Annie Hruschka
Das silberne Auto
Annie Hruschka

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21

In Tannroda war in der Zwischenzeit nichts Neues vorgefallen. Frau Gottschalk fühlte sich schlecht und empfing außer Lilli von Landsberg und Doktor Sorel keinerlei Besuche und verließ das Haus nur zu kurzen Spaziergängen.

Der Arzt schüttelte immer noch bedenklich den Kopf, wenn die Kinder ihn nach einem seiner Besuche über den Gesundheitszustand der Mutter aushorchen wollten.

Frau Gottschalk war nicht etwa körperlich leidend. Sie aß alles, was der Arzt ihr vorgeschrieben hatte, und nachts konnte sie sogar wieder etwas schlafen.

Aber sie war am liebsten allein. Denn sie hatte nur einen einzigen Wunsch, auf den sich ihr Denken allmählich mehr und mehr versteifte: sie mußte ihren Sohn Ulrich wiedersehen! Sie wollte nur noch Gewißheit! Und die glaubte sie in seinen Augen lesen zu können. Schuldig – oder unschuldig? Das wüßte sie als Mutter wohl am besten zu spüren.

So stand sie am offenen Fenster und verstrickte sich immer mehr in die Vorstellung, daß sie sich selber helfen müsse.

Dabei bemerkte sie gar nicht, daß unten vor dem Brunnen Vera saß und sich die Hände kühlte, während ihr Bruder neben dem Gutsinspektor die Kastanienallee herauf kam.

Vera winkte ihm zu, und Ronny setzte sich neben sie. Zuletzt fiel Vera ihm um den Hals und küßte ihn, und dann gingen beide Arm in Arm ins Haus.

Frau Gottschalk fuhr zusammen, als die Türe aufging und Vera und Ronny auf sie zueilten. Ronny umarmte sie:

»Mama, ich habe mich mit Lilli verlobt!«

Er blickte sie strahlend und erwartungsvoll an. Würde die Freude sie nicht aufrütteln?

Aber Frau Gottschalk lächelte nur matt:

»Das ist gut Ronny! Ihr paßt zueinander. Bring Lilli bald her!«

Ronny erschrak fast, wie leise sie das sagte.

Auch Vera hatte es bemerkt, und voller Mitleid mit dem Bruder nickte sie ihm aufmunternd zu:

»Wir wollen gleich zu Tisch gehen, Ronny, und auf euer Wohl anstoßen! Komm, Mama!«

Sie gingen mit ihrer Mutter ins Eßzimmer hinüber, und allmählich wurde die Stimmung doch etwas freudiger.

»Hoffentlich ist es dir recht, Mama?« fragte Ronny wieder.

»Natürlich«, nickte Frau Gottschalk. »Heiratet nur recht bald! Dann weiß ich wenigstens, daß du glücklich bist.«

Doch fast im gleichen Atemzug fragte sie:

»Hast du immer noch keine Nachricht von Herrn Hempel, Ronny? Du hast ihm doch geschrieben?«

»Ja, ich bat ihn bereits zweimal in deinem Auftrag, uns doch wenigstens ein Lebenszeichen zu geben.«

Bei dem Wort »Lebenszeichen« schrak Frau Leonie zusammen. Wenn er nun auch nicht mehr unter den Lebenden weilen sollte? Dieser Gedanke war ihr bisher noch gar nicht gekommen. Sie versank wieder in stumpfes Brüten, aus dem sie Ronnys Worte rissen:

»Mach dir doch ums Himmels willen keine Sorgen, Mama!«

»Es ist schon acht Tage her, seit ich die letzte kurze Nachricht von ihm hatte«, sagte sie.

In seinem letzten Brief stand nur:

»Bitte richten Sie weitere Briefe für mich an Dr. Hans Merker, Hotel Imperial. Ich bin dorthin übergesiedelt, um die Bekanntschaft des Mannes zu machen, dem das ›silberne Auto‹ gehört . . . Bitte deshalb noch um etwas Geduld, gnädige Frau. Und vor allem: auch weiterhin größte Vorsicht!

Ihr ergebenster

Hempel.«

Das war alles. Und er mußte sich doch denken, wie fiebernd sie darauf wartete, ob dieser Mann ihr Sohn war!

*

Ronnys Verlobung mit Lilli von Landsberg war das Gespräch der Umgegend.

Auch Lillis Eltern waren damit einverstanden. Sie hatten diese Heirat erhofft und erwartet. Ronny war ihnen so lieb wie ihr eigener Sohn. Außerdem war es für Lilli eine gute Partie, was den Eltern immer einen gewissen Eindruck macht.

Lillis Mutter plante deshalb eine große Verlobungsfeier. Alle Freunde und Bekannte auf den Nachbargütern sollten eingeladen werden.

Die Feier wurde schon auf übermorgen festgesetzt.

»Aber Tante Leonie muß auch zu meiner Verlobungsfeier kommen«, sagte Lilli. »Sie ist ja nicht krank, nur deprimiert, und Doktor Thomaier hat nichts gegen eine nette Zerstreuung.«

»Natürlich«, erwiderte Frau von Landsberg. »Ich bin sicher, daß sie zur Verlobungsfeier ihres Sohnes erscheint.«

Gleich am nächsten Tage fuhr sie mit Lilli nach Tannroda, um die Einladung zu überbringen. Frau Gottschalk konnte sich diesmal nicht, wie schon sooft, verleugnen oder entschuldigen lassen. Frau von Landsberg war nicht nur Ronnys Schwiegermutter – sie war auch ihre langjährige Freundin und Nachbarin.

Als sie dann Frau Leonie zum erstenmal seit Wochen wiedersah, erschrak sie. Es war eine erstaunliche Veränderung mit ihr vorgegangen.

Sie umarmte also die Freundin und nahm Platz, ohne daß sie dazu aufgefordert wurde. Frau Leonie ließ sich neben ihr nieder. Aber als sie sie nun zu dem bevorstehenden Fest einlud und von den Vorbereitungen plaudern wollte, war sie erstaunt über die unnatürliche, starre Abwehr, die sich in Frau Leonies Miene widerspiegelte.

»Nein, ich kann nicht kommen, Emmy! Du kannst das nicht von mir verlangen! Wirklich, ich kann jetzt keine fremden Gesichter um mich sehen. Glaube mir, wenn ich allein bin, ist mir am wohlsten!«

Frau Landsberg blickte sie betroffen an. Sie hätte es nicht für möglich gehalten, daß die sonst gutmütige Frau so schroff werden könnte. Was hatte sie nur so verändert?

Frau von Landsberg blieb nichts weiter übrig, als wieder heimzufahren. Doch machte sie sich die schwersten Vorwürfe, daß sie nicht schon früher ihre Freundin besucht hatte.

Frau Leonie saß noch auf dem gleichen Sofa, auf dem sie gesessen hatte, als der Besuch sich verabschiedete. Sie dachte an Ulrich. ›Warum war er nicht hier und feiert mit uns? Warum ließ ich ihn allein in die Fremde gehen? Es war meine Schuld! Hätte ich ihn geliebt, dann hätte ich mich nicht einschüchtern lassen.‹

Sie sprang auf und läutete. Sie hatte noch nicht einmal gefragt, ob die Mittagspost eingetroffen war.

Vielleicht war eine Nachricht von Hermann Hempel dabei?

 


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