der Refrain: »Ach, was war ich für ein Esel«! Unter atemloser Spannung, mit tadellos artikuliertem Sprechgesang und unter diskret nachgebender Klavierbegleitung erzählte er nun weiter von dem anonymen Warnungsbrief und von seiner fabelhaften Dummheit. Dann kam der dritte und letzte Vers, in dem die Flucht und die Freuden der Liebenden erzählt wurden, die zuletzt ein Hoch auf den Ehemann von dessen Gelde trinken. – »Ach, was war ich für ein Esel!« – Der Erfolg war durchschlagend, zumal man sogleich fühlte und jauchzend bestätigt fand, daß es sich um eine wahre Skandalgeschichte aus den eigenen Kreisen handelte. – Herrn Treuthalers Augen waren fest auf die Peter Michels gerichtet: »Ein Schandweib!« sagte er leise, mit einer Stimme, in welcher das tiefe Pathos einer im innersten Kern verletzten Seele bebte. »Ein Schandweib! Gut, daß wir hier so geborgen in einer Ecke sitzen! Und wer kann sie denn abhalten, hier eines Tages selbst aufzutreten und ihre Lieder zu singen?« – Peter durchfuhr es mit tödlichem Schreck. O Gott, dachte er, wenn sie nun auch ein Lied auf mich macht und ich dann überall aufgeführt werde!«

Herr Treuthaler bildete für einige Wochen das Gesprächsthema aller Gesellschaften. Man hatte damals Liesel sogleich mit etwas Mißtrauen aufgenommen, als sie an der Hand ihres Mannes – der, wenn er sich bei ihnen niederließ, eine Frau aus ihrer Mitte hätte nehmen müssen – in die verschiedenen Bekanntenkreise eingeführt wurde. Nun sah man ja, was dabei herausgekommen war, und wenn ihn seine Frau jetzt vor aller Welt bloßstellte, so war das einfach die gerechte Strafe. – Aber dann nahmen diese Klatschereien eine andere Richtung, als Herr Treuthaler eines Tages verschwand und bald darauf zurückkehrte mit einer neuen Frau aus seinem eigenen Heimatsorte. Und diese bereitete ihm nun ein wirkliches trautes Heim.

»Peter, für dich ist die Zeit des Heiratens eigentlich auch schon längst gekommen!« sagte er eines Tages. »Ich wüßte ein prächtiges Mädchen für dich! Meine Schwester Ernestine!« – Peter nahm den Vorschlag als einen Scherz auf, aber Herr Treuthaler meinte ihn im Ernst, denn er hatte großen Familiensinn und wollte seine Schwester glücklich sehen. Und Peter Michel auch! – Er kam des öfteren auf diese Sache zurück, und als seine Frau das erste Kind bekam, da war auch Ernestine da, um die Mutter zu pflegen.

Und Peter lernte Ernestine kennen. Sie war in der Tat kein übles Mädchen und ähnelte ihrem Bruder ein wenig; doch war sie hübscher als er. Sie wußte offenbar schon um die geplante Sache, denn sie zeigte gegen Peter ein etwas schüchtern-linkisches Benehmen. Sie setzte ihm sogleich Kaffee und Kuchen vor und ließ sich verlegen an einem Rohrstuhle hinuntergleiten, bis sie auf ihn zu sitzen kam. Herr Treuthaler versuchte nun ein Gespräch in Gang zu bringen, was ihm mit einiger Mühe auch gelang. Er regte Peter an, etwas aus seiner Lehrertätigkeit zu erzählen, fragte, ob sein Beruf nicht ein sehr edler sei und Befriedigung einbrächte, und warf, als Peter: »Doch!« antwortete, seiner Schwester einen bedeutungsvollen Blick zu. Diese sollte nun ihrerseits etwas zum besten geben, damit Peter ihren Charakter kennenlerne. Sie drehte ihr Taschentuch um den Zeigefinger und sagte gar nichts. Dann half ihr Bruder ihr etwas auf die Sprünge. – »Wie war das doch gleich in eurer Pension, wo du den Haushalt gelernt hast, die Geschichte damals? Sie hat nämlich den Haushalt gelernt und ist die Beste von allen gewesen! Na, wie war die Geschichte gleich?« – »Welche?« fragte sie und hörte zu drehen auf. – »Tu doch nicht so, als ob du mich nicht verständest! Die mit dem Hunde natürlich und der Vorsteherin!« – »Ach, die kennst du doch!« Sie zog etwas verlegen den rechten Mundwinkel hoch und drehte wieder. – »Ja, aber Herr Michel möchte sie auch gerne kennenlernen!« – Sie warf diesem einen scheuen Blick zu und sagte: »Ach Gott!« worauf sie schwieg. – Peter erklärte, er würde die Geschichte sehr gerne hören, worauf ihr Bruder sie noch einige Male antrieb und sie endlich den Mund auftat, erst etwas zögernd anhub, darauf freier wurde, bis plötzlich, irgend etwas in ihr einen Stoß erhalten zu haben schien und die Worte ganz von selbst aus ihrem Munde kamen, sich überhasteten und überstolperten, wobei sie den Kopf ein wenig hin und her warf und es sich herausstellte, daß sie einen kleinen Zungenfehler hatte. – »Na, siehst du, nun hast du doch deine Geschichte erzählt!« sagte Julius mit aufmunterndem Kopfnicken. – »Sie macht auch Musik!« wandte er sich an Peter. – »Herr Michel macht auch Musik!« wandte er sich an seine Schwester. Sie zog die Schultern etwas hoch und kicherte. »Worüber lachst du denn, Tinchen?« Sie sah sogleich wieder sehr ernsthaft aus und begann von neuem ihr Taschentuch zu drehen. – »Moppi hat auch ein neues Halsband bekommen!« sagte sie plötzlich mit einem Anlauf. – »So-o? Moppi ist nämlich ihr kleiner Hund! Ein gräßliches Vieh!« – »Pfui! Julius, wie kannst du so etwas sagen. Ist nämlich gar nicht wahr. Julius neckt mich so gern. Moppi ist ein süßes kleines Tier!« – Sie sprach die letzten Worte eigentlich zu Peter, aber als der ihr voll ins Gesicht blickte, tat sie, als habe sie ihn gar nicht gemeint, und sprach den Rest in die Luft. »Tinchen, willst du wohl so gut sein und mir mal meine Zigarren holen? Sie stehen auf meinem Schreibtisch.« – Tinchen erhob sich sofort und ging hinaus.

»Nun, wie gefällt sie dir?« – »Oh, ganz gut«, sagte Peter etwas unsicher. – »Du mußt natürlich bedenken, daß sie sich jetzt furchtbar geniert! Du solltest sie mal sehen, wenn sie so recht ausgelassen ist! Ein prächtiger kleiner Wildfang!« – Er brach ab, denn Tinchen trat wieder ein. Sie merkte, daß man über sie geredet hatte, stellte die Zigarren auf den Tisch, ohne einen von beiden anzusehen, die Nase in der Luft, und wollte sich ohne weiteres wieder hinausmachen. Ihr Gang hatte etwas Wehendes, Sonderbares. Ihr Bruder hielt sie an der Schürze fest: »Auskneifen gilt nicht!« Aber sie zog und drehte so lange, bis er sie losließ, und eilte hinaus. »Nun seh einer den kleinen Racker! Ein verrücktes Huhn! Aber doch eine Perle, ein ungeschliffener Diamant!« Und dann legte er die Hand auf Peters Schulter und sagte: »Ja, ja, Peter, überlege es dir!«

Eines Tages besichtigte Peter auch Julius' neuen kleinen Stammhalter. Ein strammer dicker Junge! Sie traten in das Schlafzimmer seiner Frau ein. Diese zog sogleich, als sie Peter erblickte, die Bettdecke bis hoch an den Hals hinauf. »B-scht!« sagte Herr Treuthaler mit wichtiger Miene. »Dort liegt er!« Sie traten an das Lager des Kindes, welches ganz den Kopf und die Augen des Vaters hatte. Wenigstens behauptete Peter dies. – »Wie können Sie das nur sagen!« tönte Frau Treuthaler von ihrem Bette her. »Er hat doch ganz das Gesicht der Brettschneiders!« – »Aber, Emma, das ist doch gar nicht wahr! Mir sieht er ähnlich, Schatz!« – »Dickchen ist so furchtbar eitel!« tönte sie von neuem. – »Aber das hat doch mit der Ähnlichkeit nichts zu tun!« rief ihr Mann in ehrlichem Pathos. – »Dickchen muß immer widersprechen!« klagte sie weiter. – »Nun, nun, mein Schatz, es ist ja nicht böse gemeint!« sagte er begütigend. »Komm, Peter, wir wollen sie jetzt verlassen!« Er trat noch einmal zur Wiege, sah das Kind mit seinen ehrlichen blauen Augen an, voll echten Vaterstolzes, und reichte seiner Frau die Hand zum Abschied.

Peter hatte nun öfters Gelegenheit, mit Ernestine Treuthaler zusammenzukommen, und sie verlor allmählich ihre Schüchternheit. Es zeigte sich auch bald, daß sie ihn liebte. Er sagte einmal, seine Lieblingsfarbe sei blau, und von da trug sie täglich ihr blaues Kleid, das eigentlich nur für den Sonntag bestimmt war. Sie wußte alsbald, wieviel Stück Zucker er in den Kaffee nahm, welchen Stuhl er am liebsten hatte, wie stark er den Tee und wie weich er die Eier liebte, so daß sich Peter bei ihr sehr wohl aufgehoben fühlte. Aber der Gedanke quälte ihn doch, daß er sie heiraten sollte. Liebe empfand er gar nicht zu ihr, obgleich er sie sehr gern mochte. Sie war so hilfsbereit und dienstfertig und hatte kein böses Wort für irgendeinen Menschen. Und als Herr Treuthaler ihm erzählte, daß sie zu Hause nicht so viel gälte als ihre Geschwister und ein wenig als Aschenbrödel behandelt würde, da zeigte er in seinem Betragen eine besondere Rücksichtnahme und Freundlichkeit, die sie mit Dankbarkeit erfüllte. Sie trat nun nach und nach auch mit ihren kleinen Talenten hervor. Sie konnte mit viel Geschick bunte Monogramme sticken, so fein, daß auch die beste Kunststickerin nichts daran auszusetzen fände – wie Julius sagte; und sie konnte Garnituren häkeln und die feinsten Maschen stricken. Sie arbeitete Jäckchen für das neugeborene Kind und garnierte einen Kapotthut für die Mutter; und dabei war alles ordentlich sauber, »als ob es gekauft wäre«. Auch was Julius über ihre Musik gesagt hatte, bestätigte sich. Sie wollte es allerdings anfangs nicht wahrhaben. – »Julius ist viel zu gut gegen mich, er macht mich immer viel besser, als ich bin!« – »Nun, so hol doch mal dein Instrument!« – Sie saß verlegen, wie angeleimt auf ihrem Stuhle. – »Soll ich es holen?« fragte er. »Sage mir, wo es liegt, dann gehe ich!« – Aber sie antwortete nicht und wippte etwas mit dem Kopfe. – »Sei doch nicht so eigensinnig!« fuhr er fort. »Tinchen hat nämlich manchmal ihren besonderen Kopf!« wandte er sich an Peter. »So war sie schon als Kind. Plötzlich will sie nicht mehr, und dann ist gar nichts mit ihr anzufangen. Ich weiß noch ganz genau, es mögen jetzt wohl so zehn bis zwölf Jahre her sein, da kam ich eines Tages mal etwas zu spät zu Tische, und wie ich mich hinsetzte –« – »Ich habe es in der Tasche!« sagte Tinchen, ohne sich zu rühren. – »Na, dann zieh es doch mal heraus!« Und dann zitierte er: »Willst du immer weiter schweifen, sieh, das Gute liegt so nah!« – »Ich geniere mich.« – Peter vereinigte seine Bitten mit denen ihres Bruders. Da fuhr sie endlich mit der Hand in ihre Tasche, durchwühlte sie unnötig lange, das Kinn verlegen auf die Brust gestemmt, und brachte endlich eine kleine Mundharmonika zum Vorschein. Peter war hierauf nicht gefaßt, obgleich er sich gesagt hatte, eine Geige oder ein Klavier könne es nicht sein. Sie ließ sich nun auch nicht mehr lange bitten, sondern begann sogleich ein Lied zu blasen, rein und taktsicher. Dann blies sie noch eins, »mit Begleitung«! wie Herr Treuthaler zu Peter mit aufgehobenem, leise den Takt angebendem Zeigefinger sagte, und schließlich einen Choral, dessen langgezogene Akkorde sich besonders für das Instrument eigneten. Und als sie den beendigt hatte, sagte sie, sie könne auch noch ein »schweres Stück«, und machte sich alsbald mit Fertigkeit daran. Dann wiederholte sie es. Peter wartete bis zum Schluß und fragte sie dann, wo sie das gelernt hätte? – »Ganz allein!« sagte sie mit Stolz, und ehe er etwas erwidern konnte, hatte sie ein neues Stück begonnen. »Nun hör aber auch mal wieder auf!« meinte ihr Bruder endlich, worauf sie sogleich ihre Musik abbrach und das Instrument wieder in die Tasche schob. Peter lobte sie sehr, wunderte sich aber, wie sie gerade auf dieses Instrument gekommen wäre. – »Das ist doch viel schöner als so ein Klavier!« sagte sie, sehr angeregt. »Ein Klavier kann man doch nicht in die Tasche stecken, und die Mundharmonika kann ich überall mit hinnehmen, wohin ich will. Meinswegen, ich will mal sagen: Also, wir machen eine Landpartie, da kommt ein Platzregen, und da sitzt man also – bums! – in einem Wirtshause. Und es pladdert und pladdert. Also neulich an meinem Geburtstage hatte Mama einen Topfkuchen gebacken, und wie wir unterwegs sind, na, ich sage also auf einmal pol –«, sie schluckte und konnte nicht weiter, denn sie hatte sich ein wenig zuviel auf einmal zugemutet. – »Na, Tinchen, wir glauben es dir!« sagte Julius gutmütig und klopfte sie auf die Schulter. Aber Tinchen sagte traurig: »Immer wenn es gerade am schönsten wird, dann geht es plötzlich nicht mehr!« – Peter hatte Mitleid mit ihr; er tröstete sie und sagte, er habe alles sehr gut verstanden. Und das tröstete sie wirklich. – Herr Treuthaler nahm mit Genugtuung die wachsende Vertraulichkeit der beiden wahr. Aber er sagte gar nichts mehr zu ihm, sondern beschloß, die Sache sich ganz von selbst entwickeln zu lassen: »Peter Michel muß man richtig behandeln!« sprach er eines Tages zu seiner Frau. »Er ist ein feiner Kopf; ja, ja, ein feiner Kopf!« – Seine Frau wußte selbstverständlich um den Plan, und obgleich sie weder für den einen noch für den anderen Teil irgendwelches Interesse hatte, so tat sie doch alles, um sie zusammenzubringen, ja, sie setzte ihren förmlichen Ehrgeiz darein. So wurden denn an Peter Michel, ohne daß es ihm zum Bewußtsein kam, all die Mittel und Mittelchen angewendet, welche von manchen Frauen der bürgerlichen Gesellschaft mit so viel Liebe und Erfolg geprobt werden und die scheinbar so harmlos sind. Man behandelte ihn mit familiärer Selbstverständlichkeit, ließ ihn mit Tinchen stets zusammengehen und ‑sitzen, sorgte dafür, daß in Kaffeegesellschaften die Nachricht verbreitet wurde, sie seien heimlich verlobt, redete von Peter als einem »Ehrenmanne« und tat das Nötige, als ihm zu Ohren kam, daß seine Erklärung als etwas ganz Selbstverständliches, als eine kurze Frage der Zeit angesehen sei.

Eines Tages beschloß er, Frau Ottilie um Rat zu fragen in dieser Angelegenheit. Er war sich selbst nicht klar und glaubte, sie würde die Frage besser beurteilen können. Er traf sie, wie sie gerade dabei war, ihr zweites Kind, das Annili, durchzuprügeln. – »Die Kinder wachsen einem über den Kopf, wenn man ihnen alles hingehen läßt!« sagte sie. Dann führte sie ihn in den Salon und fragte, ob er in einer besonderen Angelegenheit komme. Er habe so ein feierliches Wesen. Was sie feierlich nannte, war in Wirklichkeit eine Mischung aus Befangenheit und einer dunklen Trauer. Sie blickten sich beide an, und jeder erwartete, daß der andere zuerst sprechen sollte. Sie ahnte, worüber er mit ihr reden würde, denn auch ihr war die Nachricht zu Ohren gekommen. Sie hatte Tinchen etwas kennengelernt und wunderte sich ein wenig über Peters Geschmack. Doch hatte sie auch alsbald die guten Seiten des Mädchens herausgefunden. – »Also, auch Sie wissen es schon!« sagte er. »Ja, es weiß hier beinahe jeder. Und ich begreife nicht, wie das kommt.« Frau Ottilie antwortete: »Ich habe von jeher gewünscht, daß Sie recht glücklich würden, und habe mit Ihnen gefühlt, als Sie unglücklich waren. Es freut mich also, zu hören, daß Sie auf dem Wege sind, Ihr Glück zu machen.« – So würde die frühere Ottilie nicht geredet haben! – Er faßte sich ein Herz und sagte: »Ja!« und dann wußte er nicht weiter. Er empfand es plötzlich so nutzlos, mit ihr zu reden. – »So meinen Sie also«, sagte er endlich zögernd, »daß ich sie heiraten soll?«

Frau Ottilie brach in ein kleines Lachen aus, das Peter mit Wehmut erfüllte, denn es klang wie ein Gruß herüber aus vergangenen Jahren. »Ja, das müssen Sie doch wissen!« sagte sie. »Sie kennen sie doch besser als ich, und kennen wohl auch ihr Herz besser als ich. Wenn Sie das Mädchen lieben und wieder von ihr geliebt werden, so wäre es töricht, sie nicht zu heiraten. Ich habe sie kennengelernt, zwar nicht sehr nah, aber doch so, daß ich ungefähr ein Urteil über sie habe, und es scheint mir, sie wird eine gute Hausfrau werden. Sie ist zwar noch sehr unfertig, aber, du lieber Gott, das läßt sich von einem jungen Mädchen auch nicht anders erwarten. Sie wird sich gewiß noch entwickeln; und was ihren Charakter betrifft, so glaube ich, daß er ein sehr guter ist. Ein Grundzug ihres Wesens scheint mir große Natürlichkeit und Aufrichtigkeit zu sein.« – Peter blieb noch ein paar Augenblicke unschlüssig sitzen, dann erhob er sich langsam und reichte ihr die Hand. Eine schöne Blume fiel von ihrer Brust.

Als er das nächste Mal zu Treuthalers ging, teilte man ihm mit, ein Brief sei von zu Hause angelangt, welcher Ernestine zu ihren Eltern zurückriefe. Man sah ihn dabei auf eine seltsame Weise an, und er fühlte, daß man von ihm erwartete, er würde sich jetzt aussprechen. So gestand er denn unter Stottern, daß er Ernestine heiraten möchte. Endlich! Frau Treuthaler fühlte einen schönen Triumph in ihrer Seele, und Julius schloß ihn ohne weiteres in seine Arme und drückte ihm laut seine Männerlippen auf den Mund. Tinchen wurde geholt, Julius teilte ihr das Geheimnis mit, und sie stand da, die Hände in ihre Schürze geknüllt, über und über rot und ganz verlegen. Plötzlich blickte sie auf, und mit einem Ruck warf sie Peter ihre Arme um den Hals und küßte ihn schnell und mehrere Male. – Er war wie im Traume, er hörte Julius' Worte wie von ferne, ihm war, als sei er es gar nicht, der hier stände, als müsse er erwachen, ganz allein, in einem weiten, hohen Felde.


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