Friedrich Huch
Peter Michel
Friedrich Huch

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5. Kapitel

Peter Michels Studium nahte seinem Ende. Wer ihn jetzt wiedersah, bemerkte in seinen Zügen eine gewisse Veränderung: sie waren fester, regelmäßiger geworden. Doch der Ausdruck seiner Augen war derselbe. Allen Versuchungen der Großstadt hatte er widerstanden, oder sie waren nie an ihn herangetreten. In Gesprächen mit Kameraden hatte er sich indes die Geschicklichkeit angeeignet, eine Kennermiene anzunehmen und mit gewissen Dingen so vertraut zu scheinen wie der Christ mit dem Jenseits. Wenn er allein war, so dachte er oft darüber nach, wie er es wohl anzustellen habe, um ebenso zu sein wie die anderen. So verfiel er einmal darauf, jene Damenkapelle, welcher er damals mit Herrn Ottmer einen Besuch abgestattet hatte, allein aufzusuchen, heimlich, mit klopfendem Herzen. Aber die Wirkung war nicht die erhoffte. Einmal auch überwand er sich, der Einladung einer jener Damen, welche Spaziergänger oft unvermittelt anzureden pflegen, Folge zu leisten. Sie mißfielen ihm durchaus nicht, diese Damen; sie hatten alle so schöne Gesichter und rochen so vornehm. – Durch ein Gewirr von Straßen begleitete er sie in ein Haus hinein, vier Treppen hinauf, durch einen gewundenen Gang bis in ein kleines, kahles Stübchen. Hier wohnte die Dame. Schon auf dem Wege aber ward ihm beklommen zumute und noch mehr, als sie die Treppe hinaufwanderten, und wie sie sich im Dunkeln den Gang entlangtastete, da wäre er am liebsten wieder umgekehrt. Jetzt begann die Dame es sich in verblüffender Weise leicht zu machen und forderte Peter auf, ein gleiches zu tun. Der stand in der Mitte des Raumes, des höchsten verlegen. Sie zog ihn zu sich heran, nahm ihn aufs Knie und streichelte ihn zunächst. Jetzt schien sie ihm nicht mehr so jung und schön wie auf der Straße durch den weißen Schleier, bei der ungewissen Gasbeleuchtung. Deutlich unterschied er Runzeln. Und das Rote: War das – Schminke? Sie mochte merken, was in seiner Seele vorging, denn ihr Gesicht wurde noch viel süßer. Wie sie aber den Mund zu einem fragenden: »Na?« – öffnete, sah er, daß sie Zahnlücken hatte. Und er starrte sie noch ängstlicher an. Ihre Augen schienen ihm tot und glasig, das Lächeln um ihre Lippen wie eingefroren, sie war wie eine angemalte Leiche. Aber was war denn das?! – In der äußersten Verwirrung sprang er auf und erklärte, er wolle nach Hause. Sie murmelte erst mürrisch einige Worte für sich, dann sagte sie, sie wäre nicht sein Hanswurst, und schließlich verlangte sie ihr Geld, und wenn er ihr das nicht gäbe, so würde sie die Polizei holen und das ganze Haus zusammenschreien. Er riß seine Börse heraus, gab ihr das Verlangte und stürmte die Treppen hinunter.

Einmal besuchte er auch die Fanny von drüben, aber das sollte ihm übel bekommen. Er war nämlich fast eben in ihr Zimmer eingetreten, als draußen an der Korridortür ein Geräusch entstand und Männertritte sich dem Zimmer näherten. Das junge Mädchen stürzte auf die Tür und verriegelte sie. Man versuchte zu öffnen. Dann klopfte es: »Aufmachen!« – Beide schwiegen. Es wurde stärker geklopft und an der Tür gerüttelt. Ihm war wie im Traume. Das war ja doch nicht möglich. Das Mädchen starrte angstvoll auf die Tür. Ein neuer heftiger Schlag erfolgte. »Mein Gott, das Haus bricht ja zusammen!« schrie eine weibliche Stimme draußen. Türen schlugen auf und zu. Man unterschied fremde Stimmen. – »Nicht aufmachen will sie! Diesmal habe ich sie ertappt. Warte man, du Luder! Und deinen Kerl haue ich dir braun und blau. Willst du jetzt aufmachen?« – »Kriech unters Bett!« flüsterte das Mädchen. Peter sah sie ratlos an, aber sie ließ ihm keine Zeit und überlegte inzwischen, was sie selbst beginnen sollte. Schnell zog sie sich halb aus und schlüpfte in das Bett. Sie wollte sich krank stellen. Da gab die Tür nach, und ein großer Mann stand auf der Schwelle, und als er jetzt drohend auf sie zukam, vergaß sie jede Verstellung und zog die Decke über ihren Kopf, in dem einzigen Instinkte, sich zu schützen. Er versuchte, die Decke herabzuzerren, aber sie knäulte sich noch mehr zusammen, es entspann sich ein heftiger, wortloser Kampf. Schließlich stieß er mit seinen Fäusten in die bewegte, zuckende weiße Masse. Sie gab nach; er riß die Decke hinab: Da lag sie, halb entkleidet, mit wirrem Haar, die nackten Arme vorgestreckt, ihn anstarrend wie ein Tier. Inzwischen hatte Peter wohl bemerkt, was vorging; jetzt hielt er es für würdelos, in seiner Lage zu verharren. Was kommen würde, wußte er nicht. Aber irgend etwas mußte geschehen. Er arbeitete sich unter dem Bett hervor. Mit einem Wutschrei stürzte sich der Mann noch einmal auf das Bett und bearbeitete das Mädchen mit seinen Fäusten. Sie ächzte und suchte sich zu befreien, doch vergebens. Von hinten fielen ihm die Leute, die nach ihm ins Zimmer getreten waren, in die Arme, und Peter rief: »Sie hat ja gar keine Schuld!« – »Du Lumpenhund!« brüllte der Mensch, und nun warf er sich mit solcher Wucht auf ihn, daß er gegen die Wand geschleudert wurde und umfiel. Er raffte sich sofort wieder auf und sah keuchend auf seinen Gegner. »Du Lumpenhund!« brüllte der aufs neue, und Peter erhielt einen Faustschlag auf die Nase, daß er taumelte. Jetzt aber brach er los: »Sie Kerl!« schrie er und stürmte mit Armen und Beinen auf ihn ein, »Sie roher, kannibalischer Kerl!« Tisch und Stühle flogen, der Ofen zitterte, sie lagen beide in wildem Ringen auf dem Boden. Die Fanny kauerte, angstvoll auf sie starrend, aufrecht in ihrem Bette, gegen die graue Wand gelehnt und preßte ihr Kopfkissen gegen die Nase, welche heftig blutete. Inzwischen hatten sich noch andere Nachbarn vor der Tür versammelt. Man rief nach der Polizei. Die beiden lagen noch immer auf dem Boden als ein lebendiges Knäuel. Ruckartige Geräusche und ein tierähnliches Schnaufen war das einzige, was man vernahm. Sobald sie die Lage änderten, lief ihnen die alte Frau, die das Zimmer vermietete, besorgt um ihre Möbel, ängstlich nach, um ihnen freie Bahn zu schaffen. Fanny aber sprang von ihrem Bette herunter und stand nun ohne Oberkleid, mit nackten Armen, das blonde Haar fast völlig aufgelöst, mit vorgebeugtem Körper vor den Kämpfenden, die grauen Augen weit geöffnet, während ihre blassen Lippen bebten. – Jetzt hatte ihr Liebhaber die Oberhand gewonnen und hieb sinnlos auf Peters Kopf ein, während Peter blindlings in die Luft traf. – »Gießt ihnen doch einen Eimer Wasser über den Kopf!« schrie jemand. – »Nee, dem Bengel geschieht's recht!« rief ein anderer. »Der Karl, so 'n braver Mensch, der ist viel zu schade für das Weibsbild, um sie zu heiraten, die Person!« – »Aber es ist ja nichts geschehen, gar nichts geschehen!« rief das junge Mädchen jetzt verzweifelt. Sie packte den Mann am Boden bei den Schultern, um ihn fortzuzerren, und als das nichts half, hielt sie ihm mit aller Kraft beide Augen zu. Wie nun Peter etwas Luft bekam und von neuem zuschlagen wollte, fuhr sie ihm mit allen zehn Fingern in die Haare und drängte ihren eigenen Körper zwischen die beiden. Jetzt sprangen auch die Nachbarn herbei, die Kämpfenden waren ohnedies erschöpft, man hielt sie an Hals und Schultern fest, und so standen sie sich schließlich keuchend wie zwei Hunde gegenüber. Peter Michel wurde fortgedrängt und zur Tür hinausgeworfen, da man allgemein Partei gegen den Studenten und für den Arbeiter nahm, und dieser brüllte ihm noch nach, er werde ihm den Schädel einschlagen, wenn er ihn irgendwo zu fassen kriegte. – Oben an der Tür stand Fanny, der Hund. Er war seinem Herrn gefolgt, hatte diesem in seiner Bedrängnis nicht beistehen können, wischte jetzt ins Zimmer hinein und bellte kurz und strafend. Darauf erhielt er einen solchen Fußtritt, daß er mit schrillem Schrei zur Tür hinausflog.

Den nächsten Morgen prallte Peter vom Spiegel zurück, so verschwollen und unterlaufen war sein Gesicht. Aber das Schlimmste sollte noch kommen. Seine Wirtin nämlich machte ihm eine Szene, die er im Leben nicht vergaß: Sie war von dem Hausherrn gekündigt worden, wegen des Skandals ihres Zimmerherrn. Nun verlangte sie eine Geldentschädigung von Peter. Dann kramte sie alle möglichen kleinen Verbrechen aus, die er im Laufe seines Aufenthaltes bei ihr begangen haben sollte, deren keines er sich erinnerte, keines aber auch ableugnen konnte. »Und so hinterlistig zu sein!« rief sie schließlich: »Mir gegenüber spielt er immer den tugendhaften Joseph, und hinter meinem Rücken treibt er die ärgsten Dinge! Ist das erlaubt?« – Die Wahrheit war, daß sie ihm des öfteren Andeutungen gemacht hatte, wie gefahrvoll der Umgang mit dem jungen Mädchen sei. Seine unschuldige Seele hatte nie gemerkt, wohin diese und deutlichere Reden zielten. Jetzt sah er sie verblüfft an. – »Die Polizei sollte man holen und so einen Menschen ins Loch sperren!« rief sie. »Für dieses Mal haben Sie wenigstens eine ordentliche Tracht Prügel bekommen!« – Da wurde er dunkelrot und fuhr von seinem Stuhle in die Höhe. Aber sie warf ihm krachend die Tür vor der Nase zu. Er blieb einige Sekunden mit brennenden Augen, dann drehte er sich langsam um. – »Ich will mich nicht ärgern«, preßte er hervor. Dann setzte er sich auf das Sofa und brach in Tränen aus.

In dem Hinterhause hatte man sich inzwischen wieder beruhigt. Fanny hatte nach jenem Vorfalle Weinkrämpfe bekommen und immer gerufen, sie wollte keinen von den beiden wieder sehen. Die alte Frau, ihre Mietgeberin, saß an ihrem Bette und redete ihr zu: sie solle vernünftig sein und ihr Glück nicht in den Wind schlagen; der Karl hätte sie lieb und sei ein reeller Mann. Was denn schließlich bei den vielen Verhältnissen herauskäme, wenn sie am Ende niemand heirate und sie ihr Brot zeitlebens selbst verdienen müsse! – »Nein, Mutter«, rief sie, »lieber will ich betteln, als den rohen Menschen heiraten. Solange man jung ist, soll man das Leben genießen, und wenn man alt ist und nicht mehr kann, dann gibt es immer noch was anderes, und zur Not gehe ich ins Wasser, dann ist alles mit eins vorbei!« – Die Alte legte ihr ein frisches nasses Tuch über die Augen. – »Kind«, sagte sie bedächtig, »glaube einer alten Frau, das ist Unsinn, was du da redest! Ich war ja nicht viel anders als du; aber sieh mich doch an: Mit siebzig Jahren noch täglich Zeitungen tragen und nicht wissen, ob man den nächsten Tag was zu knabbern hat, das ist schlimmer, als du denkst. Und so leicht geht keiner ins Wasser. Das sagt sich so, wenn man es im Augenblick nicht braucht, aber wenn man dann hinein soll, so bedankt man sich schönstens. Der Karl kommt heute abend und bleibt bei dir; er hat gesagt, daß er sich mit dir versöhnen will.« – Das junge Mädchen sah sie angstvoll an. – »Du weißt, wie er ist«, fuhr sie fort; »und wenn du ihn nicht einläßt, schlägt er dich tot. Sage ihm, daß du dich von jetzt an zusammennehmen willst und daß besonders mit dem jungen Menschen von drüben nichts wieder vorkommen soll!« – »Aber es ist ja gar nichts geschehen, Mutter, gar nichts!« rief Fanny eindringlich. Die Alte sah sie erstaunt an, dann glitt ein Lächeln über ihr Gesicht. Sie legte ihre gelbe, magere Hand auf die schöne volle des jungen Mädchens, welche auf der Bettdecke ruhte, und sagte: »Kind, mir brauchst du doch nichts vorzulügen! Du weißt doch, daß ich mich nur freue, wenn du ein Vergnügen hast!« – Fanny mochte sagen, was sie wollte, die Alte schüttelte immer nur den Kopf und sagte: »Kind, Kind, für etwas klüger hättest du die alte Hottenrott doch halten sollen!« Dann stand sie auf, ging leise seufzend zum Ofen und richtete das Abendessen an. – »Nun sage dem Karl nur gar nichts mehr. Er vergißt das schon wieder, wenn du recht freundlich zu ihm bist, wenn er heute nacht zu dir kommt. Nicht wahr?« – Das junge Mädchen sah sie nachdenklich an und nickte.

Frau Heinecke, Peters Wirtin, hatte, kurz nachdem sie sein Zimmer verlassen, einen erbosten Brief an seinen Vater geschrieben, in dem sie die Sache darstellte, wie sie sie wußte, und auch noch manches dazulog. Dieser Brief machte in aller Stille seine Wanderung in das Michelsche Dörfchen, und der Antwortbrief von Frau Michel wanderte ebenso stillschweigend zu Frau Heinecke, die ihn triumphierend dem ahnungslosen Peter zeigte. Auch für ihn selbst fand sich ein Zettel: »Der Großvater würde aus dem Grabe fluchen, Peter würde seine Eltern in den Sarg bringen und selbst am Galgen endigen.«

Herr Michel hatte sich jenen Brief von seiner Frau vorlesen lassen, ohne den Inhalt völlig zu begreifen. Auf ihre harten, zügellosen Auslassungen ging er nicht ein, aber sein Sohn stand ihm in weiter, weiter Ferne. In seiner Angst fragte er Tante Olga, zu der er noch das meiste Zutrauen hatte, ob sie meine, daß Peter wirklich einmal am Galgen endigen würde? Worauf sie mit blanken Augen rief: »Oho! Das gäb' ein rechtes Rabenfutter!« So zog sich Herr Michel immer mehr in sich zurück, da niemand ihn verstand. Er hatte, wo er konnte, Dinge gesammelt, welche Peter gehörten, und sie in eine Schublade getan, wo sie warten sollten, bis ihr Eigentümer zurückkäme. Jetzt glaubte er, Peter käme überhaupt nicht mehr, da er so schrecklich enden sollte, und nun wurde ihm die Schublade zum Reliquienschrein, der in noch größerer Stille ruhte als bisher.

Frau Michel hatte jener Brief über ihren Sohn ins Herz getroffen. Die Worte, welche sie ihm schrieb, entsprachen ihrer tiefsten Überzeugung. Irgend etwas mußte geschehen, um ihn dem Verderben zu entreißen. Sie hatte die Pflicht als Mutter, ihn zu retten. Die Schulzenfrau triumphierte natürlich innerlich, daß ihre Prophezeiungen so glänzend eingetroffen waren. Doch war sie klug genug, Frau Michel gegenüber nur die teilnehmende Ratgeberin zu spielen. »Mit Gewalt richten wir nichts bei ihm aus, er muß einen festen moralischen Halt bekommen. Ich meine: Wir müssen ihn mit einem guten, braven Mädchen verloben, welches dort an Ort und Stelle ist.« – Das leuchtete Frau Michel ein. »Ich wüßte aber nur Mariechen Klinkhardt!« sagte sie. – »Mag er die?« fragte die Schulzenfrau – »denn natürlich darf es kein Mädchen sein, gegen das er einen Widerwillen hat, denn das würde ihn erst recht zur Sünde verlocken.« – »Er hat mir manchmal über sie geschrieben!« antwortete Frau Michel. »Ich kann ja seine Briefe mal herholen!« – So lasen die beiden Frauen alle jene Stellen durch, die sich auf Mariechen Klinkhardt und deren Familie bezogen, in der Peter die letzten Jahre viel verkehrt hatte. – »Geht vorzüglich!« rief die Schulzenfrau. »Das scheint ein Mädchen wie geschaffen für ihn; etwas älter als er – was macht das heutzutage! Hausfraulich, vernünftig, praktisch. Geld hat die Familie auch, das weiß ich von meinem Mann.« – »So will ich hinreisen und ihm das Mädchen vorschlagen!« – »Nein, liebe Frau Michel; so müssen Sie es nicht machen! Sie müssen das Mädchen glauben machen, daß Peter sie liebe, und Peter glauben machen, daß das Mädchen ihn liebe! Das hat doch die Teile noch immer zusammengebracht!« – Frau Michel hatte noch viele Wenn und Aber, um nicht allzu beeinflußbar dazustehen, aber eines Tages reiste sie ab, und dann teilte sie Frau Klinkhardt und Mariechen mit, Peter sei nunmehr bald mit seinem Studium fertig, habe Aussicht auf baldige Anstellung, sei im Begriff, ein Bürger zu werden, und da suche sie für ihn eine Lebensgefährtin; er selbst sei zu schüchtern, um sich zu erklären; er habe sein jugendliches Herz verloren – und nun raten Sie, an wen?« – »Nun?« Frau Klinkhardt starrte Frau Michel mit offenem Munde und schiefem Kopfe an. Diese deutete auf das ihr gegenübersitzende Mariechen. – »Ich?« rief Fräulein Klinkhardt, und über ihr Gesicht ging eine Röte der Freude. »Aber wie ist denn das möglich! Davon habe ich ja noch nie etwas gemerkt!« Frau Klinkhardt aber sagte: »Oh, das habe ich mir immer gedacht! Ich höre zwar nicht mehr so gut, aber auf meine alten Augen kann ich mich doch, dank unserem Herrgott, immer noch verlassen. Na, ich erteile meinen Segen dazu! So ein kreuzbraver Mensch.« – Frau Michel wurde etwas schwül zumute. Hatte sie nicht zuviel gesagt? – »Dann soll er gleich heute kommen und sich erklären!« sagte Frau Klinkhardt. »Wir wollen ihn nicht lange zappeln lassen. Heute abend kommen Sie mit ihm, und dann feiern wir Verlobung.« Frau Michel wurde immer ängstlicher ums Herz. Aber da trat Sophus ins Zimmer, man teilte ihm unverweilt die Neuigkeit mit, daß Peter sich mit Mariechen verloben wolle, und auch er war entzückt. – »Ja, so weit ist es nun noch nicht!« sagte Frau Michel zurückhaltend. »Ich muß ihn erst noch vorbereiten.« – »Nun ja! Was steht denn noch im Wege?« – Frau Michel ging, und Peter wurde brieflich durch einen Dienstmann benachrichtigt, heute abend zu Klinkhardts zu kommen. Frau Michel aber empfand plötzlich die ganze Schwere ihrer Verantwortung: Also heute nachmittag mußte sie ihn aufklären. Sie hatte ja viel zuviel gesagt. Wie um Gottes willen war sie nur dazu gekommen! Ihr Temperament war wieder einmal mit ihr durchgegangen. Aber nun war es zu spät. Sie läutete bei Peter, traf ihn nicht, und als sie fort war, kam er nach Hause, fand die Einladung, zog seinen schwarzen Rock an, und da das Wetter schön war, wollte er noch vorher einen Ausflug machen. Seine Wirtin sah von oben aus dem Fenster: »Herr Michel! Ihre Mutter läßt Sie grüßen, und Sie sollen nur warten!« – »Unverschämte Person!« rief Peter hinauf, da er nicht anders glaubte, als sie wolle ihn verhöhnen. Frau Michel aber klingelte bald darauf zum zweiten Male in seiner Wohnung an, hörte, er sei vor einigen Minuten ausgegangen, und beschloß diesmal zu warten, bis er heimkehren würde. Sie visitierte nun seine Sachen, zunächst den Kleiderschrank. Das sah ja soweit ganz sauber aus! Dann las sie langsam mit halblauter Stimme die Titel seiner Bücher, die sie nicht verstand. Auch seine Hefte blätterte sie durch. Das war alles sehr fleißig und ordentlich geschrieben. Dann kam sie an seinen Schreibtisch, rüttelte an den Laden, und je mehr sie sich vergebens mühte, um so sicherer vermutete sie, daß in diesen Laden dasjenige sei, was sie suchte. Und was suchte sie denn eigentlich?! Sie hatte eine unbestimmte Vorstellung von unerlaubten Dingen, Gegenständen, Blättern, sie wußte selbst nicht was. Endlich setzte sie sich erschöpft in das Sofa. Warum wohl Peter nicht kam? Die Frist wurde kürzer und kürzer. Was wollte sie ihm eigentlich sagen? – Und wenn er sich nun sträubte? – Sie war bisher gewohnt, ihn als Kind zu betrachten. Aber die Vorgänge der letzten Zeit hatten ihr gezeigt, daß das Kind allmählich herangewachsen war. Und der Herrenhut dort in der Ecke! Und das Rasiermesser auf dem Waschtisch! Hätte sie doch nie auf den Rat der Schulzenfrau gehört! Und wenn er nun gar nicht mehr nach Hause kam und sie ihn abends erst bei Klinkhardts traf? Die Einladung hatte er bekommen; sie lag offen auf dem Tisch. Erschöpft von der Anstrengung der Reise und der Aufregung schlief sie endlich ein. Als sie wieder erwachte, war es dunkel im Zimmer, Peter war immer noch nicht da, und es war die höchste Zeit, zu Klinkhardts zu gehen.

Peter saß indes vor einer kleinen Wirtschaft auf der Landstraße. Er war tüchtig marschiert. Drinnen feierte man eine Hochzeit. Ein Mädchen im Sonntagsstaat brachte ihm sein Bier hinaus. Er saß auf der niedrigen Bank an der weißgekalkten Hinterwand des Hauses, von wo man über die Stoppeln und Wiesen hinweg nur unabsehbare Ebene vor sich hatte. Einige kleine blasse Blumen blühten noch zwischen den Furchen, gelbe und weiße. Er pflückte sie und steckte sie ins Knopfloch. Dann sah er wieder den Blättern zu, die in der Ferne wehten, und horchte in die Pappelbäume, die mit ihrem Laube klapperten. Der summende Lärm im Gasthause hörte plötzlich auf, und er unterschied eine einzelne Stimme. Jemand hielt eine Rede. Dann hörte er lautes Gebrüll und Gläserklingen, und dann verlief wieder alles in eintöniges Gemurmel. Ein halbvergessenes Bild kam ihm in die Seele: wie das Liesel an seiner Konfirmation sich den Wein über ihr Kleid goß und ihn halb in Laune, halb in Verlegenheit mit ihrem schwarzen Haare trocknete. – Wenn er nun später käme und sie bäte, ihn zu heiraten, würde sie ihn nehmen? Warum hatte er ihr eigentlich nie geschrieben? – Der Wind trug ferne Glockentöne herüber. – Er war mit einem Male traurig geworden. Die Dämmerung brach herein, er stand langsam auf und begab sich auf den Rückweg. Der Wind wehte heftiger: seine Hände wurden starr vor Kälte, unter seinen Füßen knisterte es. Der Regen der letzten Tage hatte sich in leichtes Eis verwandelt und füllte die Geleise und Vertiefungen der Landstraße. Die Dunkelheit senkte sich herab, und mitten im Geheul des Windes unterschied er plötzlich deutlich Musik. Er blieb stehen und horchte zurück; aber in der Ferne glomm nur das gelbe Licht des Gasthauses, und der klagende Ton des Windes verschlang jedes weitere Geräusch.

Bei Klinkhardts richtete man indessen die Abendtafel her. Vor Peters Gedeck stand eine kleine Vase mit Blumen; vor Mariechens ein Veilchenstrauß. »Er wird dir wohl noch ein Bukett mitbringen!« sagte Frau Klinkhardt; »dann haben wir drei, und deines bekommt Frau Michel. Eine sehr liebenswürdige Frau; findest du nicht? Herr Gott, da kommen sie!« Mariechen stürzte zur Vorplatztür und öffnete. Da stand Peter Michel auf der Schwelle und zog seinen Hut: »Guten Abend, Fräulein Klinkhardt!« Dann sah er sich um, als ob er jemand erwartete.

»Aha!« sagte Mariechen, im ersten Augenblick etwas verdutzt über die trockene Begrüßung, aber dann schnell gefaßt: »Es kommt wohl noch jemand?« Sie glaubte, Frau Michel habe sich auf der Treppe versteckt und wolle erst sie beide sich allein begrüßen lassen. Jetzt hörte sie auch etwas wie das Klappern eines Armbands. Im nächsten Augenblick kam Fanny, mit gesenktem Kopfe, langsam um die Ecke heraufgetrottet. Peter bat um Entschuldigung; er habe den ganzen Nachmittag einen Spaziergang gemacht und nachher keine Zeit mehr gehabt, Fanny nach Hause zu bringen. Fräulein Klinkhardt war noch erstaunter: »Waren Sie denn den ganzen Tag allein, Peter?« – »Ja, natürlich«, antwortete er, etwas verwundert über die intime Anrede. »Wer sollte denn bei mir gewesen sein?« – »So!« sagte sie gedehnt. – Sie ahnte, daß Peter, durch einen sonderbaren Zufall, seine Mutter noch gar nicht zu Gesicht bekommen hatte und folglich auch noch nicht wußte, daß sein süßes Geheimnis verraten war. – Weshalb sah sie ihn nur so sonderbar an? – »Kommen Sie herein, Peter!« sagte sie und zog ihn in den Vorplatz. Da stand Frau Klinkhardt, in ihrem schönsten Kleid, und rief sehr laut: »Nun kommen Sie herein, mein lieber Sohn!« Dabei drückte sie ihm beide Hände. Peter wußte gar nicht, was er denken sollte. »Ja, sind Sie denn allein gekommen, lieber Peter? Wo ist denn –«, aber Mariechen fiel ihr ins Wort und machte ihr ein schnelles Zeichen, daß sie sogleich verstummte. Frau Klinkhardt glaubte richtig zu verstehen. »Ach so!« sagte sie, machte ein diskretes Gesicht und fragte halblaut: »Das Lämpchen brennt doch wohl?« Das war wieder so geheimnisvoll für Peter. Mariechen aber zog ihre Mutter ins Nebenzimmer und sagte ihr, sie glaube, daß Peter durch eine seltsame Verknüpfung tatsächlich von dem Hiersein seiner Mutter noch nichts erfahren habe und von allem, was für ihn und sie alle daraus folgte. »Das wollen wir doch gleich sehen!« sagte Frau Klinkhardt und ging wieder ins Nebenzimmer. »Nun sagen Sie mal, Peter«, wandte sie sich an ihn und sah ihn pfiffig an, »was haben Sie denn eigentlich für Nachrichten von Ihrer Mutter?« Peter blickte sie erstaunt und verwirrt an, da er nicht anders glaubte, als daß sie auf jenen schrecklichen Brief anspiele und auf den damit in Verbindung stehenden Skandal. Frau Klinkhardt aber warf ihrer Tochter einen bedeutungsvollen Blick zu und fuhr fort: »Na, ist die Nachricht denn so schlimm? Ich habe gehört, daß Sie hier irgendwo Ihr Herz verloren haben sollen?!« Peter wurde bis an die Ohren rot und wollte widersprechen. »Mama!« rief Mariechen ebenfalls errötend, aber ihre Mutter fuhr fort: »Laß mich doch, Kind; ich sage ja nur, was ich gehört habe!« – Dann sah sie erwartungsvoll zu Peter herüber. Dieser aber war unfähig zu antworten. Scham und Ärger über die Dreistigkeit der Frau kämpften in ihm. Im selben Augenblicke jedoch läutete es heftig. Mariechen fuhr zur Tür hinaus, Peter hörte draußen jemanden hastig sprechen. Die Stimme kam ihm bekannt vor. Jetzt trat seine Mutter herein. Er starrte sie an wie eine Erscheinung. Sie begrüßte ihn sehr freundlich und etwas unsicher. Ihm war, als träumte er. – »Ja, denken Sie nur«, wandte sie sich bedeutungsvoll an die andern: »Wir haben uns den ganzen Tag verfehlt! Peter wußte nicht einmal, daß ich hier bin. Er sieht mich zum ersten Male!« Dann trat sie wieder auf ihn zu und schüttelte ihm die Hand. Er blickte sie mit großen Augen an. »Nun, redest du gar nicht?« sagte sie endlich, da das Schweigen peinlich wurde. – »Ja – wie kommst du denn hierher?« sagte er. Und Frau Michel antwortete etwas verlegen, wie eine Mutter doch zuweilen Sehnsucht nach ihrem Sohne bekäme, wenn er in der Fremde weile. – Dann betrachtete sie ihn neugierig und scheu. Er war jetzt einen ganzen Kopf größer als sie selbst; sein Gesicht war breit und ebenmäßig, und sein Blick war ernst. – Später ergriff sie eine günstige Gelegenheit, den Damen mitzuteilen, daß sie erst morgen ihre Rücksprache mit ihm nehmen würde, und als Frau Klinkhardt meinte, man könne ihm doch auch ohne eine solche die Eröffnung machen, daß seine Liebe erwidert würde, beteuerte sie eifrig, daß er durchaus erst vorbereitet werden müsse; auf einen Tag komme es ja gar nicht an. Ihrem Sohne wiederum gab sie heimlich Anweisungen, er solle doch Mariechen mehr den Hof machen; sie sei ein so liebes, prachtvolles Mädchen, und es sei doch klar, daß sie in ihn verliebt sei! Er solle dankbar und froh sein! Peter war sehr erstaunt und schielte bei Tisch, wo er konnte, zu Mariechen hinüber, um zu sehen, ob das wirklich wahr sei, was seine Mutter sagte. Seine Blicke wurden wohl bemerkt. Auch wollte er seiner Mutter zeigen, daß er sehr wohl mit feinen Damen umzugehen wisse und gewiß nicht dem Bilde entspräche, das sie sich ihrem Briefe nach von ihm machte. So sagte er Mariechen alle Artigkeiten, die er wußte, und löste plötzlich die Feldblumen, die er noch im Knopfloch trug, von seiner Jacke und überreichte sie ihr mit der Bemerkung, er habe sie des Nachmittags für sie gepflückt. Frau Michel warf ihm einen lobenden Blick zu und dachte: Es kann alles noch gut werden. Mariechen aber nahm die Blumen, errötete und lächelte.

Jetzt ging die Tür auf, und Sophus, der Sohn, erschien auf der Schwelle. Er machte Frau Michel eine exquisite Kommisverbeugung, dann wandte er sich mit jugendlich-feurigem Blick zu Peter und streckte ihm mit kühner Bewegung seine Rechte entgegen: »Freut mich, Junge, freut mich! Hätte gar nicht gedacht, daß du Weiberherzen erobern könntest!« Frau Klinkhardt machte ihrem Sohne fortwährend Zeichen, die er endlich bemerkte. »Was ist denn los?« fragte er, während die Damen verlegen dreinschauten. Er beugte den Kopf zu Mariechen herab, die ihm längere Zeit etwas ins Ohr flüsterte. Peter aber saß in tödlichster Verlegenheit und drehte seine Serviette zu einem Tau zusammen. Jetzt fing der auch sofort von der Skandalgeschichte an! Wie um Gottes willen hatten sie das alle erfahren? War das denn stadtbekannt geworden? Durch seine Mutter? Weshalb war die überhaupt hier? – Herr Sophus hob jetzt sein Haupt wieder in die Höhe und machte ein tadelloses Gesicht. Nach Tisch aber zog er seine Mutter beiseite und bestand darauf, daß der Wein »trotzdem« zu trinken sei. Überhaupt sehe er gar nicht ein, weshalb man die Verlobung nicht feiern wollte. Peter sei nur zu schüchtern, man müsse ihm helfen. Wenn er erst ein paar Gläser Wein getrunken habe, dann würde er schon gesprächig werden, und einmal »müsse das Eis ja doch gebrochen werden«. Frau Michel wäre eine zimperliche Person, ihre Einwände seien ja ganz verrückt! – »Das finde ich auch!« sagte seine Mutter, die sich schon den ganzen Abend geärgert hatte; aber Mariechen kam hinzu und widersprach, und als ihr Bruder sie eine dumme Gans nannte, weinte sie und sagte, sie würde sofort zu Bett gehen. Peter müsse sich freiwillig und ganz von selbst erklären, sonst hätte sein Geständnis keinen Wert; und es sei so unpoetisch! – So ließ man die Sache gehen. Nun strengte Herr Sophus seine ganze Liebenswürdigkeit an, die etwas herabgedrückte allgemeine Stimmung wieder zu heben; er erzählte eine Anzahl Witze aus den Blättern, machte Kunststücke mit dem Serviettenringe und deklamierte zum Schlusse die Schillersche Glocke. So ging der Abend leidlich hin. Als man aufbrach, erbot er sich sofort, die Nacht auf dem Sofa zuzubringen und Frau Michel sein Zimmer abzutreten, was sie nach vielem Zögern jedoch nicht annahm. Ihrem Sohn sagte sie, sie würde ihn am nächsten Morgen besuchen; sie habe etwas mit ihm zu bereden.

Peter hatte der sonderbare Empfang bei Klinkhardts beunruhigt, und die Anwesenheit seiner Mutter erschien ihm rätselhaft. Was hatte sie bei Klinkhardts zu tun? Irgend etwas mußte da vorgegangen sein. Er grübelte und grübelte und kam zu keinem Schlusse. Auch die Andeutungen über sein Erlebnis mit dem jungen Mädchen von drüben waren in so befremdlicher, fast heiterer Weise gemacht. Stimmte das zu den gewöhnlichen Anschauungen der Familie? Stimmte das zu dem Briefe seiner Mutter? Stimmte deren Benehmen gegen ihn zu ihrem Briefe? Und was hatte sie denn mit ihm zu bereden? Er fühlte, daß irgend etwas gegen ihn im Werke war, ohne zu ahnen, was es sein könne. – Er schlief sehr schlecht, stand den nächsten Morgen ziemlich spät auf und war gerade beim Kaffeetrinken, als seine Mutter eintrat.

Sie hatte inzwischen ihren Plan gemacht. Sie setzte sich zu ihm aufs Sofa, nachdem sie Hut und Mantel abgelegt hatte, und plauderte von dem Leben auf der Universität; alle Studenten sähen so adrett und sauber aus, und sie freue sich, daß ihr Sohn keine Ausnahme mache, wie sie gefürchtet habe. Dann ging sie auf sein Studium über und sprach die Hoffnung aus, daß er nun bald fertig sei und selbst sein Brot verdienen würde. Gott sei Dank sei sie dann wieder um eine Sorge leichter! Dann schwieg sie und wußte nicht, welchen Weg sie nun einschlagen sollte. Peter sah sie von der Seite an: Jetzt mußte es doch bald herauskommen, was sie eigentlich wollte. – »Peter!« begann sie endlich von neuem und legte ihre Hand auf die seine. »Du kannst dir denken, wie mich deine Aufführung letzthin betrübt hat! Ich war außer mir, ich konnte mir nicht erklären, wie unser Sohn auf solche Abwege geraten war. Wir zu Hause haben dich stets zum Guten angehalten, und wenn du das in der Pension gelernt hast, dann gnade Gott den Leuten, denn sie haben es dermaleinst vor ihrem Schöpfer zu verantworten!« Peter wollte etwas erwidern, allein sie drückte ihm das Handgelenk und fuhr fort: »Wie dem auch sein mag; genug, es ist einmal so, und es läßt sich nicht mehr ändern. Ich habe nun lange über dich nachgedacht und mir schließlich gesagt: Wenn ihn sein Herz einmal zum Weibe drängt, so ist es meine Pflicht als seine Mutter, diesen Trieb auf die richtige Bahn zu lenken und meinem Sohn mit Rat und Tat beizustehen. Peter, ich habe daran gedacht, ob es nicht gut wäre für dich, wenn du dich bald verlobtest!« – Er sah seine Mutter starr an und wußte nun genau, welcher Name folgen würde. – »Ja«, fuhr sie etwas beunruhigt fort, »das meine ich wirklich. Und ich wüßte so ein nettes, liebes Mädchen für dich! Und sie hat dich auch sehr lieb: ich meine Mariechen Klinkhardt. Eine bessere Frau würdest du gar nicht finden können, sie ist ein junges hübsches Mädchen, nicht zu jung, also auch nicht so unerfahren und unpraktisch wie die meisten Mädchen, wenn sie in die Ehe treten. Sie ist hausfraulich und verständig und hat ein so warmes, liebevolles, Herz!« – Sie machte eine Pause – Peter schwieg noch immer. Frau Michel nahm das für ein gutes Zeichen. Sie sagte sich, daß ihr Sohn immer noch das Kind von früher sei, das keinen eigenen Willen habe, und mit einem Male schwamm sie wieder obenauf: »Du schweigst, und ich sehe daraus mit Freuden, wie du noch immer deiner Mutter das alte Vertrauen schenkst, dessen sie würdig ist. Ich habe mir die Sache nun so ausgedacht: Zieh du nachher deinen guten Rock an, kaufe einen Blumenstrauß und mach dem Mariechen deinen Antrag. Sie hat dich gern und wird dich ganz gewiß nicht abweisen. Mach es so, nicht wahr?« – Jetzt sah Peter seine Mutter an und schüttelte langsam den Kopf. – »Ja, wie willst du es denn machen?« – »Gar nicht! Ich will sie nicht heiraten!« – »Du willst sie nicht heiraten? Ja, mein Gott, weshalb denn nicht?« – »Weil ich sie nicht liebe.« – »Aber ich sagte dir doch eben, daß ich sie für das beste und liebste Mädchen der Welt halte! Hat dir deine Mutter jemals zum Schlechten geraten?« – »Nein; aber ich will sie nicht heiraten.« – »Nun seh mir einer den Starrkopf! Er will nicht und weiß selbst keinen Grund dafür! Ich sage dir aber, du sollst; und dann mußt du doch einfach.« – Sie glaubte wieder vollkommen festen Boden unter den Füßen zu haben. – Peter stand langsam auf. »Mama! Bist du jetzt fertig? Ich sage dir: Ich will sie nicht heiraten, und ich heirate sie nicht. Du magst mir Vorschriften machen, wo du willst, und ich will dir folgen. Aber wenn du sagst, ich soll ein Mädchen heiraten, das ich nicht mag, so tue ich es nicht!« – Frau Michel war sehr rot geworden und erhob sich ebenfalls: »Ich sage dir aber, du sollst! In der Bibel steht: Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren, auf daß es dir wohlgehe und du lange lebest auf Erden! Und wenn du mir jetzt nicht gehorchst, so bist du mein Kind nicht mehr!« – Peter atmete schwer: »Das bin ich nie gewesen!« stieß er hervor. »Wie dein Kind hast du mich nie behandelt. Was habe ich denn von meinem Elternhause gehabt?! Von meinem Vater suchtest du mich zu trennen, und mich selbst schicktest du in die Fremde. Und später machte es dir Freude, die Frau, die mich in der Fremde liebte wie ihr Kind, vor meinen Ohren zu beschimpfen, wo du nur konntest! Du gönnst mir keine Liebe! Vertrauen zu mir hast du nie gehabt, andern Leuten glaubtest du immer mehr als mir, und wenn dir eine fremde Person Briefe über mich schreibt, so hältst du es nicht einmal der Mühe wert, mich selbst zu fragen, sondern glaubst einfach alles Schlechte, was sie von mir schreibt. Und nun kommst du und willst mich verheiraten, weil dir das gerade so einfällt, und hast nicht einmal soviel Interesse für mich, daß du auf den Gedanken kämest, ich könnte selbst bereits ein anderes Mädchen lieben. Aber damals, oh, ich weiß es noch ganz genau, wie ich aus der Pension kam, wie hast du da über Liesel geredet, als wäre sie ein schlechtes Mädchen und als wäre ihre Mutter eine durchtriebene Person, nur weil du wußtest, wie lieb ich beide hatte. Wenn ich einmal heirate, dann heirate ich Liesel und niemand anders; und wenn du das nicht willst, so kann ich es nicht ändern. Es ist mir ganz egal, ob du es willst oder nicht!« – Seine Hände zitterten, seine Lippen bebten. Frau Michel hatte ihn sprachlos angeblickt, während er redete. Jetzt brach sie in Tränen aus und hielt ihre Hände vors Gesicht. – »Ich unglückliche Frau!« rief sie. »Ich hätte mein Kind nicht liebgehabt! Das sagt mir mein eigenes Kind! Womit habe ich das verdient! Wie habe ich stets nur für mein Kind gelebt, gesorgt, daß es gut und glücklich werde! O Peter, das ist doch nicht wahr, daß ich mein Kind nicht liebhätte! Nein, das ist nicht wahr, ich habe ja niemand anders auf der Welt als dich!« – Sie ergriff seinen Arm und schluchzte laut.– Er sah sie erschüttert an. Es war das erste und einzige Mal, daß er seine Mutter weinen sah. – »Niemand habe ich, gar niemanden! Ich stehe allein auf der Welt, auch mein Kind liebt mich nicht mehr, mein eigenes Kind lehnt sich gegen mich auf!« – »Das ist nicht wahr«, sagte Peter bestimmt. »Ich werde mich gewiß niemals gegen dich auflehnen!« – Frau Michel trocknete sich die Tränen. – »So geh und heirate das Mädchen.« – »Aber ich habe dir doch eben gesagt, daß ich das nicht will! Sei doch nun nicht gleich wieder so!« – »Peter, ich bitte dich, höre auf mich! Es ist zu deinem Besten, was dir deine Mutter rät! Du bist so jung und unerfahren und bedarfst einer Stütze, und welche natürlichere Stütze gibt es für einen jungen Mann als seine Braut, die er liebt, die er hochhält, die –« – »Mama, ich habe dir schon einmal gesagt, wenn ich heirate, so heirate ich Liesel, und wenn Liesel mich nicht will, so heirate ich überhaupt nicht!« Frau Michel trocknete sich die Augen und starrte ins Leere. Es schnürte ihr beinahe den Hals ein. Mußte sie ihm etwa doch noch beichten, was durch sie bereits geschehen war? Das wäre schrecklich! Und wenn er sich auch dann noch weigerte? Es war nicht auszudenken! – Sie versuchte darum noch einmal auf das eindringlichste, ihn umzustimmen. Aber er blieb standhaft. Da rief sie: »Peter, auf den Knien flehe ich dich an, heirate sie!« Jetzt wurde er doch stutzig. – »Du redest ja gerade so, als hinge alles Heil der Welt davon ab, daß ich dies Mädchen heirate. Liebt sie mich etwa so, daß sie sich das Leben nimmt, wenn ich nein sage?« – »Sie liebt dich, ja, und sie erwartet dich mit Bestimmtheit!« – »Wie kann sie das? Ich habe ihr ja nie gesagt, daß ich sie liebte, und von andern kann sie es nicht wissen, denn es ist ja einfach gar nicht wahr!« – Peter sah seine Mutter mit einem so vollen, ruhigen Blicke an, daß ihr letztes Restchen Hoffnung hinschwand. Was sollte sie tun? Abreisen und der Sache ihren Lauf lassen? Sie wäre öffentlich dem Hohne preisgegeben und der Verfolgung der Familie! – »Peter«, begann sie von neuem, ohne ihn anzusehen, »Mariechen liebt dich, und sie erwartet heute morgen deinen Besuch!« – Sie versuchte ihn anzuschauen, blickte aber gleich wieder zu Boden. – »Du irrst dich, Mama!« sagte Peter plötzlich in einem so freundlichen Tone, daß sie überrascht aufsah. »Ganz gewiß, du irrst dich. Daß wir uns heiraten sollen, das scheint nun einmal so eine Idee von dir zu sein, Gott weiß warum. Ich habe ihr aber nie, nie gesagt, daß ich sie liebe, und es ihr auch nie gezeigt, weil es ja gar nicht der Fall ist. Und nun soll sie heute morgen dasitzen und auf mich warten!« – »Sie erwartet dich dennoch!« sprach seine Mutter tonlos. »Sie hat es mir gestern abend gesagt!« – Peter sah starr zu ihr herüber. »Mama!« sagte er mit verhaltener Stimme, »da liegt noch etwas anderes, etwas, wovon ich nichts weiß. Von selbst kann sie nicht auf die Idee gekommen sein. Irgend jemand, der mir böse will, muß ihr das eingeredet haben. Weißt du etwas davon?« – Frau Michel hielt noch immer den Blick am Boden geheftet und atmete wie unter einem Alpdrücken. – »Wer hat ihr das gesagt?« wiederholte er dringend, fast heftig. Sie sah ihn fassungslos an, öffnete den Mund und sagte: »Ich!« – »Du?« – Frau Michel nickte und vergrub das Gesicht in ihre Hände. Ein langes Stillschweigen folgte. – »Wie kamst du dazu?« fragte er endlich tonlos. – »Ach! Ich wußte ja weder aus noch ein!« rief seine Mutter, von neuem in Tränen ausbrechend; »irgend etwas mußte ich doch tun, um dich zu retten, und allein' wäre ich ja auch nie auf den Gedanken gekommen, aber die Schulzenfrau, die gab mir den Rat, und ich weiß selbst nicht, wie ich ihn nur gut finden konnte, denn er ist ja schrecklich – schrecklich – schrecklich! Oh, verzeih mir, Peter!« – Sie schluchzte heftig; dann faßte sie sich und erzählte nun mit abgebrochener Stimme alles, wie es sich zugetragen hatte vom Anfang bis zum Ende. Peter hörte unbeweglich zu. – »Und nun steht es bei dir, ob du deine Mutter der Schande und der Schmach preisgibst oder nicht!« Peter focht einen schweren Kampf durch. – »Nein!« sagte er endlich. »Mama, ich kann sie nicht heiraten. Ich kann nicht! Ich will zu ihr hingehen und ihr sagen, daß ich es nicht kann! Vielleicht kann man es ihr so sagen, daß sie es nicht übelnimmt.« – Seine Mutter hob den Kopf. Etwas wie Hoffnung zeigte sich ihr. – »Ich kann ihr ja sagen, ich hätte noch lange keine Aussicht auf Anstellung!« – »Dann wird sie sagen, ihr könntet ja mit dem Heiraten auch noch lange warten.« – »Und bis dahin ist sie dann noch älter!« rief Peter bitter. – »Nein«, sagte sie, »so geht es nicht, aber vielleicht läßt sich doch alles noch in Ehren rückgängig machen! Laß uns nachdenken, Peter, vielleicht gelingt es uns, einen Ausweg zu finden.« – So sannen beide im Vereine nach, und die Frucht ihrer gemeinsamen mühsamen Anstrengung war schließlich, daß Peter an Fräulein Klinkhardt schrieb, das Ganze sei ein unseliges Mißverständnis. Diesen Ausdruck fand Frau Michel besonders glücklich. Seine Mutter habe von ihm nur brieflich von seiner Neigung zu einem jungen Mädchen erfahren, welches unglücklicherweise den Namen Mariechen trage, und sie habe seine Andeutungen ohne weiteres auf Fräulein Klinkhardt bezogen, von der er ihr immer viel erzählt. Er habe ihr geschrieben, er glaube, seine Liebe sei aussichtslos, und da sei sie heimlich angereist gekommen, um ihm die Wege zu bahnen, in der besten Absicht, für ihn sowohl als für das Fräulein. Er bedauere diesen Irrtum auf das höchste und bäte sie auf das innigste um Verzeihung. – »Und nun, Peter«, sagte Frau Michel, »laß uns ordentlich zusammenhalten. Wir haben gesehen, was dabei herauskommen kann, wenn Mutter und Sohn sich fremd werden! Fremde Leute sollen nicht wieder zwischen uns treten! Wir wollen uns künftig recht liebhaben!« Sie streckte ihm ihre Hand entgegen und reckte sich ein wenig. Peter umarmte und küßte sie.

Wie vorauszusehen, nahmen Klinkhardts jene lahmen Ausführungen nicht so ohne weiteres hin. Mariechen war sehr traurig und glaubte alles. Ihre Mutter aber sägte: »Kind, dahinter steckt noch etwas anderes!« Und der ritterliche Sophus versicherte, er würde die angetastete Ehre seiner Schwester wiederherstellen. Er schrieb an Peter Michel, er verlange von ihm, daß er an seine Schwester einen Brief schreibe des Inhaltes, daß sie in Charakter und Betragen eine vollendete Dame sei. Anderenfalls würde er sich mit ihm schießen. Er möchte nicht persönlich kommen, da man ihn nicht annehmen würde. Peter schrieb den verlangten Brief und versicherte noch einmal auf das bestimmteste, alles sei nur ein unseliges Mißverständnis.

Frau Michel verschob ihre Abreise noch etwas. Sie hatte das Bedürfnis, jetzt, wo alles, was sie gegenseitig bedrückte, von der Seele gespült war, noch einige Tage innigen Beisammenseins mit ihm zu verleben. Sie erzählte ihm auch manches von zu Hause. Von Tante Olga sagte sie, daß es nun nicht mehr lange dauern könne, daß sie in ein Irrenhaus gebracht würde: »Denk nur, was sie tat, als ich abreiste! Sie hätte doch so gerne mit mir gehen wollen, aber wir hatten es natürlich nicht erlaubt. Darüber war sie nun ganz unglücklich, und als sie mich zum Wagen begleitete, rief sie in einem fort, wie du dich dann verloben könntest, wenn die Braut daheim bliebe! Und als ich endlich abfuhr, tanzte sie neben dem Wagen her und rief: ›Ich bin die Galgenbraut, ich bin die Galgenbraut!‹ Dann pfiff sie auf der Pistole des Großvaters, die durch einen Zufall in ihre Hände gekommen sein muß, so daß die Pferde scheu wurden und immer schneller liefen. Schließlich konnte sie nicht mehr mitkommen; da feuerte sie einen Schuß hinter uns drein! Es ist ein Wunder, daß wir so mit heiler Haut davongekommen!« – Mit seinem Vater, fuhr sie fort, stände es sehr traurig, er würde zunehmend schwermütiger. Den Grund wisse man nicht: »Ich fürchte, ich fürchte, daß es einmal ein schlimmes Ende mit ihm nimmt! Peter, wenn wir alle beide allein sein werden, dann wirst du mich zu dir nehmen, nicht wahr?« Peter nickte und drückte ihr liebevoll die Hand. – Er wußte nicht, daß es in seiner Seele trübe war. – Aber als sie fort und er allein war, da wußte er es plötzlich. Mitten in der Nacht stand er auf. Seine dunklen Gedanken beklemmten ihn. Er öffnete das Fenster und sah hinaus. Über ihm war Nacht. Kein Stern auf dem fast schwarzen Himmelsgrunde. Er hatte sich getäuscht! Er hatte sich die Hoffnung gemacht, alle würde sich zum Guten lenken, aber jetzt wußte er es: Seine Mutter würde ihm immer fremd bleiben, sie würden sich nie verstehen. Vor ihm lag die Welt im Dunkel, und ein Gefühl öder Vereinsamung überkam ihn. – »Es nützt ja doch alles nichts!« sagte er halblaut zu sich selbst. »Wenn ich nur jemand hätte, der mich liebhaben könnte.«


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