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Trotz des tiefen Schlafes, in den Hempel sogleich versank, schrak er einige Stunden später ganz plötzlich auf.
Er schlief in einem Zimmer des ersten Stockwerks, dessen Fenster auf den seitlichen Parkteil blickten, genau unter den Zimmern des verstorbenen Kluge.
Noch schlaftrunken versuchte er sich klarzumachen, was ihn geweckt haben könnte. Im ganzen Haus war es still. Er blickte auf das Zifferblatt seiner Uhr. Erst drei! Draußen war die Nacht vom Licht der abnehmenden Mondsichel erhellt.
Was für ein Geräusch konnte es gewesen sein? Da schon wieder! Ein leises Schleifen und Knirschen auf dem Kies.
Hempel war mit einem Satz aus dem Bett. Er stellte sich hinter das Fenster und spähte vorsichtig nach unten.
Der von Blumenrabatten eingefaßte Kiesplatz, der das Haus vom Rasen trennte, war dunkel, aber den Weg, der in den Garten führte, konnte man schwach erkennen.
Und dort, auf diesem Weg, der Hempels Fenster gerade gegenüberlag, bewegte sich etwas, kam näher . . .
Jetzt konnte Hempel es deutlich unterscheiden; es war ein Mann, der eine Leiter trug. Allmählich kam er näher: ein mittelgroßer Mann, schlank und breit in den Schultern. Keinesfalls einer von den Gärtnerburschen; er trug einen Regenmantel.
Der Mann, der den schmalen Lichtstreifen rasch durchschritten hatte, war deutlich zu sehen gewesen. Jetzt gelangte er in den Schlagschatten des Hauses und wurde vom Dunkel verschluckt.
Hempel zog sich hastig zurück, zog ein paar Kleidungsstücke an und schlüpfte in seine Turnschuhe. Er mußte diesem Manne folgen.
Ohne sich lange zu besinnen und den Umweg über Treppen und Halle zu machen, schwang sich Hermann Hempel aus dem Fenster und tastete nach dem nächsten dicken Efeuzweig.
In einer Minute landete er unten auf dem Kiesboden und schlich auf seinen Gummisohlen leise bis an die Ecke. Dort sah er, daß der Mann den andern Eckturm erreicht hatte, in dem sich das Wohnzimmer Frau Gottschalks befand. Er vermied jetzt jedes Aufstoßen der Leiter und hielt sich dicht an der Hauswand, bis er sich um den Turm herumgedrückt hatte.
Als der Detektiv um den letzten Vorsprung des Turmes spähte, sah er, wie der Unbekannte die Leiter aufgerichtet hatte und sie vor dem Schlafzimmerfenster Frau Gottschalks anzulegen versuchte. Das Fenster stand offen. Und jetzt schickte er sich an, nach oben zu steigen.
Hempel war plötzlich von einer unbändigen, grimmigen Freude erfüllt. Mit einem Satz war er neben der Leiter. Aber der so unerwartet Überfallene war von einer verblüffenden Geistesgegenwart. Er tat das einzige, was in seiner Lage zu tun richtig; war: er fiel mit seinem ganzen Gewicht auf Hempel und riß die Leiter mit sich. Hempel ließ im Sturz die umklammerten Beine los, um die Wucht des Sturzes abzuschwächen.
Alles geschah stumm und in unheimlicher Geschwindigkeit.
Als Hempel etwas benommen unter der Leiter hervorkroch, war der Unbekannte bereits um die Ecke des Turmes verschwunden. Hempel ärgerte sich über seine Ungeschicklichkeit; wie hatte er nur so einfältig vorgehen können! Er hätte sich ja denken können, daß er es hier mit einem gerissenen Burschen zu tun hatte, nach allem, was vorausgegangen war.
Er setzte sich auf die umgestürzte Leiter und dachte nach. Frau Gottschalk mußte von nun an unbedingt in einem anderen Zimmer schlafen, obschon es zweifelhaft war, daß dieser Unbekannte seinen Anschlag nochmals wiederholen würde. Am besten in Veras Zimmer. Auch wollte er veranlassen, daß nachts die Hunde von der Kette gelassen würden.
Schon wurde es über den Tannenspitzen ein wenig hell. Im ersten schwachen Grauen des Morgens bemerkte Hempel einen Gegenstand auf dem Kiesweg. Er bückte sich danach. Es war ein mittelgroßes Küchenmesser. Anscheinend war es dem Unbekannten im Handgemenge entfallen.
Nun begann er auch nach Spuren im Kies zu suchen. Die Fußspur war nur dort deutlich, wo sich das Handgemenge abgespielt hatte; danach verlief sie sich im Kies und war kaum noch kenntlich. Doch glaubte Hempel die Schritte bis zur Kastanienallee hinüber verfolgen zu können.
In der Allee mit ihren vielen Rädergeleisen und Rinnen und Furchen war es fast unmöglich, noch etwas zu erkennen. Hempel gab schließlich das Suchen auf.
Er kehrte zum Haus zurück und holte die umgefallene Leiter. Einstweilen brauchte niemand etwas von dem Anschlag zu erfahren. Er schaffte sie nach hinten in den Park und warf sie in ein Gebüsch. So konnte der Gärtner annehmen, daß einer der Burschen sie dort vergessen habe.
Frau Gottschalk erschien heute wieder am Frühstückstisch. Sie sah blaß und vergrämt aus.
Trotzdem gab sie sich Mühe, an der Unterhaltung wieder so heiter und freundlich wie sonst teilzunehmen, und erkundigte sich nach den Ergebnissen der Jagd und des Fischfangs sowie nach dem geplanten Ausflug der drei jungen Männer nach Mariazell. Doch als die Jugend das Frühstückszimmer verließ, sank sie erleichtert in ihren Lehnstuhl zurück und sah zum erstenmal Hempel voll ins Gesicht.
»Was fehlt Ihnen, Herr Hempel? Sie sehen etwas müde und übernächtigt aus?«
Da erzählte dieser von seinen Erlebnissen. Er begann mit dem Bericht über die Motorradfahrt, schilderte alles, was er über das junge Paar im ›silbernen Auto‹ in Erfahrung gebracht hatte, und schloß mit seinem nächtlichen Abenteuer, bei dem er sich so wenig geschickt benommen hatte. Zuletzt holte er das Messer aus der Tasche.
Frau Gottschalk hatte ihm in ängstlicher Spannung zugehört.
»Wären Sie nicht zufällig erwacht . . .«
»Zufällig?« meinte Hempel. »Ich bin nicht der Ansicht, daß es Zufälle gibt. Bei allem, was geschieht, ist der Mensch nur ein Werkzeug. Ein Werkzeug in eines Höheren Hand.«
»Ja, Sie haben recht. Wenn ich nicht ebenso dächte, wie hätte ich da mein Leben ertragen können? Wir müssen hinnehmen, was uns bestimmt ist.«
»Ihnen ist hoffentlich von jetzt an nur noch Gutes bestimmt!«
Er sagte es mit soviel Wärme und echtem Gefühl, daß sie den Kopf senkte. Sie schien zu wissen, daß sie einen wahren Freund an Hermann Hempel gewonnen hatte.
Hempel hielt seinen Bericht absichtlich so, daß nichts auf ihren Sohn als möglichen Täter hindeutete. Wozu denn sie noch länger mit solchen Vermutungen quälen! So sprach er immer nur von dem ›Unbekannten‹.
Dann lenkte er das Gespräch auf Wien. Er sagte ihr, daß er in ein paar Tagen, aber nicht vor Ronnys Rückkehr, in eigenen Angelegenheiten für ein paar Tage nach Hause fahren müsse. Er habe eine Sache mit seinem Rechtsanwalt zu regeln.
Dann fragte er ohne Umschweife nach dem Rechtsanwalt, der damals Ulrichs Angelegenheiten behandelt hatte. Frau Gottschalk gab ihm sofort die Adresse. Nach den jüngsten Vorgängen zögerte sie nicht mehr, in Hempel einen echten Freund der Familie zu sehen, dem man alles anvertrauen konnte.
»Es ist Dr. Wendland.«
»Ach ja, der ist mir bekannt. Ein vornehmer alter Herr. Wohnt er nicht am Schottenring?«
»Ja, Schottenring, Nummer acht. Er ist tatsächlich schon sehr bejahrt. Aber er hat immer mit Gottfried Kluge in Verbindung gestanden und schrieb mir vor einigen Tagen, daß er sich jetzt, nach Onkel Gottfrieds Tod, noch mehr für uns einsetzen werde als bisher.«
Nach diesem Gespräch trennten sich Hempel und Frau Gottschalk, sie, um ihren täglichen Pflichten im Hause nachzugehen, er, um einige Briefe zu schreiben.
Nach dem Mittagessen saßen sie sich noch einige Zeit beim schwarzen Kaffee gegenüber. Die drei jungen Männer waren soeben mit dem Auto fortgefahren, um von Mürzzuschlag weiterzuwandern.
»Sie wollen also Doktor Wendland aufsuchen, um bei ihm etwas über den Verbleib meines ältesten Sohnes zu erfahren, nicht wahr? Dann können wir unsere Briefe zusammen abschicken. Ich habe ihm nämlich heute früh ebenfalls geschrieben, und zwar in der gleichen Angelegenheit«, sagte Frau Gottschalk.
»Sie haben nur nach Ulrich gefragt?«
Frau Gottschalk sah ihn an, und plötzlich brach alle Verzweiflung der letzten Tage aus ihr hervor, und mutig sagte sie:
»Wir wollen uns nicht gegenseitig etwas vormachen, lieber Hempel! Als wir gemeinsam feststellten, daß der Revers verschwunden ist, den mein Sohn zu unterzeichnen gezwungen wurde, stieg doch in Ihnen sofort der Gedanke auf, Ulrich könne zurückgekehrt und . . . und, um wieder . . . in den Besitz seiner Rechte zu gelangen, an . . . Gottfried Kluge zum Mörder geworden sein. Was Sie dann von Doktor Sorel über die Insassen des ›silbernen Auto‹ und am folgenden Tage bei ihrer Erkundungsfahrt am Semmering hörten, entkräftete diesen Verdacht leider nicht. Ist es nicht so?«
»Ja, gnädige Frau. Ich bin froh, daß wir nun endlich offen darüber sprechen können. Ich befürchtete nur, Sie zu sehr zu verletzen.«
»Darum geht es jetzt nicht. Es ist mein ehrlicher Wunsch, daß Sie ohne jede Rücksicht auf meine Gefühle Licht in diese Geschehnisse bringen.«
»Und was glauben Sie selbst?«
»Ich glaube nicht, daß mein Sohn der Mörder ist. Es ist unmöglich, daß er sich so verändern konnte, selbst unter den härtesten Schicksalsschlägen nicht, und es ist erst recht unmöglich, daß mein eigener Sohn mir nach dem Leben trachtet. Aber ich kam zu keinem Ergebnis. Die Tatsache, daß der Revers verschwunden ist, bleibt bestehen.«
»Sehr richtig, das ist es ja! Wer könnte sonst ein Interesse am Verschwinden dieses Dokumentes haben als . . .«
» . . . als mein Sohn«, ergänzte Frau Gottschalk den Satz. »Aber versetzen Sie sich nun in meine Lage: ich will nicht an diese Möglichkeit glauben. Ich wehre mich dagegen. Ich wünschte, mein ältester Sohn kehrte wieder zurück und träte sein Erbe an, in das ich ihn wieder einsetzen würde. Denn Ronny wäre deshalb noch lange kein Bettler, und er würde mir bestimmt helfen, um den Revers für ungültig zu erklären. Aber hinter allem lauert nun jener gräßliche Verdacht. Verstehen Sie mich?«
»Selbstverständlich! Glauben Sie mir, daß ich Ihre Sache zu meiner eigenen gemacht habe!«
Sie warf ihm einen dankbaren Blick zu.
»Aber das enthebt mich nicht der Pflicht, um jeden Preis Gewißheit zu verschaffen. Denn selbst das Schlimmste ist leichter zu ertragen als die Ungewißheit! Darum habe ich Doktor Wendland geschrieben, er solle unverzüglich in Montevideo Nachforschungen einleiten, falls er nicht ohnehin mehr über Ulrich weiß, als mir mitgeteilt wurde.«
»Darf ich zu Doktor Wendland auch von dem sprechen, was hier in Tannroda geschehen ist?«
»Ja, sagen Sie ihm alles. Doch darf er selbstverständlich einstweilen zu niemand darüber sprechen. – Und nun möchte ich Sie bitten, mir noch einmal zu wiederholen, was Sie am Semmering über das Äußere der beiden Amerikaner erfuhren!«
Hermann Hempel schilderte das Paar in allen Einzelheiten und vergaß keine der verschiedenen Aussagen.
Frau Leonie nickte traurig.
»Die Beschreibung könnte sehr gut auf Ulrich passen. Er war groß und schlank, und breitschultrig ist er wohl inzwischen geworden. Er hatte meines Mannes Figur, auch seine Augen- und Haarfarbe. Die blonde Dame ist sicher seine Frau; er wird ja inzwischen geheiratet haben.«